Die Konferenz ist Teil des Veranstaltungsangebotes unseres Vereins, das sich an den Jahrestagen 1919-1949-1989 orientiert. Wie sich die Geschichtsschreibung der Novemberrevolution 1918/19 in den letzten Jahrzehnten verändert hat, diskutieren Historiker und Editoren mit Blick auf ihre abgeschlossenen und noch laufenden Forschungs- und Editionsprojekte.
Prof. Dr. Theodor Bergmann (Stuttgart): Der November 1918 in Stuttgart und Württemberg
Dr. Gerhard Engel: Die Rolle der Berliner Räte
Ralf Hoffrogge: Der Rätesozialist Richard Müller (1880-1943) und seine Revolutionsgeschichte Vom Kaiserreich zur Republik (1924/25)
Ottokar Luban: Das Geschichtsbild der deutschen Novemberrevolution bei Eberhard Kolb,
Susanne Miller und Heinrich August Winkler und eine notwendige differenzierte Revidierung
Moderation: Prof. Dr. Klaus Kinner (Leipzig)
Peter Bathke hat in der Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung, einen Konferenzbericht geschrieben[1] (Nr. 76, 2008, S. 185-187):
Der 90. Jahrestag der deutschen Novemberrevolution 1918/19 ist Anlass für linke Historiker, sich stärker als in vergangenen Jahren mit der Bewertung dieses für die deutsche Geschichte prägenden Ereignisses zu beschäftigen. Den Auftakt dazu bildete eine Veranstaltung der Hellen Panke, des Berliner Vereins zur Förderung von Politik, Bildung und Kultur, gemeinsam mit den Rosa-Luxemburg-Stiftungen Berlin und Brandenburg, am 16. Oktober 2008 unter dem Titel Die Geschichtsschreibung der Novemberrevolution 1918/19 im Wandel der Jahrzehnte. Weitere Tagungen verschiedener Landesstiftungen im bundesweiten Verbund der RLS folgen bis Jahresende, so in Berlin, Oranienburg, München, Köln und Hamburg. Ausdruck der Aufarbeitung von Kernfragen dieser Revolution ist ferner eine Reihe von Veröffentlichungen, so die von 1993 bis 2002 im Akademie Verlag, Berlin, erschienene dreibändige Edition Groß-Berliner Arbeiter- und Soldatenräten in der Revolution 1918/19, herausgegeben von Gerhard Engel, Bärbel Holtz, Gaby Huch und Ingo Materna, das Heft 2008/III des Jahrbuchs für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung mit Beiträgen zur Novemberrevolution von Werner Bramke, Mario Keßler und Gerhard Engel oder die im Herbst 2008 bei Dietz Berlin bzw. Donat Bremen erschienenen biografischen Arbeiten von Ralf Hoffrogge: Richard Müller. Der Mann hinter der Novemberrevolution bzw. von Karin Kuckuk: Im Schatten der Revolution. Lotte Kornfeld (1896-1974). Biografie einer Vergessenen.
Auf der besagten Konferenz der Hellen Panke referierten Ottokar Luban(Berlin), Prof. Dr. Gerhard Engel (Am Mellensee), Ralf Hoffrogge (Berlin) und Prof. Dr. Theodor Bergmann (Stuttgart) unter der Moderation von Prof. Dr. Klaus Kinner (Leipzig). Die vorgetragenen Thesen fanden ein engagiertes und teilweise kontroverses Echo bei den gut 30 TeilnehmerInnen. Inhaltlich ging es um folgende Schwerpunktfragen:
Zentrales Thema war das Scheitern oder Nichtscheitern der Novemberrevolution und damit implizit die Frage nach ihrem Charakter. So definierte Theodor Bergmann eindeutig, die erste sozialistische deutsche Revolution sei gescheitert. Mario Keßler (Potsdam) sprach ebenfalls vom Scheitern der Revolution, gemessen an ihren Zielen. Differenzierter formulierte es Ulla Plener (Berlin): Nach Vorstellung der Linken 1918/19 handelte es sich um eine sozialistische Revolution; aber die Novemberrevolution war keine sozialistische Revolution und ist folglich nicht gescheitert; sondern sie gab wichtige Impulse für die Entwicklung der Demokratie in Deutschland. Heinz Deutschland (Berlin) betonte, aus Sicht der Revolutionäre haben die Mehrheitssozialdemokraten die Ziele der Revolution verraten. Auf den Punkt brachte es Gerhard Engel, der in seinem Referat ausführte, dass von einer realen sozialistischen Chance in der deutschen Revolution nicht gesprochen werden kann, so sehr auch anzuerkennen ist, dass ohne den Kampf ihrer Befürworter die Anfangserfolge der Revolution nicht zu behaupten und demokratische Entwicklungsmöglichkeiten nicht zu eröffnen gewesen wären. Und weiter: Die Revolution war ein nicht zu unterschätzender Teilschritt zum historischen Fortschritt in Deutschland, aber seine entschiedensten Verfechter erlitten eine Niederlage, die sowohl den Bedingungen ihres Handelns als auch ihrem Handeln selbst geschuldet waren.
Ausführlich wurde über die Bewertung der Akteure der Novemberrevolution diskutiert. Klaus Kinner sagte dazu in seiner Eröffnungsmoderation: Die erste bürgerliche deutsche Republik war das Ergebnis des Kampfes der Arbeiter- und Soldatenräte gegen das Kaiserreich und die bürgerlichen konservativen Parteien. Die SPD musste zum Jagen getragen werden und spielte 1918/19 eine unrühmliche Rolle. Die Verratsthese sei aber nicht zutreffend, denn ihre Handlungen entsprachen ihrer Position sie wollte keine Revolution und keine Republik. Ottokar Luban führte dazu in seinem Referat aus: Die SPD beanspruche für sich, im November 1919 die Revolution gemacht, die Republik ausgerufen und die Macht übernommen zu haben. Diese Deutung der Ereignisse dominiere bis heute die Geschichtsschreibung der Bundesrepublik: Die Linken spielten danach in der Revolution keine wesentliche oder gar fördernde Rolle. Tatsächlich waren die Führer der Mehrheitssozialdemokraten fern von der Revolution. Sie nutzten alle Möglichkeiten, um die Arbeiter und Soldaten von der Revolution abzuhalten und setzten sich schließlich an die Spitze der Revolution, um diese unter Kontrolle zu bekommen. Gerhard Engel verwies darauf, dass der Vollzugsrat der Großberliner Arbeiter- und Soldatenräte die Spitze der Rätedemokratie hätte werden können. Statt dessen beschloss der Erste Reichsrätekongress Wahlen zur Nationalversammlung, womit sich die Räte an den Rand des Geschehens drängen ließen und schließlich verboten und aufgelöst wurden.
Nur angerissen wurden auf der Konferenz die Folgen der Novemberrevolution für die Entwicklung Deutschlands und Europas. So stellte Klaus Kinner fest, dass die Novemberrevolution Chancen für die Entwicklung Deutschlands von einer politischen zu einer sozialen Demokratie bot. Das hätte die Weimarer Republik resistenter gegen den Faschismus gemacht. Gerhard Engel verwies darauf, dass die bürgerlich demokratischen Errungenschaften von 1918/19 unzureichend zementiert waren und die Republik wegen ihrer Halbheiten 1933 scheiterte. Faschistische Demagogen vermochten es, der militaristischen und revanchistischen Reaktion den Weg zu bereiten, der es ihr ermöglichte, die Ergebnisse der Novemberrevolution und des Ersten Weltkrieges zu revidieren und ganz Europa in die Katastrophe zu führen.
Wichtige Beiträge zum inhaltlichen Spektrum der Konferenz waren ferner das Referat des 92-jährigen Theodor Bergmann zur Versuchten Novemberrevolution in Stuttgart und Württemberg sowie der Vortrag von Ralf Hoffrogge über den biografisch bisher kaum bekannten Vorsitzenden des Groß-Berliner Arbeiter- und Soldatenrates Richard Müller.
Klaus Kinner hat im ND vom 30.12.2008, S. 2, einen Artikel zumThema veröffentlicht[2]:
Der Glauben an die Gesetzmäßigkeit des Sieges einer Weltrevolution als auch an das sozialdemokratische Reformkonzept sind obsolet. Das birgt Chancen für eine neue linke Politik. Geschichte ist neu zu befragen. Dabei sollten die historischen Erfahrungen beider Hauptströmungen der Arbeiterbewegung gleichermaßen beachtet werden jenseits des Schismas Reform oder Revolution, das einst wesentlich den Gegensatz zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten prägte. Die LINKE sollte sich in mannigfaltigen Traditionsbezügen sehen.
Dazu gehört die USPD, eine Abspaltung von der SPD, in deren Schoß Teile ihrer Mitgliedschaft 1922 wieder zurückkehrten. Diese 1917, mitten im Ersten Weltkrieg, entstandene weltweit erste linkssozialistische Massenpartei vereinte nahezu das gesamte Potenzial marxistischer Theoretiker und Theoretikerinnen der seinerzeitigen Sozialdemokratie. Der Anschluss der Spartakusgruppe an die USPD war alles andere als die »Folge fehlender Klarheit über die Rolle einer selbständigen marxistischen Kampfpartei«, wie es die Parteigeschichtsschreibung der SED weismachen wollte (und erstaunlicherweise dieser Tage ausgerechnet in einer an die Jugend gerichteten Zeitung zu lesen war).
Auch war die führende Kraft der Novemberrevolution nicht der Spartakusbund, sondern die USPD mit den ihr nahestehenden revolutionären Obleuten. Die deutsche Revolution war nicht am Fehlen »einer kommunistischen Partei nach dem Vorbild der in Russland siegreichen Bolschewiki« gescheitert, sondern an einer Vielzahl von Faktoren, darunter den völlig andersartigen Bedingungen in Deutschland. Es ist eher umgekehrt zu fragen, ob der Zeitpunkt und die Orientierung des Gründungsparteitages der KPD, insbesondere dessen Ablehnung der Beteiligung an den Wahlen zur Nationalversammlung, geeignet waren, das revolutionäre Potenzial der deutschen Arbeiter zu stärken.
Es ist bekannt, dass Rosa Luxemburg lange zögerte, den Spartakusbund aus der USPD herauszulösen. Als sie schließlich keinen Gestaltungsspielraum mehr in dieser sah, wollten sie und ihre Gesinnungsgenossen keine kommunistische Partei nach russischem Vorbild gründen. Noch auf der Vorkonferenz zum Gründungsparteitag trat sie vehement für den Namen »Sozialistische Partei« ein. Leo Jogiches und Clara Zetkin sprachen sich für den Verbleib des Spartakusbundes in der USPD aus. In einem Brief an Rosa Luxemburg vom November 1918 warnte die Zetkin: »Die Trennung würde ein kaum bemerktes Ereignis sein, ohne Verständnis und Echo bei den Massen zu finden ... So bin ich der Ansicht, dass wir mit unbeugsamer grundsätzlicher Kritik zunächst in der USP bleiben.« Noch 1921 hielt sie, wie sie an Lenin schrieb, die KPD-Gründung für einen Fehler.
Nach der Revolution spitzten sich parteiinterne Auseinandersetzungen zu. In der USPD erstarkte ein linker Flügel, der für die Schaffung einer revolutionären Massenpartei als Sektion der im März 1919 in Moskau gegründeten Kommunistischen Internationale eintrat. In der KPD standen sich die um den Vorsitzenden Paul Levi gruppierten und im Luxemburgschen Sinne für eine linkssozialistische Massenpartei werbenden Kräften und linksfundamentalistische Revolutionaristen gegenüber. Im Frühjahr 1920 verlor die KPD ihren antiparlamentarisch orientierten Flügel durch die Gründung der Kommunistischen Arbeiterpartei Deutschlands (KAPD). Die USPD wiederum ging ihres linken Flügels verlustig, der sich für die Vereinigung mit der KPD entschied.
Die Fusion von etwa einem Drittel der USPD-Mitglieder (ca. 200 000) mit der KPD im Dezember 1920 zur Vereinigten Kommunistischen Partei Deutschlands (VKPD) barg eine große historische Chance. Mit der VKPD entstand die erste kommunistische Massenpartei (300 000 Mitglieder) in einem hochindustrialisierten Land. Sie besaß als weltweit stärkste kommunistische Partei außerhalb Sowjetrusslands internationales Gewicht. Doch das bolschewistische, avantgardistische Partei- und Revolutionskonzept, das 1920 in den 21 Aufnahmebedingungen der Komintern festgeschrieben worden war, blockierte den Weg zu einem breiteren linkssozialistisch-kommunistischen Flügel, der das Ziel der Systemüberwindung mit einer Realpolitik im Interesse der werktätigen Massen zu verbinden vermocht hätte.
Im Gegenteil, ganz im Stile des Avantgardismus wurde die Offensive gesucht. In Verkennung der realen Kräfteverhältnisse ging die KPD in den Märzkämpfen 1921 einer gezielten Provokation der Reaktion in die Falle. Der Parteivorsitzende Paul Levi selbst kritisierte solch abenteuerliche Politik in seiner Broschüre »Unser Weg. Wider den Putschismus«. Kurz zuvor hatte er seine Überzeugungen bei den Auseinandersetzungen in der Komintern anlässlich der italienischen Parteispaltung artikuliert und verloren. Mit dem nunmehrigen Rücktritt Levis von der Parteispitze sowie seines (aus der USPD kommenden) Ko-Vorsitzenden Ernst Däumig und den gleichgesinnten Funktionären Otto Brass, Adolph Hoffmann und Clara Zetkin reduzierte sich die Chance für eine breitere Sammlung aller Kräfte links von der reformistischen Sozialdemokratie. Die Spaltung in der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung vertiefte sich. Die Option für eine einheitliche, demokratische, linkssozialistisch-kommunistische Organisation im nationalen wie im internationalen Maßstab verlor ihre wichtigsten Protagonisten.
In den Jahren 1921 bis 1923 gelang es der KPD zwar, Massenpolitik zu gestalten. Der radikale Versuch, die sich zuspitzende politische Situation 1923 zu einem »deutschen Oktober« auszuweiten, scheiterte indes. Und wieder eskalierten die Gegensätze zwischen dem realpolitischen und dem linkssektiererischen Flügel in der Partei. Erschwerend kam hinzu, dass die KPD in die Moskauer Machtkämpfe um die Nachfolge des im Januar 1924 verstorbenen Lenin hineingezogen wurde. Für die schrittweise Rückkehr zu einer Realpolitik ab Herbst 1925 standen Clara Zetkin, Jakob Walcher, Ernst Meyer und Arthur Ewert.
Die erneute ultralinke Wende Ende der 20er Jahre unter Ernst Thälmann, Hermann Remmele und Heinz Neumann verdankte sich auch Stalins persönlichem Eingreifen so in der »Wittorf-Affäre« (1928), einem Korruptions-skandal, in den der Parteivorsitzende Thälmann verwickelt war. So genannte »Rechte« und »Versöhnler« wurden aus der Partei ausgeschlossen oder an deren Rand gedrängt. Daraufhin konstituierte sich an der Jahreswende 1928/29 am gleichen Ort, an dem zehn Jahre zuvor die KPD gegründet worden war, die Kommunistische Partei Deutschlands (Opposition). Deren führende Köpfe August Thalheimer, Heinrich Brandler, Paul Frölich und Jacob Walcher begriffen ihre Neugründung als Plattform zur Wiedergewinnung der KPD.
Linkes Traditionsverständnis heute sollte sich dem breiten Erbe zuwenden. Die Ideen unorthodoxer Kommunisten sind die Glut, die in die Gegenwart zu tragen ist.
Der Leipziger Geschichtsprofessor ist Geschäftsführer der Rosa Luxemburg Stiftung Sachsen.