Marx und Engels haben sich zeitlebens mit verschiedenen Aspekten der Politik und Wirtschaft Russlands beschäftigt. Sie erörterten dessen politische Geschichte und die Außenpolitik im europäischen Kontext. Vor allem Marx studierte die wirtschaftlichen, besonders agrarischen Perspektiven und diskutierte die Chancen einer bevorstehenden sozialen Revolution in Russland. Ihr Werk umfasst die verschiedensten Formen der Beschäftigung mit Russland: Zeitungskorrespondenzen, Briefwechsel und persönliche Kontakte mit Russen und Russlandkennern und subtile Studien der zeitgenössischen russischen Literatur. Weiterhin verfolgte Marx auchaufmerksam die Übersetzung und Verbreitung seiner Werke in Russland.
Mit Beiträgen vonDr. Paolo Dalvit (Mailand): Die Außenpolitik im Klassenkampf. Die Position von Marx und Engels zum KrimkriegWolfgang Eckhardt (Berlin): Bakunin vs. Marx. Russland und andere Konfliktthemen in der Internationalen ArbeiterassoziationDr. Tatjana Ivanovna Filimonova (St. Petersburg):Das materialistische Geschichtsverständnis von Marx in den sozial-philosophischen Studien PlechanovsDr. Valerij Fomicev (Moskau): Marx' Exzerpt von S. A. Podolinskij: Le Travail Humain et la Conservation de l'Energie (Revue internationale des sciences biologiques, 1880)Dr. Svetlana Gavrilčenko (Moskau): Zur Person und zum Schicksal von V.V. Bervi-FlerovskijProf. Dr. Rolf Hecker (Berlin): N. F. Danielson und die russische Kapital-Übersetzung
Prof. Dr. Manfred Neuhaus (Leipzig): Marx als Europakorrespondent der "New-York Tribune". Themen und Wirkungszeugnisse eines frühen investigativen Journalismus
Prof. Dr. Vesa Oittinen (Helsinki): Marx, Bakunin, DostojewskiDr. Giovanni Sgro (Neapel): Stellung des späten Marx zu Russland (Briefe an die Redaktion der "Otetschestwennyje Sapiski" und an Vera Sassulitsch)Dr. Hanno Strauß (Berlin): Von Engels' "Panslawismus" zu Marx' "Geheimdiplomatie" - Eine Herleitung politischer AmbitionenGemeinsame Veranstaltung mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung: Gesellschaftsanalyse und politische Bildung e.V. und dem Berliner Verein zur Förderung der MEGA-Edition e.V.
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Die Sicht von Marx und Engels auf europäische Politik und Russland Mitte des 19. Jahrhunderts war das Thema einer zweitägigen Konferenz, zu der Wissenschaftler aus Europa und Asien sich in Berlin, im Domizil des Vereins Helle Panke, trafen. Sie feierten zudem das Erscheinen eines neuen Bandes der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA): Band IV/26.
Marx-Engels-Forscher sind ein eigenartiges Völkchen. Der Eifer und die Empathie, mit der sie sich Leben und Werk ihrer Protagonisten widmen, suchen ihresgleichen. Selbst Tagungspausen werden nicht mit privater Plauderei vergeudet, sondern zum Austausch neuer Erkenntnisse, zur Diskussion strittiger Fragen und editorischer Probleme genutzt.
Mit leuchtenden Augen zitierte Manfred Neuhaus, bis dato in Personalunion Leiter der MEGA-Arbeitsstelle in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften sowie Sekretär der Internationalen Marx-Engels-Stiftung, aus Artikeln von Marx in der »New York Tribune«. Dessen Mitarbeit als Europakorrespondent im »linksliberalen Blatt mit sozialistischem Einschlag Fourierscher Prägung« verdankte sich einer Begegnung 1848. Wie der sich nun in den rastlosen Ruhestand begebende Leipziger kundtat, weilte der Chef des außenpolitischen Ressorts der »Tribune« in diesem Revolutionsjahr bei den Marxens und war vom Esprit des Redacteurs en Chef der »Neuen Rheinischen Zeitung« ebenso eingenommen wie vom Charme der Gattin Jenny. 1851 folgte die Einladung, über Vorgänge in der Alten Welt für die Neuen Welt zu berichten - und zwar »geistreich und ungeniert«. Ein unnötiger Rat, entsprach dies doch dem Stil und Naturell des Philosophen aus Trier. »Mr. Marx« wurde nicht nur einer der am meisten geschätzten, sondern auch bestbezahlten Autoren der »Tribune«, die mit einer Auflage von 145 000 Exemplaren damals die »New York Times« weit übertraf,
Neuhaus würdigte Marxens akribische Chronistenpflicht, über alle relevanten und auch scheinbar marginale Ereignisse in Europa, über Wirtschaft wie Politik zu berichten. Er pries dessen subtile Analysen diplomatischer Korrespondenzen und brillanten Schilderungen von Parlamentsdebatten. »So etwas lesen wir heute nur noch im Feuilleton der Neuen Züricher Zeitung«, meinte Neuhaus, der selbstredend nicht vergaß, auch den Freund zu loben. Es sei noch heute faszinierend, wie authentisch und (relativ) aktuell Engels für die »Tribune« über das Kriegsgeschehen auf der Krim schrieb, ohne vor Ort zu sein.
Über die umstrittene Positionierung von Marx und Engels im Krimkrieg (1853 bis 1856) sprach Paolo Dalvit. Der Gast aus Mailand widersprach dem Vorwurf von Russophobie. Marx sah - wie andere Zeitgenossen - im zaristischen Russland den Gendarmen Europas, Bollwerk der Reaktion und ein barbarisches Völkergefängnis. Bemerkungen wie »finstere asiatische Despotie« sowie der Wunsch, es möge sich eine griechisch-slawische antirussische Partei gründen, speisten sich aus der registrierten Rückständigkeit und Rückwärtsgewandtheit des Zarenreichs. Über die nach der Niederlage im Krimkrieg einsetzenden Veränderungen in Russland und auch in Marxens Haltung sprach am zweiten Tag u. a. Giovanni Sgro (Neapel).
Dass Marx ein Sturkopf und bissig sein konnte, ließ Wolfgang Eckhardt (Berlin) wissen - nicht ohne zuvor ebenfalls das Erscheinen eines neuen Bandes zu vermelden, nämlich des sechsten einer auf 12 Bände konzipierten Bakunin-Ausgabe. In diesem sind Briefe enthalten, die den Konflikt zwischen Marx und Bakunin reflektieren. Jener begann mit der Gründung der Ersten Internationale (IAA) 1864. Marx erlitt zwei Abstimmungsniederlagen kurz hintereinander gegen Bakunin, einmal in der »Polen-Frage«, zum anderen bezüglich der Abschaffung des Erbschaftsrechts. Weshalb der Deutsche aus London wetterte: »Dieser Russe will offenbar Diktator werden, er soll sich sich in Acht nehmen, sonst wird er exkommuniziert.« Die Schlammschlacht, so Eckhardt, war strömungsgeschichtlich bedingt, lag in konträren programmatischen und strategischen Auffassungen begründet. Bakunins Meinung, Arbeiter in Parlamenten oder gar Regierungen würden nicht mehr Arbeiter sein und auf einst Ihresgleichen herabblicken, reizte Marx zur Attacke.
Aus dem heutigen Russland waren drei Forscher (Tatjana Ivanovna Filimonova, Svetlana Gavrilcenko und Valerij Fomicev) zur Tagung angereist - was Rolf Hecker vom Verein zur Förderung der MEGA-Edition als Ereignis herausstellte: »Für unsere Freude aus Japan und China ist es leichter in die deutsche Hauptstadt zu kommen.«
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Manfred Lauermann schrieb in der Jungen Welt vom 29. 9. 2011:
Marx in Rußland: Eine Wiederkehr. Kein orthodoxer Retrosalat: Eine Tagung in Berlin verhandelte die Sicht von Marx und Engels auf die russische Entwicklung
Manfred LauermannWie lange ist es her, daß auf einer wissenschaftlichen Tagung in Berlin russisch gesprochen wurde? Wie lange, daß nicht neoliberales, jelzinisiertes Fastfood oder orthodox-russischer Retrosalat gereicht wurden, sondern weit schmackhaftere Kost? Nämlich Marx und Engels »Sicht auf die europäische Politik und sozialpolitische Entwicklung Rußlands«, am Wochenende initiiert vom »Berliner Verein zur Förderung der MEGA-Edition«, mitveranstaltet von der Rosa-Luxemburg-Stiftung und deren Berliner Sektion »Helle Panke«. MEGA ist bekanntlich die Abkürzung für die Marx-Engels-Gesantausgabe. Eine Veröffentlichung der Vorträge ist für nächstes Jahr geplant.
Stellen wir uns ein historisches Gemälde von Ilja J. Repin vor, welches restauriert wird: Obwohl das Ganze als Gestalt präsent ist, beugt man sich nur über einen Ausschnitt, den man Detail für Detail nach verderbten Stellen absucht, zuweilen die Farben auffrischt. Ähnlich verhält es sich mit dem Thema Rußland bei Marx und Engels. Ausgespart wurde bei diesem auf der Tagung verhandeltem »Gemälde« die Charakterisierung Rußlands als einer »asiatischen Barbarei«, später berühmt als das Wittfogel-Problem, unterbelichtet war der Zusammenhang der Prognosen von Marx und Engels mit Lenins eindeutiger Analyse »Die Entwicklung des Kapitalismus in Rußland« und erst recht der zur Oktoberrevolution.
Folgender Ausgangspunkt also war gegeben: 1.) In der russischen Frage war Engels der Anreger, nicht nur lernte er gut 20 Jahre früher Russisch, sondern er war Marx in vielen Beurteilungen sowie in Urteilskorrekturen zeitlich voraus. 2.) Rußland galt ab 1848 als Hort der Reaktion, welches in Europa ständig Energie für Konterrevolutionen bereitstellte, dessen eher »asiatischer« Gesellschaftsaufbau sich entschieden von der Moderne unterschied, während es nach 1861 durch die Bauernbefreiung eindeutig Teil Europas wurde. 3.) Durch die Niederlage Rußlands im Krimkrieg (1854/1855) und nach dem Pariser Frieden (1856) wird dem Übergewicht Rußlands in Europa ein Ende gemacht. Diese Ergebnisse der Forschungen wurden von Paolo Dalvit (Mailand), der zudem einen weiteren Band der neuen italienischen Marx/Engels-Ausgabe mitgebracht hatte (Sritti 1854/55, edizione Lotte Communiste 2011), sowie von Hanno Strauß (Berlin) vorgestellt und erweitert.
Die 1850er Jahre waren zweifellos ein Jahrzehnt der politischen Theorie von Marx ähnlich wie dann die 6oer eines der Ökonomie. Dem entsprach unausgesprochen der Vortrag von Manfred Neuhaus über Marx als gut bezahlter Europakorrespondent der New York Tribune, immerhin einem Blatt von 145000 Auflage. Auch mußte Marx natürlich den ideologischen Horizont der bürgerlich-liberalen Zeitung berücksichtigen, wobei bei uns Interpretationsunsicherheiten entstehen, wie Dalvit anmerkte, was ist originäre marxistische Theorie, was ist Maskierung eines Theoretikers der Moderne? Die Rolle der unterdrückten Klassen blieb für die bürgerliche Öffentlichkeit nur im Ungefähren und wurde moralistisch angemalt. Wunderbar klar war der Vortrag von Giovanni Sgro (Neapel) über die Stellung des späten Marx zu Rußland (Briefe an die Redaktion der Otetschestwennyie Sapiski und an Vera Sassulitsch). Marx weist darauf hin, daß seine Kapitalismus-Analyse ein reflektierter Idealtypus sei, der so nicht auf andere Kulturen als den der westlichen Industrieländer zu übertragen ist. Durch die eigentümliche Beharrung der russischen Dorfgemeinde auf Formen von Gemeineigentum, die im Kapitalismus längst zerstört sind, enthält Rußland einen andern Gesellschaftstypus, einen anderen Code, der unter bestimmten Umständen benutzt werden kann, mit direkteren Vergesellschaftungsweisen zu experimentieren, solange die Arbeit nur partiell in Lohnarbeit transformiert wurde.
Kontrovers, wie zu erwarten, wurde der Bakunin-Teil. Wolfgang Eckhardt (Berlin) sprach über Bakunin vs. Marx und Vesa Oittinen (Helsinki) über Marx, Bakunin und Dostojewski. Letzterer konzentrierte das Bakunin-Problem geistesgeschichtlich überzeugend auf den Nihilismus-Diskurs, der bei Dostojewski dichterisch gestaltet wurde, während dagegen eher ideenpolitisch Wolfgang Eckhardt (Herausgeber einer neuen schönen Bakunin-Ausgabe bei Karin Kramer in 12 Bänden) eindeutig Partei nahm gegen die autoritären Marx/Engels, die Bakunin als Richtung und Person aus der 1. Internationale herausdrängten. Ein Verdacht blieb, die früher übliche Hagiographie von Marx sei durch Bakunin abgelöst: Engel und Teufel tauschen ihre Rollen.
Mit Bakunin war das russische Thema in Gestalt einer großen Figur des 19. Jahrhunderts angeschnitten. Ein anderer Emigrant stand im Zentrum bei Tatjana Ivanova Filimonova vom Petersburger Plechanov-Haus. Ihr gelang wunderschön die Vergegenwärtigung von Georgi Walentinowitsch, und die Zeit schien stille zu stehen, hatte doch die Morgenpresse über die Inaugurierung Putins quasi als Zar Putin II berichtet. Eine ähnlich empathische Darstellung gelang Svetlana Gavrilcenko, die durch mehrere Briefbände der MEGA bekannt ist, mit der Person von V.V. Bervi-Flerovskij, dessen »Lage der arbeitende Klasse in Russland« (1869) Marx auf eine Stufe stellte mit Engels soziologischem Meisterwerk »Lage der arbeitenden Klasse in England« (1845). Ein ähnlicher origineller Kopf wurde von Valerij Fomicev (Moskau) präsentiert: S.A. Podolinskij, einem Mediziner, der in Paris und Breslau studierte und dessen Vormanuskript von »Le Travail Humain et la Conservation de lEnergie« (1880) Marx mit Randnotizen versehen hat: Eine genialisch spekulative Überlegung, wie der Marxsche ökonomische Arbeitsbegriff mit einem physikalischen Arbeits=Energie-Begriff verkoppelt werden kann.
Abschließend breitete Rolf Hecker uferloses Material aus zur ersten russischen Übersetzung des Kapitals Band 1 von N. F. Danielson (18441918), dem die Bände 2 und 3 folgten, so daß Marxens Hauptwerk ausgerechnet in Rußland zuerst als Übersetzung vorhanden war, was die politischen Vorurteile bei den Klassikern über die russische Gesellschaft nachhaltig ins Schwanken brachte. Wie bei der Diskussion zu Plechanov-Ausgaben und Briefsammlungen der russischen Sozialisten wurde noch einmal sichtbar, welche editorische und wissenschaftliche Arbeit in der Sowjetunion seit der Oktoberrevolution geleistet wurde. Mit einem Wort: In russischen Archiven liegt als Bakuninsches Dynamit genügend Material, um nach der Thronbesteigung von Putin II, dialektisch angestoßen durch Asien (anwesend waren auch Gäste aus Japan und China, wo laufend Übersetzungen nach der MEGA fabriziert werden), erneut die Überwindung des Kapitalismus auf die Tagesordnung zu setzen. Vorbote möge die neue, wissenschaftlich beeindruckend überarbeitete dreibändige Kapitalausgabe sein, die 2011 in Moskau neu erschienen ist. Marx, prophetisch, aus einem Brief an die Lafargues, 5.3.1870: »... daß eine äußerst schreckliche soziale Revolution natürlich in den niederen Formen, wo sie dem gegenwärtigen Moskowiter Entwicklungsstand entsprechen in Rußland unvermeidlich ist und nahe bevorsteht. Das sind gute Nachrichten...!«
RLS und Berliner Verein zur Förderung der MEGA-Edition e.V.