Von: Peter Alexander/Lutz Prieß, Bernd-Rainer Barth, Gerd Kaiser, Inge Münz-Koenen, Anja Schindler, Alexander Vatlin
Reihe "Pankower Vorträge", Heft 167, 2012, 64 S., A5, 3 Euro plus Versand
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Inhalt
Inge Münz-Koenen
Arbeit an der Erinnerung
Alexander Vatlin
Die "Deutsche Operation des NKWD" in Moskau und im Moskauer Gebiet 1936–1941
Erste Ergebnisse eines Forschungsprojektes
Anja Schindler/Inge Münz-Koenen
Zum Vortrag von Anatolij Razumov: "Wir wollen die Wahrheit wissen".
Die Arbeit an den Leningrader Gedenkbüchern
Anja Schindler
Emigrantenkinder zwischen Stalins Terror und Hitlers Krieg
Ein Foto und seine Geschichte
Gerd Kaiser
Unbekannte Schicksale deutscher Arbeiterfamilien in der UdSSR und nach ihrer Rückkehr
Peter Alexander/Lutz Prieß
Ein Beitrag zur Aufarbeitung der Schicksale deutscher Emigranten in der Sowjetunion während des "Großen Terrors" in den 1930er Jahren
Die Arbeitsgruppe "Opfer des Stalinismus am IfGA" 1989‒1992
Bernd-Rainer Barth
Rotbannerorden und Haftpsychiatrie – die Genfer GRU-Residentin Rachel Dübendorfer
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Das vorliegende Heft enthält für den Druck bearbeitete Beiträge der Konferenz Nach dem Schweigen. Erinnerungsorte, Gedenkbücher, Opferlisten des sowjetischen Exils, veranstaltet von Helle Panke e.V. – Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin in Kooperation mit der Berliner VVN/BdA e.V. und der Stiftung Haus der Demokratie und Menschenrechte e.V. am 28. und 29. Oktober 2011 im Haus der Demokratie und Menschenrechte in Berlin.
Die Veranstalter knüpfen mit dieser Publikation an den Ergebnissen der Konferenz Das verordnete Schweigen. Deutsche Antifaschisten im sowjetischen Exil vom 18./19. Juni 2010 in Berlin an, deren Beiträge im Heft 148 der Pankower Vorträge veröffentlicht wurden.
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LESEPROBE
Inge Münz-Koenen
Arbeit an der Erinnerung
Der Arbeitskreis zum Gedenken an die in der sowjetischen Emigration verfolgten, deportierten und ermordeten deutschen Antifaschisten beim Berliner VVN-BdA hat für diese Konferenz das Thema "Nach dem Schweigen" vorgeschlagen. Wir knüpfen damit an die Tagung vom Juni 2010 mit dem Titel "Das verordnete Schweigen. Deutsche Antifaschisten im sowjetischen Exil" an.[1] In diesem Jahr hat die Konferenz internationalen Charakter. Deutsche und russische HistorikerInnen werden in Vorträgen und Gesprächsrunden Auskunft geben über ihre Spurensuche nach den unbekannt Gebliebenen oder Vermissten in Häftlingsakten, Totenlisten, Geheimdienstdossiers und Friedhofsbüchern. Sie berichten von der detektivischen Kleinarbeit in den Archiven, von immer noch geheim gehaltenen Beständen, aber auch von erfolgreichen Unternehmungen, den Toten ihre Namen und den Namen ihre Biografien zurückzugeben.
"Nach dem Schweigen" heißt nicht, dass die Zeit des Schweigens vorbei wäre. Das Thema 'Arbeit an der Erinnerung' verlagert vielmehr den Akzent auf die Gegenwart. Neben der mühevollen Suche nach den vergessenen Opfern wird es auch um den "Stalinismus als System" gehen, d.h. um das Forschen nach Ursachen der Verbrechen in den diktatorischen Machtstrukturen und bei deren Vollstreckern. Die Erinnerungsarbeit fragt weiter danach, was die Zeit des Massenterrors in der Sowjetunion von den 1930er bis 1950er Jahren und die Strategien seines gezielten Verschweigens in den ehemals sozialistischen Ländern miteinander zu tun haben. Auch deshalb ist dies eine gemeinsame deutsch-russische Veranstaltung.
Ich werde in dieser Einführung zunächst den Arbeitskreis, der sich seit Oktober 2008 mit den Schicksalen von in der Sowjetunion verfolgten deutschen Antifaschisten beschäftigt, kurz vorstellen, in einem zweiten Punkt unseren besonderen Zugang zum Thema erläutern und schließlich über das aktuelle Projekt, eine Ausstellung zu Familienbiografien, informieren.
1. Zerrissene Lebenslinien
Es ist eine interessante Parallelität der Ereignisse, dass die Recherchen zum Film "Im Schatten des Gulag. Als Kinder unter Stalin geboren", der die Konferenz eröffnete, und die Gründung des Arbeitskreises fast zeitgleich verliefen. Wenn die beiden Autorinnen Loretta Walz und Annette Leo berichten, dass die Filminterviews mit den Kindern der Emigranten seit 2008 ihre erste Annäherung an das Thema waren, so ging es uns nicht wesentlich anders. So merkwürdig es klingen mag – als der Arbeitskreis vor drei Jahren entstand, wussten selbst seine Mitglieder wenig voneinander. Viele der ehemaligen Emigranten und ihre in der Sowjetunion geborenen bzw. aufgewachsenen Kinder sahen sich hier zum ersten Mal. Wir waren erstaunt, dass unsere Lebenslinien so viele Parallelen aufwiesen oder sich vor Jahrzehnten sogar gekreuzt hatten. So hatte ich z.B. meine Kinderfreundin Ruth Remmele aus dem Tomsker Emigrantenhaus nach unserer Ausreise 1947 jahrelang schmerzlich vermisst. Wir haben uns erst 2008 im Arbeitskreis wiedergefunden. Den Historiker Wladislaw Hedeler kannte ich zwar vom Lesen, wusste aber bis vor drei Jahren nicht, dass auch er zu den kindlichen Hausbewohnern in der Tomsker Uliza Dsershinskogo Nr. 17 gehört hatte.[2] Ich war anfangs verwundert, dass einige der inzwischen gealterten Emigranten"kinder" immer noch besser russisch als deutsch sprachen. Es gab Verständigungsschwierigkeiten, die nicht nur sprachlicher Natur waren. Schließlich war der Arbeitskreis selbst eher zufällig entstanden.[3]
Zunächst hatten wir weder ein definierbares Ziel noch ein inhaltliches Programm. Das änderte sich, als einige begannen, ihre Lebensgeschichten zu erzählen. Die thematische Reihe "Lebensläufe" war geboren. Die ersten Gesprächsabende befassten sich mit den Themen "Das Jahr 1937 in meinem Leben", "Meine Zeit im sowjetischen Kinderheim" sowie "Aus der Sowjetunion in ein fremdes Land. Meine ersten Jahre in der DDR". Alle Biografien hatten als Grunderlebnis einen existentiellen Bruch, alle waren Familiengeschichten. Einige Beispiele will ich, so kurz es geht, erwähnen, um den speziellen Umgang des Arbeitskreises mit der Erinnerung "nach dem Schweigen" zu verdeutlichen.
Bei Hanna Tomkins vom Jahrgang 1920 war die biografische Zäsur der Tod des Vaters im Butyrka-Gefängnis 1937 und die Erschießung der Mutter 1938, die das junge Mädchen allein in Moskau zurückbleiben ließ. Karl Fehler, geboren 1934, kam mit vier Jahren in ein NKWD-Erziehungsheim, die Mutter in ein sibirisches Lager, die Schwester ins Heim nach Iwanowo, der in Deutschland zurückgebliebene Vater wurde 1941 im KZ Sachsenhausen ermordet. Der sechsjährige Alex Glesel kommt 1941 in ein Kinderheim hinter dem Ural, zur gleichen Zeit baut seine Mutter im fast ausgehungerten Leningrad des Blockadewinters zusammen mit ihren russischen Kollegen Barrikaden gegen die deutschen Truppen. 1943 wird sie als "feindliche Deutsche" zur Zwangsarbeit unter Tage nach Karaganda deportiert. Hedwig Remmele ist mit ihrer jüngeren Tochter Ruth schwanger, als sie in den Moskauer Gefängnissen verzweifelt nach ihrem verhafteten Vater sucht und ihn nicht findet. Hermann Remmele aus der Führungsspitze der KPD wird ein Jahr später der "Teilnahme an einer konterrevolutionären Terrororganisation" beschuldigt, erschossen und auf dem Donskoje-Friedhof verscharrt. Das Leben seines Sohnes Helmut, Hedwigs Bruder, war ein Jahr zuvor auf gleiche Weise beendet worden. Hedwig wurde mit ihrer Mutter Anna und den beiden Töchtern Ilona und Ruth 1941 nach Tomsk verbannt. Die vier Remmeles wohnten in Tomsk in unserem Nebenzimmer, Wand an Wand mit meiner Mutter und meiner Großmutter, bis auch ich 1942 dazukam. Meine schwangere Mutter hatte sich im Sommer 1941 auf den langen Weg nach Sibirien machen müssen, während mein Vater Heinrich Koenen zur gleichen Zeit in Moskau eine Spezialausbildung zum illegalen Einsatz im faschistischen Deutschland begann. Er war der Fallschirmspringer, der Ende Oktober 1942 in der Wohnung von Ilse Stöbe auftauchte, um den Kontakt zur Berliner 'Roten Kapelle' herzustellen. Deren Mitglieder waren schon verhaftet, als ihn seine Auftraggeber von der sowjetischen Militäraufklärung auf den Weg schickten. In der Neuköllner Saalestraße 36 erwartete ihn bereits die Gestapo. Im Februar 1945, kurz vor der Befreiung durch die Rote Armee, wurde er im KZ Sachsenhausen erschossen. Meine Mutter, die erst 1947 in Deutschland von seinem Tod erfuhr, hat die traumatische Botschaft nur knapp überlebt. Ebenfalls 1947 starb in Tomsk Anna Remmele, Ruths Großmutter, an den Spätfolgen ihrer NKWD-Haft in der Lubjanka.
So unterschiedlich die Erfahrungen der Einzelnen waren, hier gab es ein nicht nur imaginäres Zentrum, in dem sich unsere Erinnerungen trafen. Es waren immer Geschichten vom Sterben und Überleben, und alle hatten sie eine gewaltsame Komponente. Die Gewalt über Leben und Tod ging vom Staat aus, noch dazu – für die Betroffenen unbegreiflich – in einem sozialistischen Land. Das System, für das die Bezeichnung "stalinistisch" nur eine unzureichende Vokabel ist, machte bei Morden nicht halt. Auch für die überlebenden Angehörigen gab es systemgemäße Lösungen: Für die Frauen der sogenannten Volksfeinde wurden Speziallager eingerichtet[4], auch für deren Kinder existierte ein eigens geschaffenes Regelwerk. Jedes Kind eines "Volksfeindes" galt als sozial gefährliches Element, für jedes legte der NKWD eine Ermittlungsakte an. Unterschieden nach Säuglings-, Vorschul- und Schulalter kamen sie in verschiedene Heime. Geschwister wurden absichtlich voneinander getrennt. Die Jüngeren konnten sich an ihre leiblichen Eltern bald nicht mehr erinnern, oft wurden sie zur Adoption freigegeben. Zur physischen kam die psychische Gewalt. Die "älteren" Kinder vom 6. Lebensjahr aufwärts erhielten kein Lebenszeichen von ihren Müttern und umgekehrt. Die Verwandten der Hingerichteten bekamen irreführende Angaben über deren Verbleib. Die Strafmaße wurden verschleiert, "zehn Jahre Gefängnis ohne Recht auf Korrespondenz" war die geläufige Bezeichnung für ein Todesurteil. Die Hingerichteten verscharrte man in Massengräbern, die Orte blieben jahrzehntelang geheim. All das macht die Arbeit an der Erinnerung bis heute so unendlich schwierig – es erfordert eine regelrechte Pfadfinderarbeit durch die Archive, bis schließlich die Namen der Toten gefunden und den Namendie Biografien zugeordnet werden können.
Zurück zu den Deutschen in der Sowjetunion der 1930er bis 1950er Jahre. Auf die Frage, was das Schwerste in ihrem Leben gewesen sei, sagen die Exilanten aller drei Generationen nahezu gleichlautend: Trennung von den Kindern bzw. von Vater und Mutter, Verlust der Lebenspartner und Geschwister, Ungewissheit über das Schicksal der Vermissten. Bedenkt man, dass sie nahezu alle ihre Angehörigen in Deutschland hatten zurücklassen müssen ohne die Gewissheit, sie wiederzusehen, so ist das Auseinanderreißen der kleinen Exilantenfamilien eine zusätzliche, kaum vorstellbare Qual.
[1] Siehe Pankower Vorträge Heft 148, hg.v. Helle Panke e.V. – Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin 2010.
[2] Siehe Wladislaw Hedeler: Ungeliebte Exilanten, in: Ebenda, S. 38–49.
[3] Siehe Inge Münz-Koenen: Die verschiedenen Arten des Schweigens, in: Ebenda, S. 6 f.
[4] Vgl. hierzu Wladislaw Hedeler: Sippenhaft im „Großen Terror“ 1937/38. Das Akmolinsker Lager für Ehefrauen von Vaterlandsverrätern „AL´IR“ und seine deutschen Häftlinge, in: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 2005, Berlin: Aufbau Verlag 2005, S. 81–101.