Von: Stefan Bollinger, Lothar Schröder, Harald Neubert, Erich Wulff, Gottfried Oy
Reihe "Pankower Vorträge", Heft 149, 2010, A5, 56 S., Preis 3 Euro plus Versand
2007/2008 haben sich "Helle Panke" Berlin e.V., Rosa-Luxemburg-Stiftung Brandenburg e.V. und die RLS in einer Reihe von Abendveranstaltungen und Konferenzen dem Thema Zäsur '68 – Langzeitwirkungen einer "Weltrevolution" gewidmet. Die Veranstalter gingen bei der Wahl des Themas davon aus, dass die 1968 eingeläutete Weltrevolution 1989/91 nur bedingt beendet worden ist. Sie umfasst vielmehr eine ganze Epoche sozialer Revolutionen, deren Resultat hoffentlich noch nicht feststeht.
Die in den Beratungen vorgetragenen Beiträge wurden von den Referenten freundlicherweise für den Druck bearbeitet und werden in vier Heften der Reihe "Pankower Vorträge" hiermit der öffentlichen Diskussion unterbreitet. Die Herausgeber bedanken sich bei den Autoren und beim Leiter dieses Projektes Dr. Stefan Bollinger für die redaktionellen Arbeiten.
Inhalt des Heftes 149:
Stefan Bollinger
1968 – Das Ende alter Welten und die Chancen für Neuorientierungen in Ost und West
Lothar Schröter
Das Jahr 1968 – ein Schlüsseljahr im Kalten Krieg
Harald Neubert
Die kommunistische Bewegung in den 1960er Jahren
Erich Wulff
Vietnam als Spielball der Großmächte
Gottfried Oy
Selbstorganisation
Ein nicht eingelöstes Emanzipationsversprechen von Achtundsechzig?
Autoren der weiteren 3 Hefte in der Reihe - Zäsur ´68 - Langzeitwirkungen einer "Weltrevolution"
Heft 150: Karl-Heinz Gräfe, Jörg Roesler, Andreas Malycha, Jiří Hudeček
Heft 151: Peter Birke, Peter O. Chotjewitz, Kristina Schulz, Gerd-Rainer Horn, Reiner Tosstorff, Arno Klönne
Heft 152: Stefan Bollinger, Michael Klundt, Wolfgang Fritz Haug, Georg Fülberth
Aus dm Eröffnungsbeitrag
Stefan Bollinger
1968 – Das Ende alter Welten und die Chancen für Neuorientierungen in Ost und West
1. Gewinner und Verlierer – die wundersam gemischten Karten
"Willkommen, liebe Trauergemeinde", so könnten die Hinterbliebenen der 68er-Bewegung wie ihre einstigen und neuen Sympathisanten begrüßt werden, wenn es um das Thema Emanzipationsbewegungen und ihre Folgen geht. Jüngst konnte man in einer großen Berliner Zeitung als Empfehlung an die Ostdeutschen nach dem Scheitern der DDR und dem Zusammenbruch ihrer Ideale lesen: "Utopien haben eine ungeheure stabilisierende psychologische Funktion. Wegbrechende Utopien sind also Trauerfälle ... Wenn ein Volk gesund sein will, muss es trauern dürfen. Aufforderungen wie Nachvornschauen! helfen nicht." So können eine Gesellschaft und ihre Intellektuellen auch aus der Geschichte aussteigen. Das West-Pendant derartiger Empfehlungen fällt noch schärfer aus und richtet sich unverblümt gegen den totalitär-terroristischen Anspruch von Gesellschaftsutopien. Therapeut Martin Altmeyer beklagt in der Kommune, dass "der 68er-Bewegung die intellektuelle und moralische Kraft (fehlte): die von der Geschichte gründlich diskreditierte Idee vom Kommunismus als einem uneingelösten Gerechtigkeitsversprechen aufzugeben".
Ob Trauern hilft, ist zu bezweifeln. Nachdenken, kritisieren und sich selbst kritisieren, gar Folgerungen zu ziehen, ist für jene sinnvoller, denen es ernst ist für einen Wandel nicht allein ihrer Seelen sondern konkreter Gesellschaften. Nach vorn zu blicken, aus der Analyse des untergegangenen Realsozialismus wie der alten und hier der neuen sozialen Bewegungen Hoffnungen, Kenntnisse zu schöpfen und sie für künftige geistige, soziale gar politische Kämpfe anzuwenden, liegt vielleicht nicht nur Linken näher.
Wir wissen: Das Jahr '68 ist von Deutungen und Deutern okkupiert. Claus Leggewie spricht etwa von einem "von etwa 1963/64 bis 1972/73 verlaufenden Protestzyklus" der "auf ein einziges annus mirabilis [Wunderjahr – St.B.] – eine Verkürzung, die mit der außerordentlichen Verdichtung dramatischer Ereignisse zusammenhängt: Tet-Offensive des Vietcong, militante Straßenkämpfe von Berlin über Paris und Mexiko bis Chicago, 'Prager Frühling', chinesische Kulturrevolution" zusammengedrängt werde. Akteure und viele Beobachter haben Präferenzen: Die politische Kultur der westlichen Demokratien sei revolutioniert, die Abrechnung mit Faschismus und Autoritarismus vollzogen, meinen die einen. Dieser Triumph einer neuen politischen Kultur und Lebensweise, einer neuen Sexualität habe die Gesellschaft, ihre Ordnungen und Hierarchien zerstört, kritisieren andere. Damit kann selbst eine mittlerweile geschasste TV-Moderatorin Schlagzeilen machen. Allein der Verweis auf die Zerstörung der Traditionsfamilie lässt sie punkten und nur ihr unbedarftes Rückbesinnen auf die NS-Familienpolitik und nicht auf die "unverfänglichen" drei K von Kirche – Kinder – Küche als dem historischen Beruf der Frauen begrenzt noch breite Zustimmung.
Für den Osten wird anerkannt, dass manche der neuen Protestformen übernommen wurden, aber die große Abrechnung mit dem Stalinismus durch Moskaus Panzer verhindert wurde. Auch hier wird ein Bewusstseinsbruch ausgemacht, der an manchen Stellen aber erst Jahrzehnte später wirkte und sich dann generell gegen sozialistische Utopie und Wirklichkeit richtete. Es wird allein ein Reformgeist einer Opposition unterstellt, neben dem Reformversuche von oben kaum Platz haben.
An einem lässt der konservative Zeitgeist kaum zweifeln: Das Phänomen 1968 sei erledigt, die Akteure erwachsen und geläutert. Der Osten – in welchen Formen er einst auch begeisterte – ist als Staatssozialismus gescheitert; die West-Linke (auch die Neue) durch Deutschen Herbst, RAF, Rote Brigaden, Weathermen und vergleichbare Terroristen desavouiert. Bestenfalls taugt das Jahr '68 zur Erinnerung. Aber eigentlich kann es nur abschrecken und warnen, wohin auch im Westen Utopien führen – in Gewalt und Terror. Aus dem Osten kannte man es seit 1917 ja sowieso nicht anders.
Will kritische Geschichtsauseinandersetzung bei solchen Wertungen und Ab-Wertungen nicht stehen bleiben, muss sie gegenhalten. Also gilt es, die Erinnerung an dieses Jahr und seine Nah- wie Fernwirkungen zu historisieren. Sie muss Verklärungen und Dämonisierungen hinterfragen. Kann dieses Jahr für emanzipatorische Ansätze neu begutachtet werden? Muss genauer nach Ursachen und Wirkungen gesucht werden? Könnte sich herausstellen, dass die Beobachtungen über kulturelle Brüche, Jugendrevolte, Entkrampfung der westlichen Gesellschaften und Entsozialisierung der Linken nur die Oberfläche tiefergehender Prozesse waren, die ganz andere, zunächst neoliberale Antworten fanden und ihre emanzipatorische, sozialistische Antwort bislang noch nicht gefunden haben?