Von: Helmut Müller-Enbergs
Reihe "hefte zur ddr-geschichte", Heft 122, 2010, 56 S., A5, 3 Euro plus Versand
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LESEPROBE
Das Institut für wirtschaftswissenschaftliche Forschung (IWF)
Mit dem Institut für wirtschaftswissenschaftliche Forschung (IWF)[1] schuf die sowjetische Auslandsaufklärung, damals als Informationskomitee (russ. Komitet Informazii, KI) bezeichnet, im Juli 1951 in der DDR eine deutsche Filiale, in der die bisherigen nachrichtendienstlichen Aktivitäten der SED gebündelt wurden. Die eher klandestin, parallel zum Ministerium für Staatssicherheit operierende Diensteinheit wurde wesentlich bis Herbst 1953 aufgebaut, wobei neben wenigen Altkommunisten besonders Jungerwachsene der HJ-Generation, teils ehemalige Soldaten, zum Zuge kamen, die erfolgreich sowjetisch-stali-nistisch sozialisiert worden waren. Sie sollten in der Bundesrepublik Deutschland und West-Berlin vor allem politische, wissenschaftlich-technische und wirtschaftliche Informationen beschaffen. Dazu übernahm das IWF die rund einhundert illegalen Residenturen und Quellen der KPD als nachrichtendienstliches Startkapital. Die verantwortlichen Führungsoffiziere, in der Regel Westemigranten, wurden überwiegend bis Herbst 1952 verdrängt.
Charakteristisch für das IWF ist ein schneller personeller Aufbau, eine hohe Fluktuation unter den etwa 40 Mitarbeitern[2], wiederholte Umstrukturierungen und Neujustierungen von Schwerpunkten operativer Arbeit als Folge politischer Richtungswechsel der KPdSU- bzw. SED-Führung. In den zwei Jahren seiner Existenz gab es mit Anton Ackermann, Richard Stahlmann und Markus Wolf nacheinander drei Leiter. Die sowjetischen Berater wechselten wie die zuständigen politischen Anleiter aus der SED-Führung. Auf Anton Ackermann, der gewissermaßen in Personalunion fungierte, folgten Walter Ulbricht und Wilhelm Zaisser. Nach Zaissers Ablösung im Juni 1953 lenkte vermutlich abermals Walter Ulbricht das IWF. Offenkundig war das IWF stärker mit internen Fragen als mit Nachrichtendienstarbeit beschäftigt. Der sowjetische Chefberater Eugen meinte zum Stand des IWF im Februar 1953, dass es "erst die ersten Stufen der Nachrichtenarbeit erklommen" habe.[3] Es zeigte sich, dass einzelne Quellen des inoffiziellen Netzes von westlichen Nachrichtendiensten überworben waren. Im Falle des Hamburgers "Mertens" führte das auf Verlangen des IWF zu dessen Verhaftung durch das MfS.[4] In dem des Hamburger Journalisten "Kornbrenner" saß man einer Totalfälschung eines vermeintlichen Neuentwurfs des Generalvertrages, eines neuen Besatzungsstatuts in der Bundesrepublik, auf. Nach derartigen Misserfolgen wurde die Arbeit mit diesem Netz eingestellt.[5] Kaum ein Jahr nach seiner Bildung begann das IWF einen operativen Neustart. Im April 1953 lief mit Gotthold Krauss, der von Anbeginn mit dem amerikanischen Nachrichtendienst kooperiert haben soll, ein Abteilungsleiter des IWF nach West-Berlin über.[6] Dieser Übertritt zwang zu einer neuerlichen Reorganisation des IWF.
Im ersten Jahr des IWF dominierten mit der SED bzw. der KPD politisch verbundene Quellen und Residenten. Nach den Erfahrungen mit der Infiltration des Netzes durch westliche Dienste verzichtete das IWF in der operativen Arbeit weitgehend auf Quellen aus der KPD. Nun begann man mit der Ausbildung von Residenten, die in die Bundesrepublik übergesiedelt wurden und dort selbständig Quellen rekrutieren sollten[7] – einer Methodik, von der später Abstand genommen wurde.
Diese internen Krisen und das sowjetische Bestreben, im Juni 1953 polizeiliche, geheimpolizeiliche und nachrichtendienstliche Aktivitäten im Ministerium des Innern zu bündeln, führten im September 1953 zur Eingliederung des IWF in die gerade zum Staatsekretariat für Staatssicherheit im Ministerium des Innern umgruppierte Staatssicherheit als Hauptabteilung XV.
Im Selbstverständnis der HV A erfolgte die Bildung des IWF im Auftrag der SED-Führung am 16. August 1951 (anders: 1. September 1951) in einem konspirativen Objekt in Berlin-Bohnsdorf in Anwesenheit von 13 Personen, darunter vier sowjetische Berater.[8] Dem Kreis deutscher "Altkommunisten" entstammten der 45-jährige Anton Ackermann, der 41-jährige Bruno Haid, der 51-jährige Robert Korb, Walter Muth und der 60-jährige Richard Stahlmann, einer jüngeren Generation der 35-jährige Gerhard Heidenreich, der 32-jährige Herbert Hentschke, der 28-jährige Markus Wolf, der 40-jährige Heinrich Weiberg und Willi Wöhl. Zur Gründergeneration des IWF gehörten schließlich sechs "Altkommunisten" – die jeweils 54-jährigen Gustav Szinda und Richard Großkopf stießen erst später hinzu.[9]
Tatsächlich fiel die Entscheidung über die Bildung des IWF am 19. Juli 1951 in Moskau im Informationskomitee, wie die zeitweise zusammengelegte Organisation der Aufklärung des MGB und der GRU bezeichnet wurde. Sie trägt den Titel "O sosdanii Predstawitelstwa Kollegii pri Wneschnepolititschesko Raswedke GDR".[10] Die direkte Anleitung wurde dem sowjetischen "Berater" Andrej G. Graur ("Aikimov") übertragen. Der suchte bereits am Folgetag in Berlin den SED-Vorsitzenden und DDR-Präsidenten Wilhelm Pieck auf und unterrichtete ihn von diesem Beschluss.[11] Offenbar tat Pieck diesen Hinweis auf einer Sitzung des Ministerrates kund, der seinerseits der Bildung des IWF einen formalen Rahmen gab, ohne diese Entscheidung jedoch zu veröffentlichen.[12]
Das IWF war keinesfalls als "Außenpolitischer Nachrichtendienst" (APN) dem Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten unterstellt, wie vielfach angenommen wird.[13] An dieser, der westlichen Publizistik suggerierten Fehlinformation, hielten ehemals leitende Mitarbeiter der HV A nach 1989 aus rentenpolitischen Erwägungen gern fest. Geleistete Dienstzeiten würden so anders und vorteilhafter gewertet, als Tätigkeiten für das MfS. Das IWF stand wesentlich unter sowjetischer Anleitung, stimmte sich jedoch mit dem Generalsekretär des Zentralkomitees der SED, Walter Ulbricht, ab. Die Bezeichnung APN ist erst ab Herbst 1953 und bis September 1956 nachweisbar.[14]
Äußere, aus internationalen oder deutsch-deutschen Konstellationen resultierende Gründe, einen ostdeutschen Auslandsnachrichtendienst neben dem Ministerium für Staatssicherheit zu schaffen, sind eher auszuschließen. Bedeutender war der Zugriff auf die Informationen und Quellen der unter einer Verbotsdrohung stehenden KPD, die von den illegalen Residenturen der Westabteilung der SED – oftmals "Parteiaufklärung" genannt – in der Bundesrepublik beschafft oder geführt wurden. Die Berliner Residenturen von MGB und KI hatten darum konkurriert.[15] Im Ringen um Machteinfluss an der SED-Spitze profitierte Generalsekretär Walter Ulbricht von der Reorganisation, denn das IWF übernahm die "Parteiaufklärung" und entzog sie damit dem Zugriff eines Konkurrenten, dem Leiter der Westabteilung, Franz Dahlem. Schließlich konnte durch die direkte sowjetische Kontrolle des IWF dessen Arbeit professionalisiert und gesteuert, der deutsch-deutsche Sprachvorteil genutzt werden. Der sowjetische Dienst erhielt die operativ beschafften Informationen vollständig, trug weder die materiellen Kosten für die operative Arbeit (die fielen dem DDR-Ministerrat zu) noch das Risiko bei Fehlschlägen, die verantwortete die DDR.[16]
[1] Vgl. BStU, MfS, KS II Nr. 885/88, Bl. 316.
[2] Vgl. Großmann, Werner: Bonn im Blick. Die DDR-Aufklärung aus der Sicht ihres letzten Chefs. Berlin 2007, S. 22. Anders Wolfgang Wehner, der von 200 Mitarbeitern Anfang 1953 berichtet. Vgl. Ders.: Geheim. Ein Dokumentarbericht über die deutschen Geheimdienste. München 1960, S. 228.
[3] [Gotthold Krauss:] Sitzung des IWF am 2.2.1953. in. Steury, Donald P.: On the Front Lines of the Cold War: Documents on the Intelligence War in Berlin, 1946 to 1961. Washington 1999, S. 288–295, hier 294.
[4] Vgl. BStU, MfS, HA II/6 1158, Bl. 41.
[5] Vgl. Leide, Henry: NS-Verbrecher und Staatssicherheit. Göttingen 2005, S. 280 f.
[6] Vgl. Tiedge, Hansjoachim: Der Überläufer. Eine Lebensgeschichte. Berlin 1998, S. 410.
[7] Vgl. Krauss: Sitzung des IWF am 2.2.1953 (Anm. 3), S. 288.
[8] Vgl. Wolf, Markus: Spionagechef im geheimen Krieg. Erinnerungen. Düsseldorf 1997, S. 60. Anders und unzutreffend Wolfgang Wehner, der eine Initiative Walter Ulbrichts vom 1.7.1951 angibt; hingegen dürfte der 1.12.1951 als operativer Arbeitsbeginn relativ realistisch sein. vgl. Ders.: Geheim (Anm. 2), S. 227 f.
[9] Vgl. Wolf, Markus: Die Kunst der Verstellung. Dokumente, Gespräche, Interviews. Berlin 1998, S. 66.
[10] Vgl. Richelson, Jeffrey T.: A Century of Spies: Intelligence in the Twentieth Century. Oxford 1995, S. 236–238; Dallin, David J.: Soviet Espionage. New Haven 1955, S. 343; Wehner, Wolfgang: Geheim. Ein Dokumentarbericht über die deutschen Geheimdienste. Stuttgart 1960, S. 227; Bailey, George; Kondraschow, Sergej A.; Murphy, David E.: Die unsichtbare Front. Der Krieg der Geheimdienste. Berlin 1997, S. 535.
[11] Zu Graur vgl. Schafranek, Hans: Die Anfänge der Operation "Pickaxe" 1941/42. In: Journal for Intelligence, Propaganda and Security Studies 2(2008)1, S. 7–22, hier 11.
[12] Vgl. Wegmann, Bodo: Die Entstehung und Entwicklung des Staatssicherheitsdienstes der DDR, 1945–1955. Berlin 1996, S. 22; Ders.: Zwischen Normannenstraße und Camp Nikolaus. Die Entstehung deutscher Nachrichtendienste nach 1945. Berlin 1999, S. 29; Ders.: Entstehung und Vorläufer des Staatssicherheitsdienstes der DDR. Strukturanalytische Aspekte. Berlin 2000, S. 34.
[13] Vgl. Rühle, Jürgen; Holzweißig, Gunter: 13. August 1961. Die Mauer von Berlin. Berlin 1981, S. 94; Bergh, Hendrik van: ABC der Spione. Eine illustrierte Geschichte der Spionage in der Bundesrepublik Deutschland seit 1945. Pfaffenhofen 1963, S. 214.
[14] Vgl. BStU, MfS, KS II Nr. 346/77, Bl. 179; ebd., KS II 597/88, Bl. 40; ebd., KS 19650/90, Bl. 46 f.; ebd. KS II Nr. 885/88, Bl. 309.
[15] Vgl. Bailey: Front (Anm. 10), S. 180.
[16] Teilweise bestätigt in Wolf: Spionagechef (Anm. 8), S. 60.