Geschichte
Zum Vortrag ist ein Heft erschienen, das sie hier[1] bestellen können.
Die größte Flüchtlingswelle in der jüngeren Geschichte "überflutete" Deutschland vor 70 Jahren. Mehr als 12 Millionen Deutsche aus dem heutigen Mittelost- und Osteuropa mussten innerhalb der Grenzen Nachkriegsdeutschlands eine Bleibe finden. Aus den Ostprovinzen des Deutschen Reichs kamen sie in drei Wellen zwischen Dezember 1944 und Anfang Mai 1945 mit der Bahn, auf von Pferden gezogenen Planwagen, sogar zu Fuß, als Kriegsflüchtlinge laut Evakuierungsbefehl der Wehrmacht oder aus eigenem Entschluss. Zwischen Mai und Juli 1945 handelte es sich bei den ankommenden Deutschen hauptsächlich um aus den Gebieten jenseits von Oder und Neiße durch polnische Milizen Vertriebene, ab Spätherbst 1945 wurden weitere Millionen im Rahmen der "Aktion Schwalbe" per Bahn aus Polen in die sowjetische und britische Besatzungszone transferiert.
Nur auf den ersten Blick scheint es so, als ob die alltagskulturelle Integration der Migranten keine besondere Rolle gespielt haben könnte, waren doch die Neuankömmlinge Deutsche wie die Einheimischen auch. Die Zugezogenen unterschieden sich hinsichtlich Hautfarbe und Physiognomie nicht von der ortsansässigen Bevölkerung. Doch schon wenn die Flüchtlinge zu sprechen begannen, wurden die Unterschiede deutlich. Diese Deutschen verständigten sich in einem den Einheimischen fremden Dialekt. Vielfach gehörten sie auch einer fremden Religionsgemeinschaft an, jedenfalls dann, wenn sie z.B. als katholische Oberschlesier im protestantische Norddeutschland Zuflucht fanden oder als evangelische Ostpreußen ins katholische Nordrhein-Westfalen gelangten. Beide Religionsgemeinschaften huldigten dem gleichen Christengott gemäß deutlich unterscheidbaren Regeln und Ritualen.
Vielfach galten die Flüchtlinge den Einheimischen nicht nur als die "falschen" Christen, sondern wurden generell auch als die "falschen" Deutschen betrachtet. Denn selbst im Alltagsverhalten war bei den Flüchtlingen manches anders als gewohnt: Sie hatten größere Familien mit deutlich mehr Kindern und gingen vielfach anders mit ihnen um. Auch der Status des Familienvaters war ein anderer und wurde von den Einheimischen als zu autoritär kritisiert. Als geradezu provozierend empfanden die Einheimischen, dass die Ankömmlinge nicht daran dachten, sich in ihrem Verhalten zu "normalisieren", d.h. sich den gesellschaftlichen Umgangsstandards ihrer Ankunftsregion anzupassen. Verwunderlich war das jedoch nicht. Die Flüchtlinge, die ihre Heimat verlassen mussten, hatten alles verloren. Ihre Sitten und Gebräuche waren oft das Einzige was sie aus ihrer alten Heimat hatten herüberretten können.
Der Vortrag wirft über die Verständigungsprobleme zwischen Migranten und Einheimischen während der ersten schwierigen Nachkriegsjahre hinaus auch einen Blick auf das weitere Schicksal der Flüchtlinge bis zu ihrer schließlich gelingenden sozialen, politischen und alltagskulturellen Integration Ende der 50er/Anfang der 60er Jahre in der DDR bzw. der Bundesrepublik.
Referent: Prof. Dr. Jörg Roesler
Moderation: Dr. Stefan Bollinger