Aus der Erfahrung des NS-Herrschaft hatte Peter von Oertzen die Schlussfolgerung gezogen, dass die politische Demokratie zu ihrer Stabilisierung ein stabiles soziales Fundament benötige und darüber hinaus als Prinzip in allen gesellschaftlichen Bereichen zu verwirklichen sei. Wie jedoch lässt sich diese Grundposition in die gesellschaftlichen Institutionen vermitteln? Welche Ansatzpunkte für politisch-wissenschaftliche Interventionen lassen sich unter den gegenwärtigen sozialen und politischen Rahmenbedingungen finden? Welche theoretischen Konsequenzen sind aus der Analyse einer veränderten gesellschaftlichen Wirklichkeit zu ziehen?
Wir wollen mit unserem Symposium die theoretischen Grundpositionen Peter von
Oertzens kritisch reflektieren und ihre Bedeutung für die gegenwärtigen sozialen und politischen Auseinandersetzungen ausloten.
Leitung und Moderation Prof. Dr. Michael Buckmiller.
Mit Beiträgen von: Björn Böhning, Dr. André Brie, Adolf Brock, Prof. Dr. Michael Buckmiller, Stephan Klecha, Prof. Dr. Michael Krätke, Uwe Kremer, Klaus Meschkat, Wolfgang Nitsch, Prof. Dr. Joachim Perels, Christoph Spehr, Michael Vester
Gemeinsame Veranstaltung mit der Loccumer Initiative kritischer WissenschaftlerInnen und der Rosa-Luxemburg-Stiftung Gesellschaftsanalyse und Politische Bildung e.V.
Um Anmeldung unter info@helle-panke.de[1] wird gebeten.
Eintritt 15
Im ND vom 11.10.2008, S. 22, schrieb Rainer Holze über das Symposium
Symposium erinnerte an Peter von Oertzen. Die Linksintellektuellen
Rainer Holze
In letzter Zeit ist zu beobachten, dass sich die Linken in Deutschland wieder stärker linkssozialistischen Traditionen in der Geschichte zuwenden. Einem herausragenden Protagonisten des Linkssozialismus in Deutschland, dem im März dieses Jahres verstorbenen kritischen marxistischen Wissenschaftler und Politiker Peter von Oertzen, war dieser Tage eine dreitägige wissenschaftliche Veranstaltung gewidmet.
Der langjährige Sozialdemokrat Oertzen hatte auf dem Godesberger Parteitag der SPD 1959 mit einem eigenen Entwurf gegen das neue Programm gestimmt, und mit ihm 15 weitere »Abweichler«.
Der Abschied seiner Partei vom Marxismus wurde trotzdem beschlossen. Die Gräben des Kalten Krieges hinter sich lassend, unterstützte Oertzen ab 1990 uneigennützig die Linken in den neuen Bundesländern in ihrer Bildungs- und Aufkärungsarbeit. Aus Sorge um die geistig-politische Vorherrschaft konservativer und neoliberaler Ideologen im öffentlichten Leben brachte er 1994 mit der Tagung »Kapitalismus ohne Alternative?« die Loccumer Initiative kritischer WissenschaftlerInnen auf den Weg. Als Schröder die von Arbeitgeberinteressen bestimmte Agenda-Politik inszenierte, verließ Oertzen die SPD und beteiligte sich am Herausbildungsprozess der Partei DIE LINKE, ohne selbst deren Mitglied zu werden. Der Wissenschaftler Oertzen befasste sich eingehend mit demokratischen Traditionen in Volks- und Arbeiterbewegungen, insbesondere den Arbeiterräten galt sein Interesse. Auf der Tagung in Berlin referierte Joachim Perels (Hannover) über Oertzens Dissertation zum staatsrechtlichen Positivismus, und Michael Buckmiller (ebenfalls Hannover) stellte dessen Konzeption einer sozialistischen Räte-Demokratie vor.
Das von der Loccumer Initiative inspirierte und vom Berliner Verein Helle Panke sowie der Rosa-Luxemburg-Stiftung getragene Symposium verband die Erinnerung an Oertzen mit der Frage nach der »Funktion des linken Intellektuellen in heutiger Zeit« diskutiert von ost- und westdeutschen Historikern, Politik- und Wirtschaftswissenschaftlern unter der Moderation von Buckmiller und Wolfgang Nitsch (Oldenburg). Adolf Brock sprach zu Problemen der betriebsnahen Bildungsarbeit,
Heiko Geiling stellte aktuelle Untersuchungen zur Klassenanalyse in der Bundesrepublik vor und Michel Krätke aus Amsterdam offerierte grundlegende Ausführungen zum Stellenwert marxistischer Programmdiskussion. In der abschließenden Podiumsdiskussion mit Krätke, Margareta Steinrücke (Bremen), Michael Brie (Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin) und Stephan Klecha (Göttingen) wurden die aktuellen Möglichkeiten sozialistischer Demokratie erörtert.
Die intensive und teilweise auch kontroverse Diskussion belegte die bemerkenswerte Wirkung Oertzens auch heute noch, was wohl wesentlich seiner unermüdlichen Aufklärungsarbeit über Zeitschriften sowie in akademischen und gewerkschaftlichen Foren, vor allem aber seiner beeindruckenden Aufrichtigkeit zu danken ist: Der in der Weimarer Republik 1924 Geborene ist seinen demokratisch-sozialistischen Überzeugungen bis ins hohe Alter treu geblieben.
Grogor Kritidis hat in der Jungen Welt einen Artikel über das Symposium geschrieben [2]sowie einen Beitrag in Sopos 2/2009 verfasst:
Gregor Kritidis
Habe den Mut, Dich Deines Verstandes zu bedienen und für die sozial Abhängigen Partei zu ergreifen auf diese Kurzformel ließe sich die Tagung Zur Funktion der Intellektuellen in heutiger Zeit bringen, die in Erinnerung an den im März verstorbenen Vordenker der sozialistischen Linken, Peter von Oertzen, am vergangenen Wochenende in Berlin stattfand. Zu dieser Tagung hatten die von Peter von Oertzen 1994 mitgegründete Loccumer Initiative kritischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und die Bildungsvereinigung Helle Panke eingeladen, um die Aktualität seiner rätesozialistischen Konzeption auszuloten. Daß dabei durchaus im Sinne Kants die (Selbst-)aufklärungsprozesse im Mittelpunkt standen, hatte schon biographische Gründe, wie Michael Buckmiller (Hannover) einleitend erläuterte: Bis 1945 war der 1924 geborene Peter von Oertzen vom Endsieg überzeugt gewesen, bevor er in der Bibliothek seines Vaters im Selbststudium sein zusammengebrochenes Weltbild radikal neu ordnete. Nur wer konsequent die durch die Weltwirtschaftskrise der 30er Jahre und den Sieg des Faschismus aufgeworfenen Fragen durchdenke, könne die richtigen Schlüsse ziehen. Politisch führte der Weg in den marxistischen Flügel der Sozialdemokratie, da die demokratisch-bürgerliche Tradition nur wenig Anknüfungspunkte bot, wie Joachim Perels (Hannover) anhand der Dissertationsschrift von Oertzens verdeutlichte. Welche alternativen demokratischen Potentiale es gibt, sondierte von Oertzen unter dem Einfluß seines politischen Lehrers, dem Korsch-Schüler Erich Gerlach, in seiner Untersuchung der Rätebewegung in der Novemberrevolution. Die Demokratisierung aller gesellschaftlichen Institutionen war demnach nicht nur eine zwingende Notwendigkeit, sondern auch ein Möglichkeit, für die er vor allem in den Gewerkschaften und an den Universitäten stritt freilich ohne das von ihm favorisierte Konzept einer Rätedemokratie zu dogmatisieren, wie Wolfgang Nitsch (Oldenburg) im Hinblick auf von Oertzens Hochschulreformpolitik als Professor und niedersächsischer Kultusminister betonte. Räte und Parlamente würden sich keinesfalls ausschließen, ebenso wie eine konsequente Reformpolitik keineswegs bedeuten müsse, das Ziel einer sozialistischen Transformation aufzugeben.
Denkverbote, das wurde immer wieder deutlich, waren dem Freigeist von Oertzen fremd. Wer die Wirklichkeit verändern wolle, müsse sich ein klares Bild von Ihr machen, Theorie sei in der Praxis nur relevant, wenn sie wahr sei und darüber könne schlechterdings kein Parteivorstand oder Zentralkomitee entscheiden, vielmehr sei jeder auf seine eigene Urteilskraft angewiesen. Die Suche nach wissenschaftlicher Erkenntnis war bei von Oertzen auf die politische Praxis bezogen, etwa bei dem Bestreben, die Klassenanalyse der Bundesrepublik zu aktualisieren. Warum die SPD, aus der von Oertzen 2005 nach über 60 Jahren Mitgliedschaft austrat, mit derartigen Erkenntnissen immer weniger anfangen konnte, führte zu einer Kontroverse zwischen Heiko Geiling (Hannover) und Tilmann Fichter, die ein Schlaglicht auf die veränderte gegenwärtige Situation von Intellektuellen warf: Bildeten wissenschaftliche Erkenntnisse bis Anfang der 90er Jahre noch einen Bezugspunkt politischer Entscheidungsträger, so hat sich das Verhältnis von Politik und Wissenschaft mittlerweile ins Gegenteil verkehrt; Wissenschaft dient mehr oder minder zur Legitimation bereits getroffener Entscheidungen.
Inwieweit Peter von Oertzens undogmatische Herangehensweise weiterhin Irritationen aufwerfen kann, machte eine Episode aus der Geschichte den frühen 80er Jahren deutlich: Wie Klaus Meschkat (Hannover) berichtete, hatte von Oertzen neben dem Theologen Helmut Gollwitzer und vielen anderen zur Solidarität mit dem bewaffneten Kampf der salvadorianischen Befreiungsfront gegen die von den USA unterstützte Militärdiktatur aufgerufen. Diese Position stellte sich freilich insofern als fragwürdig heraus, als interne Kämpfe in der Befreiungsfront auch mit politischen Morden ausgetragen wurden. Daß aber demokratische Bewegungen gezwungen sein können, ihre Positionen auch mit Gewalt zu verteidigen, war für von Oertzen nach wie vor unbestritten, obwohl er der Gefahr einer Zerstörung des Emanzipationsanspruchs von innen heraus bewußt war.
Eine Besonderheit bildete die Lesung von Christoph Spehr (Bremen) über die sozialutopischen Elemente in der Sci-Fi-Literatur, die von Oertzen als Medium zur Entfaltung von sozialer Entwurfsphantasie betrachtet hatte. Inwieweit der Spannungsbogen zwischen politischen Zunkunftsentwürfen und realen Handlungsspielräumen möglich ist, unterstrich die von Michael Krätke (Amsterdam) mit einem großen historischen Bogen eingeleitete Diskussion über den Stellenwert marxistischer Programmdebatten. Anhand der Frage der Arbeitszeitverkürzung entwickelte Margareta Steinrücke (Bremen) die Utopie einer Geschlechterdemokratie, die nur als klassenlose Gesellschaft zu verwirklichen sei. Daran anknüpfend hob Michael Brie von der gastgebenden Rosa-Luxemburg-Stiftung die Integrationsfunktion von Programmdebatten hervor. Intellektuellen komme die Aufgabe zu, die unterschiedlichen Erfahrungen von Unterdrückung und die darauf fußenden Konzeptionen miteinander zu vermitteln und den Raum für produktive Lernprozesse zu öffnen. Stephan Klecha (Göttingen) hob dagegen die Notwendigkeit, institutionelle Einflußmöglichkeiten zu nutzen, hervor inwieweit das unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen möglich ist, blieb freilich eine offene Frage, auf deren Klärung sich Peter von Oertzen sicherlich sofort in der Absicht öffentlicher Intervention gestürzt hätte.
Ein Artikel von Gregor Kritidis ist zudem in Jungen Welt vom 9.10.2008, S. 12. erschienen[3].
Aus der Konferenz ist auch eine Publikation enstanden:
Peter von Oertzen (1924-2008) gehörte zu den bedeutendsten politischen Vordenkern und Akteuren der politischen Linken nach 1945. Seine Schriften zur deutschen Staatsrechtslehre, über die Räte in der Novemberrevolution und vor allem seine Beiträge zum Marxismus und demokratischen Sozialismus beeinflußten Generationen von linken Intellektuellen. Seine Hochschulreform als Minister in Niedersachen erweiterte instituionell auch ihren Wirkungskreis. 1994 gehörte er zu den Mitbegründern der »Loccumer Initiative«, um den neoliberalen und neokonservativen Kräften nach der deutschen Vereinigung politisch-wissenschaftlich entgegenzuwirken. Er verstand es als die Aufgabe der kritischen Intelligenz, die sich verändernden Verhältnisse auf ihren Begriff zu bringen und kritische Impulse in die politische Öffentlichkeit hineinzutragen. Die politische Demokratie benötigt zu ihrer Stabilisierung ein soziales Fundament; das demokratische Prinzip muß in allen gesellschaftlichen Lebensbereichen, insbesondere in der Wirtschaft, Einzug halten, um die geistigen Potentiale der Gesellschaft zur Entfaltung zu bringen und Fehlentwicklung zu vermeiden
Mit Beiträgen von Michael Buckmiller,Gregor Kritidis, Klaus Meschkat, Wolfgang Nitsch, Joachim Perels, Christoph Spehr, Margarete Steinrücke, Michael Vester.
Flugschriften Kritischer Wissenschaft Nr. 10[4]