Von: Günther Glaser
Reihe "hefte zur ddr-geschichte", Heft 111, 2007, A5, 41 S., 3 Euro plus Versand
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Reihe "hefte zur ddr-geschichte", Heft 111, 2007, A5, 41 S., 3 Euro plus Versand
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INHALT
Vorbemerkungen
Ein spezieller Befehl des Verteidigungsministers
Wofür standen sie, die eingesetzt werden sollten?
Entsetzlich! Schwierig, aber Lektion gelernt
Neuerer vor Ort mit Zivilcourage
Der Dammbruch. Unter Parlaments- und Regierungskontrolle
Schlussbemerkungen
Anhang
Soldaten mit brennenden Kerzen
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LESEPROBE
Aus den Vorbemerkungen des Autors:
"Mehr als in anderen Zweigen der Geschichtswissenschaft ist es in der Zeitgeschichte möglich und notwendig, Zeitzeugenschaft und Ergebnis wissenschaftlicher Forschung in Beziehung zu setzen.
Das gilt nicht zuletzt für das Thema, das hier zu behandeln ist. Dazu kommt, dass nicht allein im Westen, sondern auch im Osten Deutschlands vieles über die Nationale Volksarmee (NVA) der DDR 1989/90 nicht bekannt geworden ist. Zudem erschließen Archive nach wie vor weitere Unterlagen.
Über die dramatischen Vorgänge in der DDR in jener Zeit liegt eine Fülle von Publikationen vor. Im Kontext damit untersuchen Historiker, Politik- und Militärwissenschaftler die Rolle der NVA und der Grenztruppen der DDR. Dabei wird jedoch auf die Geschehnisse auf der unteren und der mittleren Ebene der Armee, eigens auf das Denken und das Handeln ihrer Angehörigen, kaum eingegangen - gleich gar nicht in dem Zeitraum von September bis November 1989, in dem Fulminantes geschah. Im Folgenden soll dazu beigetragen werden, diese Lücke zu schließen ..."
Ein spezieller Befehl des Verteidigungsministers
Die SED-Führung ließ aus Anlass des 40. Jahrestages der DDR-Gründung Jubelfeiern vorbereiten. Aber großen Teilen der Bevölkerung war nicht danach zu Mute. Im Gegenteil: Zu diesem Zeitpunkt war in der DDR wie auch anderswo in Osteuropa nach längerem Vorlauf ein explosives Gemisch von Unzufriedenheit, Resignation, Handlungswillen, Kritik und Aufkündigung von Loyalitäten entstanden. Spektakulärster Ausdruck des Aufbrechens einer offenen politischen Krise in und um die DDR war die Abkehr vorzugsweise junger Leute, die zunächst mit einer anschwellenden Flut von Ausreiseanträgen und dann via der bundesdeutschen Botschaften in Budapest, Prag, Warschau sowie der Ständigen Vertretung in Berlin mit ihrem Staat und ihrer Gesellschaft brachen.[1]
Während die sowjetische Führung unter Michael Gorbatschow die Krise des existierenden Sozialismus erkannte und in der UdSSR mit Perestroika und Glasnost umzusteuern versuchte, lehnte die SED-Spitze unter Erich Honecker diese Politik ab. Sie diffamierte jedes Andersdenken und -handeln als konterrevolutionär und Produkt bundesdeutscher Propaganda. In der breiten Ablehnung ihrer Politik und in den gebieterischen Forderungen nach Veränderungen sah sie eine Gefahr für ihre politische Linie und eine Bedrohung ihrer Macht. Davon geleitet verlangte sie am 22. September 1989 von den 1. Sekretären der Bezirksleitungen der SED unter Berufung auf eine vorausgegangene Beratung, dass diese feindlichen Aktionen im Keime erstickt werden[2]. Außerdem hielt sie es für angebracht, gegebenenfalls auch Kräfte der NVA gegen opponierende Kräfte einzusetzen. Dazu war sie offensichtlich bereits vor den schweren Zusammenstößen in Dresden und den Massendemonstrationen in Leipzig, worauf später näher eingegangen wird, entschlossen. Offensichtlich rechnete sie damit, dass die andauernde Unzufriedenheit und die steigenden Proteste zu einer landesweiten Spannungssituation führen könnten.
Die Direktiven der Parteiführung wurden in der Armee auf der Basis des Befehls 105/89 des Ministers für Nationale Verteidigung der DDR, Armeegeneral Heinz Keßler, Mitglied des Politbüros des ZK der SED, vom 27. September umgesetzt. Darin dekretierte der Minister nicht allein die zu Staatsfeiertagen übliche höhere Führungsbereitschaft, sondern sich auf gültige Direktiven beziehend befahl er seinen Stellvertretern und dem Stadtkommandanten der DDR-Hauptstadt Berlin, die Maßnahmen zum Übergang zu einer höheren Stufe der Gefechtsbereitschaft unter Berücksichtigung der kommandierten Kräfte und Mittel sowie der Urlauber zu gewährleisten. Die Diensthabenden Systeme der Teilstreitkräfte waren entsprechend den dafür geltenden militärischen Bestimmungen im vollen Umfang aufrecht zu erhalten. Für die NVA wurden für den Zeitraum vom 6.10.1989, 6.00 Uhr, bis zum 9.10.1989, 6.00 Uhr, Sicherheitsmaßnahmen festgelegt. Allseitig waren die zum Einsatz kommenden Angehörigen der Streitkräfte auf ihren Dienst vorzubereiten.[3]
Parks, Waffenkammern, Munitions- und Tanklager waren besonders zu sichern. In der Militärmedizinischen Akademie und im Lazarett Potsdam wa-ren zusätzliche Bettenkapazitäten bereit zu halten. Diese bei militärischen Übungen übliche Maßnahme bekam angesichts der politischen Lage eine andere Bedeutung: Man kalkulierte blutige Auseinandersetzungen mit Bürgerinnen und Bürgern ein. Zudem befahl der Minister, folgende Kräfte vorzubereiten und in Bereitschaft zu halten: ein Einsatzkommando des Wachregiments 2 in Strausberg mit 200 Mann, ein Mot.-Schützenbataillon des Mot.-Schützenregiments 2 in Stahnsdorf in Stärke von 350 Mann, eine Fallschirmjägerkompanie des Luftsturmregiments 40 in Lehnin, eine Hubschrauberstaffel, 6 Hubschrauber Mi-8T, mit Kräften und Mitteln der flugtechnischen Sicherstellung vom Hubschraubergeschwader 34 auf dem Flugplatz Brandenburg/Briest in der Bereitschaftsstufe 3 und ein Einsatzkommando von 300 Mann des Wachregiments Berlin. Die Kommandeure der Verbände und Truppenteile hatten bei Notwendigkeit weitere Maßnahmen zu treffen.
Diese Kräfte, bald meist als Hundertschaften bezeichnet, waren umstrukturierte, armeeuntypische, aber weiterhin militärische Formationen. Sie hatten Waffen und Munition mitzuführen, wobei die Frage des Schusswaffengebrauchs offen gelassen wurde. Dieser Einsatz war dem Befehl des Ministers vorbehalten.
Zur Gewährleistung der Führungsbereitschaft in den verschiedenen Bereichen des Ministeriums, in den Kommandos der Teilstreitkräfte und den Kommandos der Militärbezirke mussten die Chefs außerhalb der Dienstzeit in ihren Wohnungen ständig erreichbar sein. Analoges galt für die Verbände und Truppenteile der Teilstreitkräfte.
Weiter war in der Anlage 1 zum Befehl festgelegt, Vorkommnisse auch dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS) zu melden. Damit wurde die Meldepflicht in der Armee auf die Staatssicherheit ausgedehnt, waren NVA-Angehörige zu einem Dienst für den Überwachungs- und Unterdrückungsapparat verpflichtet. Außerdem verfügte der Minister, eine verstärkte Grenzsicherung vorzubereiten, während der kein pionier- und signaltechnischer Ausbau an der Staatsgrenze der DDR zu Berlin-West durchgeführt werden durfte,[4] und weitere Maßnahmen für die Grenztruppen der DDR, auf die hier nicht einzugehen ist.
Für eine solche Verwendung waren die Führungsorgane der Armee und die Soldaten weder bestimmt noch ausgerüstet und ausgebildet. Sie verstieß gegen die Verfassung der DDR, die der NVA und den anderen Organen der Landesverteidigung nichts anderes als den Schutz gegen alle Angriffe von außen[5] übertrug. Durch den Befehl wurde die NVA in die Ausübung des staatlichen Gewaltmonopols im Innern einbezogen, die Aufgabentrennung zwischen Armee, Polizei und Staatssicherheit zeitweise aufgehoben. Mit den Direktiven und dem Befehl griff die DDR-Führung nach dem 17./18. Juni 1953 und dem 13. August 1961 ein weiteres Mal mit militärpolitischen und militärischen Maßnahmen in eine akute innenpolitische Lage ein. Es ist bemerkenswert, dass der Befehl nur einem kleinen Personenkreis bekannt gegeben wurde.[6]
[1] Bollinger, Stefan: Die finale Krise der DDR. Ein Problemaufriss. In: Ders.: Das letzte Jahr der DDR. Zwischen Revolution und Selbstaufgabe, Berlin 2004, S. 12.
[2] Die Bundesbeauftragte für die Unterlagen der Staatssicherheit der ehem. DDR (BStU), Zentralarchiv (ZA), Sekretariat des Ministers, 664, Bl. 61.
[3] Siehe ... auf die 'andere' Seite übergehen. NVA-Angehörige in Krise und revolutionärem Umbruch der DDR, Studie mit Dokumenten (22. September17./18. November), Berlin 2005 (im Folgenden: Studie), S. 3437. Befehl hier erstmals vollständig.
[4] Siehe ebd., S. 35.
[5] Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin 1974, S. 13.
[6] Siehe Studie, S. 55.