Konferenz
1923 ist das Jahr, in dem gleich drei Ereignisse, die das „kurze 20. Jahrhundert“ (Hobsbawm) eröffneten und prägen sollten, ihre Verarbeitung fanden: Der Schrecken des Ersten Weltkrieges, der Sieg der Revolution in Russland und das Scheitern revolutionärer Erhebungen in Westeuropa und Deutschland. Die Verarbeitung führte zu einem Umbruch in der Gesellschaftskritik und den Anfängen der Kritischen Theorie und des Westlichen Marxismus. Zugleich markiert das Jahr 1923 das endgültige Ende der revolutionären Aufstände in West-Europa und Deutschland, den Beginn der Stalinisierung in der UdSSR, aber auch in der KPD, sowie den Aufstieg des Faschismus.
Mit dem Begriff „Sattelzeit“ wird eine Um- und Neuorientierung in Theorie und Praxis eingefangen, die sich in einflussreichen Texten, neuen politischen Konzepten sowie in den Biographien der jeweiligen Protagonist*innen abbildet. Diese „Sattelzeit“ lässt sich bis zur Neuen Linken der 1960er-Jahre weiterdenken.
Die Konferenz findet an 3 Tagen an drei Orten statt.
1923 – Die Erneuerung in Philosophie, Politik und Marxismus.
Marxismus und Revolution
14 Uhr
Eröffnung
Mit: Patrick Eiden-Offe, Frank Engster, Uwe Sonnenberg
14:30-16 Uhr
1. Panel. Die Erneuerung in Philosophie, Politik & Marxismus. 1923 und 1968
Mit: Lea Fink, Felix Klopotek, Dr. Ivana Perica
- Lea Fink wird die Fragen diskutieren, warum die Kritik des dogmatischen Marxismus 1923 für linke Philosophen, denen das Marxsche Werk selbst nicht allzu vertraut war (Bloch, Benjamin, Kracauer), so große Anziehungskraft hatte, und was sich diese Autoren von einer kritischen Gesellschaftstheorie, die Geschichte nicht teleologisch besetzt, und der Kunst und Psychoanalyse einen gebührenden Stellenwert einräumt, erhofften.
Lea Fink hat Philosophie und Geschichte in Freiburg im Breisgau und in Berlin studiert. Sie promoviert über den Metaphysik-Begriff der Kritischen Theorie, arbeitet an der Gedenkstätte Ravensbrück und bietet gelegentlich Stadtführungen in Berlin zur Sozial- und Geistesgeschichte an.
- Felix Klopotek wird anhand von „Marxismus und Philosophie“ von Karl Korsch, im Herbst 1923 erschienen, die Neuorientierung im Marxismus diskutieren. Fast unmittelbar begründete es Korschs Ruf als Wiederentdecker des kritischen – interventionistischen, proletarisch-subjektiven – Gehaltes der Theorie von Marx und Engels. Ungebrochen gilt das schmale Buch als Gründungsdokument des „westlichen Marxismus“ – neben Georg Lukacs’ zeitgleich erschienenem „Geschichte und Klassenbewusstsein“. Aber wer sich heute „Marxismus und Philosophie“ vornimmt, wird es mit einiger Irritation lesen. Lange, gewundene Sätze und eine überkomplizierte Sprache schrecken ab. Und inhaltlich? Abstrakte Bestimmungen über den historischen Ort der Marx’schen Theorie, Polemiken gegen Gegner, die schon lange keiner mehr liest. Wie passt dieses Buch, dessen Studium einiges an Muße und Kontemplation voraussetzt, in dieses aufgewühlte, dramatische Jahr 1923, in dem Korschs Partei, die KPD, das letzte Mal mit halbwegs realistischer Perspektive auf eine Revolution hinzuarbeiten versuchte? Die Antwort ist einfach: Gerade weil dieses Jahr so aufgewühlt und die kommunistische Bewegung noch eine revolutionäre war, fiel es seinen Lesern leicht, den etwas entrückten Gedankengang Korschs auf die Klassenkämpfe ihrer Zeit und die daran geknüpften Revolutionserwartungen zu beziehen. Ihnen enthüllte sich, dass das Verhältnis von Marxismus und Philosophie zwingend auf ein anderes verweist: das von Marxismus und Revolution.
Felix Klopotek lebt und arbeitet in Köln. Jüngste Veröffentlichungen: Rätekommunismus. Geschichte ─ Theorie [1](Schmetterling Verlag 2021), Heinz Langerhans: die totalitäre Erfahrung. Werkbiographie und Chronik[2] (Unrast Verlag 2022), Die Chronik der Ausgebeuteten. Das Problem der Geschichte bei Karl Korsch und Heinz Langerhans (Helle Panke 2023; im Erscheinen).
- Ivana Perica wird die sog. r/evolutionäre Kontroverse nachzeichnen, die mit Rosa Luxemburgs 1899er Kritik an Eduard Bernstein entfacht wurde, in den 1920ern aber an neuer Bedeutung gewann und für das linke politische Feld insgesamt konstitutiv wurde: die Spaltung zwischen dem sozialdemokratischen (evolutionären) und kommunistischen (revolutionären) Lager. Der Streit war nicht nur für die Linken in Deutschland entscheidend: Der Vortrag wird in aller Kürze umreißen, wie sich diese Kontroverse in einigen anderen, strukturell verwandten linken Zentren niedergeschlagen hatte. Zum Schluss werden die Nachleben dieser Debatte in den 1950ern und 1960ern angesprochen.
Dr. Ivana Perica ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Projekt „Die Kartographie des politischen Romans in Europa“ (ZfL Berlin) und Autorin von Die privat-öffentliche Achse des Politischen: Das Unvernehmen zwischen Hannah Arendt und Jacques Rancière[3] (2016). Ihr zweites Buch (in Vorbereitung) rekonstruiert ausgewählte Kapitel des literarischen dritten Weges, wie er um 1928 und 1968 in sozialistischen Netzwerken entstand, die Berlin, Prag, Wien und Zagreb bzw. Belgrad miteinander verbanden.
16-16:30 Uhr
Kaffeepause
Die Marxistische Arbeitswoche war ein Treffen von Marxist_innen und Kommunist_innen, die sich Pfingsten 1923 in Geraberg bei Ilmenau trafen, um zu diskutieren, wie eine kritische Theorie der Gesellschaft aussehen könnte. Angesichts der Welle revolutionärer Erhebungen von 1917 bis 1923 in Europa, aber auch der zunehmenden Verringerung der Möglichkeit, Theorie frei innerhalb der kommunistischen Partei zu diskutieren, trafen sich die Anwesenden – unter ihnen Fukumoto Kazou, Karl Korsch, Georg Lukács, Friedrich Pollock, Felix Weil und Richard Sorge – und diskutierten die gerade erschienenen Schriften Lukács und Korschs.
Seit 2022 beschäftigt sich damit das Projekt #100MAW[4] von Arbeit und Leben Thüringen sowie der Rosa-Luxemburg-Stiftung Thüringen u.a. durch Veranstaltungen und mit einer von Michael Buckmiller konzipierten Ausstellung über Karl Korsch. Im Gespräch mit Volker Hinck (RLS Thüringen) führt Prof. Dr. Michael Buckmiller in die Marxistische Arbeitswoche ein, während Judy Slivi (Arbeit und Leben Thüringen) einen Blick auf die Biographien der dort anwesenden Frauen und ihre Arbeit wirft.
Prof. Dr. Michael Buckmiller ist Politologe und lehrte bis 2008 am Institut für Politische Wissenschaft an der Universität Hannover. Er ist Herausgeber der historisch-kritischen Gesamtausgabe von Karl Korsch und der Gesammelten Schriften von Wolfgang Abendroth. Im Ruhestand widmete er sich seinen eigenen Forschungsprojekten sowie der Leitung des von ihm gegründeten Offizin-Verlages. Dort erschien – herausgegeben von ihm - im Januar 2023 die Erneuerung des Marxismus. Karl Korsch 1886-1961[5] u.a. mit Beiträgen aus dem Projekt #100JahreMAW.
Judy Slivi wurde 1977 in Gotha geboren. Nach dem Studium der Soziologie in Jena, einem weiterem Studium der Archäologie in Halle/Saale und mehreren Auslandsaufenthalten kehrte sie 2010 nach Gotha zurück. Derzeit arbeitet sie als Projektleiterin bei Arbeit und Leben Thüringen e.V., einem der Träger von #100JahreMAW.
Moderation: Peter Schulz
18-19:30 Uhr
Catering
19:30-21 Uhr
3. Panel. 100 Jahre Geschichte und Klassenbewußtsein. Zum Werk
Mit: Dr. Karl Lauschke und Dr. Rüdiger Dannemann
Vor hundert Jahren, 1923, veröffentlichte Georg Lukács sein epochales Werk "Geschichte und Klassenbewußtsein". 2023 publizierte Karl Lauschke eine umfangreiche Monographie zu Georg Lukács, Titel: „Die Gegenwart als Werden erfassen“. Inhalt, politischer Kontext und Rezeption von Georg Lukács´ Geschichte und Klassenbewusstsein“. Seine von der Sorgfalt des Historikers geprägte Studie verdient aus unterschiedlichen Gründen unsere Aufmerksamkeit. Zunächst: Manche glauben, die Geschichte von „Geschichte und Klassenbewußtsein“ sei inzwischen auserzählt. Karl Lauschkes Studie beweist das Gegenteil. Im Gespräch mit dem Philosophen Rüdiger Dannemann, dem Vorsitzenden der Internationalen Georg Lukács Gesellschaft, soll in einem "Werkstattgespräch" ausgelotet werden, welche Engführungen und Irrtümer die bisherige Wirkungsgeschichte aufweist und welche neuen Wege die Lukács-Rezeption in Zukunft gehen sollte.
Dr. Karl Lauschke, Privatdozent am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin, Lehrstuhlvertretungen in Münster, Göttingen Dortmund, heute freiberuflicher Historiker. 2023 publizierte er die umfangreiche Monographie zu Georg Lukács „Die Gegenwart als Werden erfassen“. Inhalt, politischer Kontext und Rezeption von Georg Lukács´"Geschichte und Klassenbewusstsein“[6].
Dr. Rüdiger Dannemann, Vorsitzender der Internationalen Georg-Lukács-Gesellschaft[7] und Herausgeber des Lukács-Jahrbuchs[8] sowie der Lukács-Werkausgabe in Einzelbänden. Aktuelle Veröffentlichungen: (zusammen mit Axel Honneth), Ästhetik, Marxismus, Ontologie. Ausgewählte Texte[9], 2021; Georg Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein. Faksimile des Arbeitsexemplars. Mit Transkriptionen und Erläuterungen der Lukács-Marginalien von Rüdiger Dannemann, 2023; Georg Lukács, Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins. Die Entfremdung, 2024.
Moderation: Dimitra Alifieraki
Kosten: 6 / erm. 4. Für den ersten Tag ist eine Anmeldung erforderlich.
Tag 2 12-18 Uhr, Rosa-Luxemburg-Stiftung am Franz-Mehring-Platz 1[10], 10243 Berlin
Zum historischen Kontext eines Umbruchjahres – Dynamiken, Milieus und Kollektive Biographien
12:00-12:15 Uhr
Begrüßung
Mit Uwe Sonnenberg (Rosa Luxemburg Stiftung)
12:15-13:45 Uhr
Krise der Weimarer Republik I: Zum Deutschen Oktober
Mit Bernhard H. Bayerlein (Köln), Wladislaw Hedeler (Berlin), Karsten Krampitz (Berlin)
14-16 Uhr
Krise der Weimarer Republik II: Dynamiken und Kollektive Biographien
Mit Jule Ehms (Leipzig), Rhena Stürmer (Leipzig), Reiner Tosstorff (Mainz), Sebastian Zehetmair (Berlin)
16:30-18 Uhr
1923 – Linke Antworten auf die Gefahren von Rechts
Mit Johanna Langenbrinck (Berlin), Daniela Schmohl (Leipzig), Christian Dietrich (Halle, Frankfurt/Oder) und Jörn Schütrumpf (Berlin)
19-21 Uhr
Geschlecht und Revolution
Ein Gespräch mit Klaus Theweleit und Luise Meier im Rahmen der Konferenz „1923. Sattelzeit der Revolution – Umbrüche in Politik, Kultur und radikaler Gesellschaftskritik“
1923 war auch ein Schicksals- und Wendejahr linker Theorie und Praxis: Im letzten Scheitern der Revolution und angesichts faschistischer Putsche muss die Linke sich auf nicht- oder gegenrevolutionäre Zeiten einstellen. In der Theoriebildung wirkt sich das zunächst einmal produktiv aus. Eine komplexe und vielstimmige Debatte entsteht, mit Lukács' «Geschichte und Klassenbewusstsein» und Korschs «Marxismus und Philosophie» erscheinen Werke, die später als Geburtsurkunden des «westlichen» oder des «Neo-Marxismus» gelesen werden. Linke politische Praxis hingegen wird marginalisiert, begibt sich in den Rahmen des parlamentarischen Systems oder beugt sich zugleich Vorgaben aus Moskau. Die faschistische Bewegung übernimmt die Initiative.
Welche Rolle spielen in dieser widersprüchlichen Situation die Geschlechter, die Körper, die Lüste? Diese Frage wollen wir mit Klaus Theweleit und Luise Meier diskutieren. In seinen «Männerphantasien» hat Klaus Theweleit vor fast einem halben Jahrhundert gezeigt, dass der Sieg der Konterrevolution und der Aufstieg des Faschismus auch als geschlechterpolitische und psychodynamische Bewegung verstanden werden muss. Aber steht der „soldatische Mann“ immer nur rechts? Wie sehen die Geschlechter- und Körpermodelle der Linken aus? Luise Meier vertritt die These, dass es hier im Zeichen des «Proletkult» auch Öffnungen und Ent-Härtungen gegeben hat, wie zart und ephemer diese auch gewesen sein mögen. Die Linke hat sich im abgelaufenen Jahrhundert immer wieder und durchaus widersprüchlich auf die revolutionäre Sattelzeit von 1923 bezogen. Wir wollen die Diskussion also nicht nur historisch führen, sondern auch mit Blick auf unsere Gegenwart und den Wandel im Lauf der vergangenen 100 Jahre.
Klaus Theweleit, geb. 1942, war im SDS aktiv. Mit dem zweibändigen Werk «Männerphantasien», erschienen 1977/78 im Verlag Roter Stern/Stroemfeld, hat er die Theoriedebatte der BRD revolutioniert. In seinen vielbändigen Buchzyklen «Das Buch der Könige» und «Pocahontas» hat die Geschichten und Gegengeschichten männlicher und kolonialer Herrschaft in Kunst, Kultur und Politik aufgezeichnet. Sein Werk erscheint seit 2019 bei Matthes und Seitz Berlin.
Luise Meier, geb. 1985, ist freie Autorin, Theatermacherin, Dramaturgin und Performerin. 2018 erschien bei Matthes und Seitz Berlin ihr Buch «MRX Maschine«. Derzeit arbeitet Meier an dem Essay «Proletkult vs. neoliberale Denkpanzer» sowie an einem utopischen Near-Future/Science-Fiction-Romanprojekt, das 2024 erscheinen wird.
Moderation: Patrick Eiden-Offe (ZfL, Berlin)
Alle Veranstaltungen finden an diesem Tag im Münzenbergsaal am Franz-Mehring-Platz 1 statt, 10243 Berlin (Nähe Ost-Bahnhof)
1923 – Theoriegeschichtliche Revolutionen. Parallelaktionen und Wiedervorlagen
10-10:15 Uhr
Einführung
10.15 Uhr
Parallelrevolutionen
Caroline Adler/Sophie Buck: »Abschüssige Straßen des Grams, aufsteigende Pfade der Revolte« – Benjamin und Lukács um 1923
Morten Nissen: Katholisches zur Organisationsfrage. Zwei Perspektiven auf Georges Sorels Mythos vom Generalstreik (zu Carl Schmitt und Georg Lukács)
Eva Heubach/Philipp Weber: »Kult des Unbewussten«: Zum Un-Verhältnis von Lukács und Freud
13.30 Uhr
Theorie und Avantgarde
Amália Kerekes: »Studien zur Ideologienfrage der Revolution«. Zur Geschichte der Kleinen revolutionären Bibliothek des Malik-Verlags
Alexander Dmitriev: Beyond Savinkov and Deborin: The Nature of Lukács‘s Loyalty to “Russian Communism”
15:30 Uhr
Nachleben
Moritz Neuffer: Die (erneute) Anwendung der materialistischen Geschichtsauffassung auf sich selbst. Zur Wiederentdeckung Karl Korschs in den 1960er Jahren
Johanna-Charlotte Horst: Revolutionäre Lokomotiven. Georges Perecs Arbeit am Marxismus
17:30 Uhr
Abschlussvortrag
Reinhard Müller: »Maskierter Doppelzüngler« – »Vorzüglicher Essayist«. Karl Schmückle, 1898–1938
Eine Anmeldung ist nur für den 1. Tag in der Hellen Panke erforderlich.
Eine Veranstaltung von Helle Panke e.V. Rosa Luxemburg Stiftung Berlin, Rosa Luxemburg Stiftung[12] und Leibniz Zentrum für Literatur- und Kulturforschung[13].
Organisation: Frank Engster (Helle Panke), Patrick Eiden-Offe (ZfL), Uwe Sonnenberg (RLS)