Von: Manfred Bogisch
Reihe "hefte zur ddr-geschichte", Heft 104, 2006, 64 S., A5, 3 Euro plus Versand
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Reihe "hefte zur ddr-geschichte", Heft 104, 2006, 64 S., A5, 3 Euro plus Versand
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INHALT
Vorbemerkung
Der Neue Kurs
- Moskauer Weisungen
- Die SED-Beschlüsse greifen zu kurz
LDPD-Reaktionen
- Die Basis: Erwartungen, Skepsis und Vorschläge
- Unterschiedliche Positionen in der LDPD-Führung Hans Loch und Johannes Dieckmann
- Was tun? Wie weiter?
Der 17. Juni. Auswirkungen (I)
- Schutzschild Rote Armee für die SED
- Tiefgreifende Differenzen in der LDPD
- Zuckerbrot und Peitsche
Der 17. Juni. Auswirkungen (II)
- Anpassung und Widerspruch
- Die Zentralvorstandssitzung am 5. Juli
- Generalsekretär Täschner interpretiert die Zentralvorstandssitzung
- Dieckmann appelliert an die politische Vernunft der SED
Die Blocksitzung am 25. Juni. Vertane Chance
Liberaldemokraten löcken weiter wider den Stachel
- Infragestellung der SED-Hegemonie
- Politik für den Mittelstand
- LDPD Partei für alle Bürger
Ende des "Tauwetters"
- Ulbricht droht
- Loch redet Klartext
- Kritik lebt trotzdem weiter
Resümee
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LESEPROBE
LDPD-ReaktionenErste Reaktionen von Liberaldemokraten auf die Beschlüsse der SED widerspiegelten eine seltsame Mischung aus "Es-wurde-endlich-Zeit"-Stimmung und Misstrauen, was die eigentlichen Absichten der SED betraf, aber auch Erwartungen und weitergehende Forderungen, die teils mit erstaunlichem Freimut, teils verschlüsselt ausgesprochen wurden. Eine Debatte am 12. Juni 1953 im Kreisvorstand Sangerhausen verdeutlichte die Stimmungslage in der LDPD zwischen dem 9. und 16./17. Juni. Das Vorstandsmitglied Stolle warnte, die Hetze gegen den Westen fortzusetzen. Herr Fuehrer erklärte, "wir müssen die Möglichkeiten ausschöpfen, die uns gegeben werden, andererseits dürfen wir nicht zu optimistisch sein". Herr Schmied forderte Pressefreiheit. Herr Werfel hielt es "für richtig, wenn wir uns nach der Verfassung bewegen. Und wenn die Zeit gekommen ist, können wir über andere Dinge verhandeln." Dem schloss sich Herr Höche an. Dr. Meyer und Herr Hollusleben verwiesen auf die "Verfassung und das Parteiprogramm von Eisenach". Herr Gerboth trug konkrete Forderungen vor: Abschaffung des Monopols der (staatlichen) Deutschen Handelsgesellschaft, "freie Geschäftsbeziehungen" und "Zulassung der Grossisten und angemessene Verdienstspanne". Herr Höch warnte vor "Übergriffen und Racheakten gegenüber Mitgliedern der SED". Herr Gille stellte fest: "Das Volk will freie Wahlen".[1] Die Ortsgruppe Bautzen forderte am 16. Juni die Parteileitung auf, sich für die Abhaltung freier Wahlen in der DDR einzusetzen.[2] Der Kreisvorstand Glauchau erklärte am 11. Juni, "dass durch die neuesten Ereignisse eigentlich die Ausführungen des Parteitages (des 5. Parteitages der LDPD im Mai 1953) schon überholt sind".[3] Auch der Kreisvorstand Quedlinburg gelangte einstimmig, wie hervorgehoben wurde, zu der Auffassung, dass "der 5. Parteitag als Arbeitsgrundlage ... nicht mehr zeitgemäß ist".[4] Wie in Sangerhausen wurde auch im Kreisverband Halle die Einberufung der Volkskammer gefordert, um die Verantwortlichen für das DDR-Desaster zur Rechenschaft zu ziehen und die Politik neu auszurichten.[5] Für die Liberaldemokraten im Bezirksverband Suhl war es schwer vorstellbar, "dass dieselben Menschen, die bisher Fehler gemacht haben ..., nunmehr diese Maßnahmen (den Neuen Kurs) durchführen können".[6] Der Aufbau des Sozialismus wurde offen infrage gestellt. Herr Hahn aus dem Kreisverband Sonneberg warf der SED vor, sie habe aus der DDR ein "Versuchskaninchen" gemacht, sie könne daher "durch eine selbstkritische Stellungnahme nicht alles wieder gutmachen", sie "ist gescheitert". Beschlüsse, "die zum Aufbau des Sozialismus beitragen sollten", müssten rückgängig gemacht werden. Aus den zur Verfügung stehenden Quellen ergibt sich in Umrissen dieses Gesamtbild:
Die verbreitet erhobene Forderung nach Neuausrichtung der LDPD-Politik am Eisenacher Programm lief darauf hinaus, der Parteiführung das Misstrauen auszusprechen. Das Programm war 1949 vom 3. Parteitag verabschiedet worden. Es galt seitdem als Magna Charta liberalen Wollens unter den Bedingungen des antifaschistisch-demokratischen Umbruchs; er sollte durch einen blockpolitischen Burgfrieden begrenzt werden. Jede Revolution muss einmal beendet werden, brachte Herrmann Kastner, damals Vorsitzender der LDPD, 1950 auf Betreiben der SED aus der Partei ausgeschlossen, die in der LDPD vertretenen Positionen auf den Punkt. Im Eisenacher Programm sprach sich die LDPD für verfassungsmäßige Verhältnisse in Ostdeutschland aus, zunächst in den Ländern, und, wenn unvermeidlich, in einem zu gründenden ostdeutschen Staat. Die LDPD entwarf das Modell einer gemischt strukturierten Wirtschaft bestehend aus privaten, genossenschaftlichen und landeseigenen (staatlichen) Unternehmen und freien Bauern. Planung sollte sein zum Zwecke der pünktlichen Zahlung der Reparationen, der Wiederherstellung der im Kriege zerstörten Infrastruktur und der Grundlegung für einen wirtschaftlichen Aufschwung.
Die LDPD definierte im Eisenacher Programm den Block als Partnerschaft gleichberechtigter Parteien und bestimmte die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands als Hauptziel ihrer Politik. Kritik an der Parteileitung wurde im Juni 1953 in der Regel verschlüsselt vorgetragen, indem sie aufgefordert wurde, die Beschlüsse des 5. Parteitages (Zustimmung zum sozialistischen Aufbau und Anerkennung der Führungsrolle der SED) nicht länger zur Grundlage politischer Entscheidungen zu machen. Der Vorsitzende des Kreisverbandes Schmalkalden forderte im Politischen Ausschuss des Bezirksvorstandes Suhl am 17. Juni nicht nur den sofortigen Rücktritt Lochs vom Parteivorsitz, er gab zugleich zu verstehen, er sei dabei, eine personelle Alternative zu Loch zu erkunden: "Ich war vorgestern (am 15. Juni) in Leipzig und Apolda und habe dort mit einigen Parteifreunden Rücksprache genommen." Der Kreisvorsitzende konnte sich dabei auf einen Beschluss seines Vorstandes berufen. (Ebd.) In die gleiche Richtung zielte die Forderung des Kreisvorstandes Glauchau, der Parteiführung insgesamt das Misstrauen auszusprechen und "die Vertreter unserer Partei in der Regierung zur Rechenschaft (zu) ziehen".[7] Vorherrschend war jedoch die "Ansicht, zunächst abzuwarten, wie sich die neuen Bestimmungen auswirken".[8]
Die Quellen widerspiegeln ein bemerkenswertes Gespür für die neuralgischen Punkte des Neuen Kurses. Man begrüßte die Erleichterungen wirtschaftlicher Art, würdigte das Einlenken der SED hinsichtlich des Besuchs der Kinder der Mittelschichten von Oberschulen und Universitäten sowie die den Maßnahmen implizite Ankündigung, die Stigmatisierung der Bürgerlichen und der Bauern als Ausbeuter und potentielle Feinde der DDR würde korrigiert. Zugleich aber fiel Liberaldemokraten auf, dass in den SED- und Regierungsverlautbarungen von verfassungsmäßigen Rechten und Freiheiten, der Rolle der Volkskammer, von Gleichberechtigung aller Parteien und überhaupt von Demokratie nicht die Rede war, auch nicht davon, dass die für die Fehler verantwortlichen Politiker zur Rechenschaft gezogen würden. Daraus resultierte eine deutlich erkennbare Unsicherheit, wie der Neue Kurs insgesamt zu bewerten sei: War er ein bloß taktisches Manöver oder leitete er die Revision der Gesellschaftsstrategie ein? Die Politik der Ausschaltung der Mittelschichten und der Einschränkung der bäuerlichen Wirtschaften hatte seit Sommer 1952 einen Namen: Aufbau des Sozialismus nach dem Modell der Sowjetunion und gemäß den Lehren Stalins. Nun war Stalin gestorben und die SED verkündete drei Monate danach einen Kurs, der die Politik gegen das Bürgertum und die Bauern für einen Fehler erklärte. Unvermeidlich stellte sich die Frage, ob die SED sich mit dem Neuen Kurs vom Aufbau des Sozialismus verabschiedete oder nicht. In der LDPD interpretierte man den Politikwechsel dahingehend, "dass dem Aufbau des Sozialismus vorläufig Einhalt geboten ist".[9] Dabei wusste man aus Erfahrung, dass Grundsatzentscheidungen der SED auf sowjetische Weisung zurückzuführen waren. Die SED beschloss, was Moskau wollte. Und Moskau wolle, so hofften Liberaldemokraten, sich mit dem Westen arrangieren. Indizien machte man fest an Stalins Verhandlungsangebot 1952, dem Waffenstillstand in Korea und die erkennbare Zurücknahme der Angriffe auf den Westen. Der Neue Kurs passte in die erhoffte Neuausrichtung der sowjetischen Politik. Wenn es denn so war, und wenn diese neue Politik durchschlagen sollte, dann, so die Erwartung, eröffnete sich die Aussicht auf Wiedervereinigung.
Konkrete Vorschläge, die in Versammlungen und Vorstandssitzungen zwischen dem 9. und 16./17. Juni diskutiert und teilweise auch in Arbeitspapieren bzw. Beschlüssen festgehalten wurden, zielten in der Regel darauf, die angekündigten Maßnahmen zugunsten der Mittelschichten zu bekräftigen, zu ergänzen und zu erweitern sowie Stetigkeit anzumahnen. In diesem Sinne äußerten sich zahlreiche Kreisvorstände, Arbeitskreise und Ortsgruppen der LDPD. Derartige Einlassungen waren Grundlage und Ausgangspunkt von Stellungnahmen zum Neuen Kurs. Stellvertretend für andere seien die umfangreichen, teilweise bis ins Detail gehenden Vorschläge des Kreisvorstandes Sangerhausen angeführt.[10] Sie sind deshalb von besonderem Interesse, weil ihm Zuarbeiten der Handwerkskammer, aus bäuerlichen Kreisen und aus dem Groß- und Einzelhandel zugrunde lagen. Die Sangerhausener LDPD forderte die Gleichstellung der privaten Unternehmen mit volkseigenen Betrieben, des privaten Großhandels mit den staatlichen Handelszentralen und des privaten Einzelhandels mit den Konsumgenossenschaften und der staatlichen Handelsorganisation (HO). Für das Handwerk verlangte man die Aufhebung sämtlicher restriktiven Maßnahmen, insbesondere den Wegfall der steuerlichen Benachteiligung der Handwerksbetriebe mit mehr als 5 Beschäftigten, sowie die Überprüfung der gegen Handwerker verhängten Strafen wegen angeblicher Steuervergehen und anderer Wirtschaftsverbrechen.
Forderungen aus der Landwirtschaft, die sich die Sangerhausener LDPD zueigen machte, lauteten zusammengefasst: Verzicht auf den verpflichtenden Anbauplan verbunden mit der Zielstellung, zunächst "von der Planwirtschaft zur geplanten Wirtschaft überzugehen" und später eine "gesunde und freie Marktwirtschaft und sich frei bildende Preise" einzuführen. Auch der Viehhalteplan sollte künftig als Richtplan "und nicht als verbindlich" angelegt werden. Man verwahrte sich gegen die diffamierende Bezeichnung "großbäuerlicher Betrieb", die Politik habe vielmehr "den Bauern als schaffenden Stand zu sehen". Diese bäuerlichen Forderungen berührten Grundsatzfragen der SED-Politik. Sie gingen über den Neuen Kurs hinaus. Man war sich dessen bewusst und baut eine Sicherung ein: "Die Entwicklung zur Großflächenwirtschaft kann jederzeit betrieben werden"; Betriebe, "die sich freiwillig in der LPG zusammenschließen wollen, sollen das tun".
Die auf Handwerk, Handel und private Unternehmerschaft abgestellten Überlegungen widerspiegelten die Absicht, das vom Neuen Kurs abgesteckte Terrain gleichsam in Besitz zu nehmen und auszuloten, welche Möglichkeiten sich eröffneten. Die weitestgehenden Vorstellung liefen darauf hinaus, jene "gemischte Wirtschaft" zu gestalten, die 1947/48 in Umrissen existierte: Keine Konzerne, aber auch keine Dominanz privilegierter landeseigener (d.h. staatlicher) Unternehmen. Forderungen nach Privatisierung sind nicht nachweisbar. Wenn von Marktwirtschaft die Rede war, dann in diesem Kontext. Die Mittelschichten wollten Sicherheit und eine Perspektive für sich. Die SED-Argumentationslinie, der Neue Kurs sei Beweis ihrer politischen Weitsicht, wurde in der LDPD zurückgewiesen. Man bewertete ihn als Ausdruck politischen Scheiterns infolge gravierender Fehler. Der mit der Verkündung des Neuen Kurses wiederholte und bekräftigte Führungsanspruch der SED wurde entschieden zurückgewiesen. Mehr noch, man entzog der Regierung insofern das Vertrauen, als man ihr die Fähigkeit absprach, den Neuen Kurs ohne Vorbehalt und ohne neue Fehler zu realisieren. Das Misstrauen in die SED und die Regierung implizierte den Wunsch nach Wahlen und Herstellung verfassungsmäßiger Zustände. Forderungen nach sofortiger Wiedervereinigung und gesamtdeutschen Wahlen sind für die Tage vom 9.16./17. Juni nicht verifizierbar.
Als eine antifaschistische Partei, die zwar betont Interessen des Bürgertums vertrat, verstand sich die LDPD als Partei für das ganze Volk. In ihren Vorschlägen, Stellungnahmen und kritischen Anmerkungen zum Neuen Kurs äußerten sich Vorstände und einzelne Mitglieder der LDPD allerdings am deutlichsten wahrnehmbar als Vertreter einer "Partei für die Mittelschichten". Die Schwierigkeiten der Unternehmer, Handwerker usw. einerseits und deren Erwartungen andererseits fanden in umfangreichen Forderungen und konzeptionellen Vorstellungen wie die DDR-Wirtschaft gestaltet werden müsste, ihren Niederschlag. An vergleichbaren Überlegungen zur Bildungs-, Kultur-, Wissenschafts-, Kommunal- und Rechtspolitik mangelte es. Die einzige Forderung, die auf den Anspruch Volkspartei sein zu wollen hinwies, war die Wiederbelebung der Betriebsgruppen der LDPD, die auf Verlangen der SED von der Parteileitung seit 1951 aufgelöst wurden. Vor diesem Hintergrund war die Eisenacher Programm-Sehnsucht sowohl Ausdruck selbstkritischer Besinnung auf eigenes Versagen als auch ein diffuser Appell in Richtung Westdeutschland, die LDPD als potentiellen Partner zur Kenntnis zu nehmen.
[1] Kreisvorstand der LDPD Sangerhausen (im Folgenden: KV und der jeweilige Ort), 12.06.1953, Archiv des Deutschen Liberalismus (ADL, Bestand LDPD), DVIII d 25406a/2 (Die im Folgenden aufgeführten Signaturen beziehen sich auf den hier genannten Archivstandort).
[2] Politischer Ausschuss des LDPD-Kreisvorstandes Bautzen (im Folgenden: PA des KV und der jeweilige Ort), 16.06.1953, DV i 12621a.
[3] PA des KV Glauchau, 11.06.1953, DV i 13217a.
[4] KV Quedlinburg, 15.06.1953, DVIII d 25430a.
[5] KV Halle, Arbeitstagung, 15.06.1953, DV i 25379a.
[6] Bezirksvorstand der LDPD Suhl (im Folgenden: BV und der jeweilige Ort), 17.06.1953, DV e 14566a.
[7] KV Glauchau, 17.06.1953, DV i 13217a.
[8] PA des KV Bautzen, 16.06.1953, DV i 12621a.
[9] KV Halle, Arbeitstagung, 15.06.1953, DV i 25379a.
[10] KV Sangerhausen, 17.06.1953, D i 18561a.