Von: Jens Ebert
Reihe "Pankower Vorträge", Heft 171, 2012, 60 S., A5, 3 Euro zzgl. Versand
--------------------------------------------------------------------------
Inhalt
„Und legt in diesen Brief hinein, in jedes Wort der Liebe Kraft …“ - Feldpostbriefe aus Stalingrad – Persönliche Botschaften und das gesellschaftliche Interesse an ihnen (Essay)
Ausgewählte Briefe
Gustav Baumanns
Helwin Breitkreuz
Karl Dercks
Helmut Gründling
Josef Kirberich
Hans Joachim Martius
Günther Merbold
Hans Michel
Paul Gerhard Möller
Manfred Gebhard Adalbert Wedigo Edler Herr und Freiherr von Plotho
Dr. Horst Rocholl
Herwig Schürl
Wernfried Senkel
Leo Stevens
Willi Werner
Paul Wortmann
Am 15. November 2012 fand eine Veranstaltung der "Hellen Panke" zum Thema Feldpostbriefe aus Stalingrad. Persönliche Botschaften und das gesellschaftliche Interesse an ihnen statt. Wir bedanken uns beim Referenten für die Möglichkeit zur Veröffentlichung seines erweiterten Vortragsmanuskriptes.
Autor: Jens Ebert - Dr. phil., Germanist und Historiker, Berlin, promovierte 1989 zu literarischen und authentischen Texten über die Schlacht um Stalingrad
-------------------------------------------------------------------------------------------------------
LESEPROBE
Die Schlacht um Stalingrad hat sich in das deutsche und europäische Bewusstsein tief als die Wende im Zweiten Weltkrieg eingegraben. Obwohl sich diese Sicht militärhistorisch so nicht untermauern lässt, wurde sie in unserer, alles verein-deutigenden Mediengesellschaft stets aufs Neue bestärkt. Selbstverständlich waren die Kämpfe an der Wolga im Winter 1942/43 von eminenter Bedeutung. Doch zumindest umstritten ist, ob nicht bereits ein Jahr vorher die Winterschlacht vor Moskau oder ein halbes Jahr später im Sommer 1943 die Schlacht im Kursker Bogen die Rolle als Wendepunkt des Krieges beanspruchen können. Was sich im kollektiven Bewusstsein und in den Kriegsbeschreibungen bzw. Kriegserzählungen festsetzt, ist jedoch seit Beginn unserer Geschichtsschreibung nicht immer durch „harte“ Fakten gedeckt. In der deutschen, sowjetischen und europäischen Wahrnehmung war Stalingrad die Wende des Krieges. Die Schlacht wurde dabei sogar zu einem modernen Mythos bzw. wurde zu einem gemacht.
Noch war der Waffenlärm an der Wolga nicht verstummt, da meldeten sich bereits Stimmen, die der Schlacht um Stalingrad eine herausragende Rolle im 20. Jahrhundert zuwiesen. Die Nachricht vom Sieg der Roten Armee breitete sich im Februar 1943 weltweit wie ein Lauffeuer aus. Dass die UdSSR frühzeitig und planmäßig an der Schaffung eines Heldenepos über die Schlacht arbeitete, lässt sich nur vermuten. Einschlägige Dokumente hierzu sind noch nicht ausgewertet, wahrscheinlich noch nicht einmal zugänglich. Auffällig jedoch ist, wie rasch später zu Bildikonen werdende Fotos in westliche Presseagenturen gelangten und wie schnell substantiierte und gut geschriebene Erzählungen und andere Texte über die Schlacht nicht nur in sowjetischen, sondern auch als Übersetzungen in alliierten Verlagen erschienen.
Nach der Kapitulation der 6. Armee kamen in bis dahin beispielloser Größenordnung Angehörige der Wehrmacht in die sowjetische Gefangenschaft. Sichtbarer Beweis, dass sich das Blatt gewendet hatte, und wirksamer als alle Frontberichte darüber waren die Bilder der geschlagenen Feinde, die in den Staaten der Anti-Hitler-Koalition in den Zeitungen, Zeitschriften und Wochenschauen verbreitet wurden. Eines dieser Bilder druckte die amerikanische Zeitschrift Life – das vielleicht bedeutendste Magazin jener Zeit – in ihrer Ausgabe vom 22. Februar 1943 ab. Hier fand es der interessierte Leser Bertolt Brecht und schnitt es aus. Zwar gab es zahlreiche Bilder vom Zug deutscher Stalingrad-Soldaten in die Gefangenschaft, doch anders als das von Brecht gewählte, zeigten diese die gefangenen Soldaten zumeist nicht als Individuen, sondern als gesichtslose Masse. Bertolt Brecht hat dieses Foto mit sicherem Gespür als Titelbild für seine Kriegsfibel gewählt. In der Folgezeit wurde es bis heute geradezu zur Ikone der Kriegsgefangenschaft.
War es bei Brecht noch das symbolträchtige, aber doch reale historische Ereignis, welches ihn inspirierte, löste sich die Erzählung von der Stalingrader Schlacht rasch vom wirklichen Geschehen. Die ersten, die Elemente zu einem Mythos Stalingrad zusammentrugen, waren die Ideologen des NS-Systems, allen voran Propagandaminister Goebbels.
Die Wirksamkeit und Publizität eines jeden Mythos verstärkte sich schon seit den antiken Heldensagen, wenn man seine Elemente und Ausformungen mit Versatzstücken der Wirklichkeit belegen konnte. Im Falle Stalingrads waren dies von Anfang an Feldpostbriefe, die sowohl Quelle von Erkenntnissen und Inspirationen als auch Illustration weltanschaulicher Positionen waren.
Die Ersten, die die Feldpostbriefe aus Stalingrad lasen, waren oftmals nicht ihre eigentlichen Empfänger. Die Feldpostzensur der Wehrmacht und auch der Sicherheitsdienst der SS interessierten sich dafür, ebenso wie die Rote Armee, in deren Hände viele Postsendungen gelangten, die beim Rückzug liegengelassen wurden oder aus abgeschossenen Postflugzeugen stammten. Auch die in die Sowjetunion emigrierten deutschen Schriftsteller und Intellektuellen, zumeist Kommunisten und Sozialisten, studierten Feldpostbriefe mit großer Ernsthaftigkeit, Erwartung und Offenheit. Der zum engeren Führungszirkel der deutschen Emigranten in Moskau gehörende Dichter Johannes R. Becher erkannte rasch die enorme Bedeutung dieser einzigartigen Quelle bei der Verständigung zwischen Front und Heimat. Eindringlich brachte er dies 1943 im Gedicht Ein Wort von dir … [1] zum Ausdruck:
Schreibt einen Brief! Schreibt ihn sofort!
Vielleicht ists morgen schon zu spät.
Die Liebe heilige jedes Wort
Das in dem Brief geschrieben steht!
Die Schwester ihrem Bruder schreib,
Und dem Verlobten schreib die Braut,
Damit er ihr am Leben bleib,
Sein Leben ist ihr anvertraut!
Du, Mutter, schreibe deinem Sohn!
Ihr, Frauen, schreibt an euren Mann!
Schreibt an die Front! Ihr wißt es schon,
WIE man darüber schreiben kann –
Und legt in diesen Brief hinein,
In jedes Wort der Liebe Kraft,
Dann wird der Brief ein Aufruf sein,
Es wird aus jeder Zeile schrein:
„Ihr Männer, nein, es darf nicht sein –
Geht lieber in Gefangenschaft!“ …
[...]
Ein Wort von dir! Was du verlangst,
verlangt von dir nur wenig Mut.
Ein Wort von dir! Hab keine Angst,
Dein Volk heißt dein Verlangen gut!
[...]
Mehr noch als die Rote Armee, die in den Briefen hauptsächlich nach Material und Hintergrundinformationen für ihre Frontpropaganda und militärischen Planungen suchte, erwarteten die Emigranten, die Deutschland zumeist schon vor einem Jahrzehnt verlassen hatten, aus der Zusammenschau der privaten Mitteilungen nicht weniger als ein Psychogramm der deutschen Gesellschaft unter dem Hakenkreuz, Hinweise darauf, wie weit das Klassenbewusstsein der deutschen Arbeiter durch die nationalsozialistische Diktatur deformiert und „verschüttet“ worden war. Immerhin galt es, diese Bevölkerung nach Kriegsende für die eigenen politischen Ziele empfänglich zu machen, möglichst ohne viel Zwang.
Noch war nicht absehbar, welche Rolle die Schlacht um Stalingrad später im europäischen Bewusstsein spielen würde, da begann man bereits auf beiden Seiten der Front, am künftigen Mythos zu arbeiten. Informationen und Belege suchte man hierbei u.a. in Feldpostbriefen.
Während sich die Schlacht an der Wolga ihrem blutigen Ende neigte, gab der Propagandaminister des Dritten Reiches Goebbels persönlich die Herausgabe einer Broschüre mit dem Titel Heldenlied Stalingrad in Auftrag. Diese sollte die durchaus widersprüchliche Interpretation der Schlacht in der bisherigen NS-Propaganda krönen. Angesichts der unausweichlichen Niederlage sollte dem Tod zahlloser Wehrmachtsangehöriger ein letzter Sinn gegeben werden. Stalingrad wurde zum Untergangsmythos. Das war nicht immer so gewesen. Im Spätsommer tauchte der Name Stalingrad regelmäßig begleitet von Siegesfanfaren im Rundfunk auf. Hitler behauptete Anfang November großspurig, Stalin-grad sei bereits fest in deutscher Hand, noch vor der vollständigen Einnahme, die übrigens nie gelang.[2] Die zähen Kämpfe um jedes Haus ließen in ihm aber schon ungute Ahnungen aufkommen, die an die wohl symbolträchtigste Schlacht im Ersten Weltkrieg erinnerten: „Es sind nur noch ein paar ganz kleine Plätzchen da. Nun sagen die anderen: ‚Warum kämpfen sie dann nicht schneller?‘ – Weil ich dort kein zweites Verdun haben will, sondern es lieber mit ganz kleinen Stoßtrupps mache.“[3] Doch Stalingrad war für die Deutschen ein zweites Verdun. Jedenfalls hatte der SD diese in der deutschen Bevölkerung verbreitete Befürchtung bereits ab Ende Oktober mehrfach in seinen geheimen Lageberichten festgestellt.
Die nationalsozialistische Presse feierte die vorgebliche Einnahme der Stadt gebührend. Durch die verfrühte Meldung von der Einnahme der Wolga-Stadt unter Druck gesetzt, mussten die offiziellen Meldungen über den Frontverlauf von jetzt an immer stärker frisiert werden.
Die Einkesselung der 6. Armee und ihrer Verbündeten hatte die NS-Medien in Sprachlosigkeit versetzt. Was dort an der Wolga geschah, ließ sich nicht mehr in einen Sieg ummünzen. Die Fanfaren verstummten, das Thema Stalin-grad verschwand Ende November aus der Presse. Als die Niederlage greifbar wurde, kehrte die Schlacht zurück – jetzt zum Untergangsmythos gewendet. Im Protokoll der täglichen Konferenzen des Propagandaministers wird am 3. Februar 1943 vermerkt: „Die gesamte deutsche Propaganda müsse aus dem Heldentum von Stalingrad einen Mythos entstehen lassen, der einen kostbarsten Besitz der deutschen Geschichte bilden werde.“[4]
Sie starben damit Deutschland lebe, titelte der Völkische Beobachter und verschwieg dabei geflissentlich, dass noch fast 100.000 Mann in die Gefangenschaft gegangen waren, unter ihnen auch ein Generalfeldmarschall, Friedrich Paulus. Denn für die wirksame Inszenierung des Untergangsmythos’ hatten alle Beteiligten tot zu sein. Als später Überlebende aus der Gefangenschaft Karten nach Hause schicken konnten, wurden diese nicht an die Empfänger weitergeleitet. Doch das Gestapo-Netz hatte Lücken. Durch ein Versehen der Auslandsbriefzensur gelang der Sowjetunion ihr wohl größter Propagandacoup im Zweiten Weltkrieg. Mehr als 600 Briefe angeblich gefallener Wehrmachtsangehöriger wurden über das Ausland zugestellt, der prominenteste von Walter Heitz, Generaloberst der 6. Armee, an seine Frau. Die Nachricht von diesem Brief pflanzte sich im Deutschen Reich wie ein Lauffeuer fort. Frau Heitz erhielt zahllose Anfragen anderer Angehöriger. Das Reichssicherheitshauptamt unterband jedoch sehr bald den Postverkehr in dieser Angelegenheit. Die Gestapo verwarnte nachdrücklich jeden, weitere Aktivitäten zu unterlassen, ansonsten drohe die Einweisung in ein Konzentrationslager.
Goebbels wollte mit seinem Heldenlied Stalingrad die deutsche Bevölkerung noch einmal für den „Endsieg“ begeistern, wo doch der Untergang der 6. Armee nur en miniature den Untergang Deutschlands zwei Jahre später vorwegnahm. Breiten Teilen der deutschen Bevölkerung kam der Glaube an den „Endsieg“ abhanden. Zuviel war in privaten Mitteilungen, u.a in Feldpostbriefen durchgesickert. Davon wusste auch die NS-Führung sehr genau. Der Sicherheitsdienst der SS fing viele Feldpostbriefe ab und analysierte sie, um einen wirklichkeitsnahen Zugang zur Stimmungslage der Bevölkerung zu erhalten.[5] Den siegesgewissen Leitartikeln des Völkischen Beobachters misstraute die Bevölkerung zunehmend und so sollten nach dem Willen von Goebbels nun authentische Briefe aus dem Kessel für den ungebrochenen Kampfeswillen zeugen. Im Exposè zur Broschüre heißt es: „Die Zeilen dieses Buches sollen Mittler zwischen der Wirklichkeit des Ringens um Stalingrad und der Vorstellungswelt aller in der Heimat sein.“[6]
Doch trotz sorgsamster Auswahl, die authentischen Mitteilungen der Briefe sperrten sich gegen eine solche Funktionalisierung. Der mit der Herausgabe beauftragte PK-Mann, Leutnant Heinz Schröter, konnte trotz sorgfältigster Auswahl nicht die gewünschte Zuversicht vermitteln. Die Texte erschienen Goebbels schließlich doch als ungeeignet. In seiner Proklamation des totalen Krieges im Berliner Sportpalast nur zwei Wochen nach der totalen Niederlage bei Stalingrad, spielten die Briefe derjenigen, die dort angeblich ein „Heldenopfer“ gebracht hatten, keine Rolle. Aus anderen, „ungezählten Briefen aus der Heimat und Zustimmungskundgebungen von der Front“ glaubte er feststellen zu können, „daß die Führung sich in ihren Maßnahmen in vollkommener Übereinstimmung mit dem ganzen deutschen Volk in der Heimat und an der Front befindet. Das Volk will alle, auch die schwersten Belastungen auf sich nehmen und ist bereit, jedes Opfer zu bringen, wenn damit dem großen Ziel des Sieges gedient wird.“[7]
Die Briefe und andere Materialien für das Heldenlied verschwanden im Heeresarchiv Potsdam, wo sie bei Kriegsende verbrannten. Dass maschinenschriftliche Kopien mit Briefauszügen, das genannte Exposé und einige andere Materialien gerettet wurden und später ins Militärarchiv der DDR kamen, blieb bis in die 80er Jahre unbeachtet.
Ein Anderer konnte um den Jahreswechsel 1942/43 mit authentischen Briefen aus Stalingrad mehr anfangen als der Propagandaminister: der Schriftsteller Theodor Plievier, der bereits in der Weimarer Republik mit seinem Roman über den Ersten Weltkrieg Des Kaisers Kulis (1929) berühmt geworden war, den er im Gefolge des sensationellen Erfolgs des Romans Im Westen nichts Neues von Erich Maria Remarque veröffentlicht hatte. Plievier, nach 1933 in die Sowjetunion emigriert, war kein Mitglied der KPD, eher linkssozialistischer und anarchistischer Gesinnung und hielt daher eine gewisse Distanz zu anderen Emigranten. Doch sein Talent war unvergessen. Wegen des deutschen Vormarsches auf Moskau ins sichere Ufa im Südural evakuiert, ließ ihm Johannes R. Becher dorthin säckeweise erbeutete Feldpost aus Stalingrad schicken. Daraus ließe sich doch vielleicht ein Roman machen. Und Plievier machte sich sogleich ans Werk. Nach der Schlacht konnte er seine Recherchen durch zahlreiche Interviews mit Soldaten und Offizieren der 6. Armee in den Gefangenenlagern, z.B. in Krasnogorsk vertiefen. Im Herbst 1944 war der umfangreiche Roman fertig und wurde in Fortsetzungen in der von Johannes R. Becher in Moskau herausgegebenen Zeitschrift Internationale Literatur/Deutsche Blätter abgedruckt. Vorher waren dort bereits einige Geschichten erschienen, die offenbar Vorarbeiten zum Roman darstellten. Alle diese Geschichten sind nach dem gleichen Grundmuster geschrieben: aus wahrscheinlich authentischen Zitaten von Briefen gefallener oder gefangener Soldaten wird die mögliche Geschichte des Verfassers oder Empfängers entwickelt. Tausende Kilometer von der Heimat entfernt, bemühte sich Plievier entsprechend seines literarischen Mottos „Pas verité sans fiction“ um ein Gesellschaftspanorama der deutschen Gesellschaft unter der NS-Diktatur.
Das vielschichtige Thema der Schlacht um Stalingrad, der Untergang der 6. Armee im Kessel, wurde von Plievier künstlerisch überzeugend und wirkmächtig gestaltet. Seine Schriftsteller-Kollegen Erich Weinert und Willi Bredel, beide dem Führungskreis der Emigration zugehörig und als Propagandisten an der Stalingrader Front tätig, waren mit ihren Werken weit weniger erfolgreich.[8] 1945 erschien Stalingrad im Berliner Aufbau-Verlag und dem mexikanischen Exil-Verlag El libro libre. In der Nachkriegszeit war der Roman in Deutschland Ost und West sehr populär. Der Aufbau-Verlag druckte bis 1947 neun Auflagen. Er erschien 1947 auch bei Desch in München und Rowohlt in Hamburg. Doch der Erfolg hielt nur kurze Zeit. Der Kalte Krieg veränderte die politische Landschaft. In der SBZ war Plievier nach seinem Weggang 1948 eine persona non grata. Im Westen fand man seine harte Kritik an der Wehrmacht zunehmend suspekt. Er, der sich von den Kommunisten abgewandt hatte, galt hier zu kommunistisch, so dass der Roman nur noch in kleineren Auflagen erschien. 1963 sorgte in der Bundesrepublik der Norddeutsche Rundfunk mit einer Fernseh-Adaption des Romans durch den Chefdramaturgen und Brecht-Schüler, Claus Hubalek, für einen Skandal. Für den Generalinspekteur der Bundeswehr, Friedrich Foertsch, war das Fernsehspiel reinste kommunistische Propaganda. Kurzerhand setzte er für seine Soldaten eine Alarmübung zum Sendetermin an. In der DDR war es 1984 ein kulturpolitisches Ereignis, dass nach fast 40 Jahren wieder eine Ausgabe von Stalingrad, es war die zehnte,im Aufbau-Verlag erscheinen durfte, zumal mit einem äußerst wohlwollenden und gediegenem Nachwort vom Präsidenten des Schriftstellerverbandes, Hermann Kant, der übrigens 1956 sein Diplom an der Humboldt-Universität zu Berlin mit einer für jene Zeit durchaus mutigen Arbeit eben über diesen Roman erhalten hatte.
Nach Plieviers Roman kam 1950 ein Bestseller auf den Buchmarkt der Bundesrepublik, der dem veränderten Zeitgeist sehr viel besser entsprach: Letzte Briefe aus Stalingrad. Der Band erschien zuerst im kleinen Verlag Die Quadriga. Rasch wurde er populär, besonders nach der Übernahme durch Bertelsmann. In einer Nachschrift des Verlages[9] nimmt die anonym herausgegebene Edition Bezug auf die Planungen zur goebbelsschen Propagandabroschüre: „Als die letzte Maschine aus dem Kessel in Nowo-Tscherkask landete, wurden sieben Postsäcke beschlagnahmt. [...] Nach der statistischen Erfassung und Kenntnisnahme gelangten die Briefe mit den übrigen Dokumenten über Stalingrad, mit Führeranweisungen, Befehlen, Funksprüchen und Meldungen – im ganzen etwa zehn Zentner Material – in die Obhut eines PK-Mannes, der beauftragt worden war, ein dokumentarisches Werk über die Schlacht an der Wolga zu schreiben.“[10]
Tatsächlich ist die Anzahl der in der Anthologie abgedruckten Briefauszüge (39) identisch mit der Sammlung, die auf die nie verwirklichte Propagandabroschüre zurückgeht. Die dortigen Auszüge enthalten anders als der Briefband Namen der Verfasser und Empfänger sowie Datum und Feldpostnummer. Textliche Übereinstimmungen zwischen den beiden Sammlungen lassen sich jedoch in keinem Falle nachweisen. Nachweisen aber lässt sich der anonyme Herausgeber der Briefe. Es ist genau der PK-Mann, Heinz Schröter, der von Goebbels mit der Propagandabroschüre beauftragt worden war. Seit dem Erscheinen des Bandes wurden immer wieder Zweifel an der Echtheit der Briefe geäußert.[11] Fügt man alle Ungereimtheiten zusammen und liest die Briefe genauer, so kann man heute sagen: sie sind eine Fälschung, eventuell unter Verwendung von bearbeiteten Passagen aus anderen Briefbeständen. Dokumente zur Herausgabe des Bandes existieren (vorgeblich) nicht mehr.
Die gefälschten Briefe verfehlten ihre Wirkung nicht, waren sie doch zielgenau auf die Bedürfnisse der westdeutschen Wirtschaftswundergesellschaft zugeschnitten. Ihre Sprache ist literarisch, bilderreich und poetisch, stilistisch von hohem Niveau – und darin einheitlich. Auch das Pathos eint sie, ebenso wie der sinnfällige Versuch, beim Leser Mitleid für die lediglich „verführten“ und später „verratenen“ Soldaten und Offiziere zu erzeugen. Ob die Briefe nun von Resignation oder Gottgläubigkeit, von Auflehnung oder Hilflosigkeit künden – immer ist ihnen eine elegische, tragische oder heroische Haltung eingeschrieben. Der Charakter der Briefeschreiber erscheint stets als nobel. Sie sind allein Opfer des Krieges, eine Schuldfrage stellt sich bei diesen Vertretern der „sauberen Wehrmacht“ nicht. Schröter verwendete seine im Auftrag des Reichspropagandaministeriums gesammelten Materialien und Teile „seiner“ Briefe aber noch erfolgreich an anderen Stellen: 1954 veröffentlichte er einen Band zur Geschichte der Schlacht, Stalingrad – bis zur letzten Patrone, und arbeitete am Drehbuch der Verfilmung des Landser-Romans Hunde, wollt Ihr ewig leben (1959) mit. In allen drei Schröter-Werken gibt es mehrfach wechselseitige Bezüge: In Film und Briefband eine Passage, wie sie im Krieg nicht vorkommt, wohl aber einer wirksamen emotionalen Aufladung der Geschichtsinterpretation dient und anhaltend im Gedächtnis bleibt. Es ist dies die Erzählung, dass in der Endphase der Kesselkämpfe ein deutscher Soldat auf einem Klavier, das zufällig und unbeschädigt auf einer Straße im umkämpften Zentrum Stalingrads stand, Beethovens Appassionata gespielt haben soll – so schön, dass selbst der ungebildete Russe dies würdigte.
Danach wurde es ruhig um die Letzten Briefe, bis der 60. Jahrestag der Schlacht im Jahre 2002 fast zu einer Renaissance geführt hätte. Das allgemeine Medieninteresse nutzend, hatte der französische Komponist Aubert Lemeland (* 1932) die Texte musikalisch umrahmt. Die so bereits 1998 entstandene Sinfonie Letzte Briefe aus Stalingrad sollte in der zentralen Feierstunde des Bundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge anlässlich des Volkstrauertages 2002 im Deutschen Bundestag durch das Musikkorps der Bundeswehr aufgeführt werden. Doch die Problematik wurde öffentlich, u.a. durch den Deutschlandfunk. Vom Musikverlag wurden im Vorfeld kritische Äußerungen als „echt deutsche Kampagne“ abgetan und mit dem Satz kommentiert: „Es ist beschämend, dass sich Politik, Kultur und Öffentlichkeit derart manipulieren lassen.“[12] Der Präsident des Deutschen Bundestages, Wolfgang Thierse, stand der Problematik erst zögerlich gegenüber. Offenbar aber hat ihn ein Gespräch mit Redakteuren eines deutschen Nachrichtenmagazins, die ihm die nicht neuen Informationen nochmals überbrachten, dazu geführt, dass er mit der Absage seiner Teilnahme an der Veranstaltung drohte, falls Ausschnitte aus den Letzten Briefen aus Stalin-grad gelesen würden. Nur wenige Tage vorher tauschte man daher die Texte kurzerhand durch Briefzitate aus anderen, auf wirklich authentischen Texten beruhenden Editionen aus, u.a. aus Walter Kempowskis Echolot.[13] Senta Berger, die ursprünglich die Brieftexte lesen sollte, sagte ihre Mitwirkung ab.
[1] Johannes R. Becher: Dank an Stalingrad, Verlag für fremdsprachige Literatur, Moskau 1943, S. 19–21.
[2] Max Domarus: Hitler. Reden und Proklamationen 1932–1945. Band II, Würzburg 1963, S. 1937.
[3] Ebenda, S. 1938.
[4] Willi A. Boelcke (Hg.): „Wollt Ihr den totalen Krieg?“. Die geheimen Goebbels-Konferenzen 1939–1943, Stuttgart 1967, S. 333.
[5] Vgl. Heinz Boberach (Hg.): Meldungen aus dem Reich Auswahlausden geheimen Lageberichten des Sicherheitsdienstes der SS 1939–1944, Neuwied u.a.1965.
[6] BA-MA, RW 4/264a, Stalingrad (Geheimsachen).
[7] Rede des Reichspropagandaleiters Reichsminister Dr. Goebbels im Berliner Sportpalast am 18. Februar 1943, hrsg. von der Reichspropagandaleitung der NSDAP, ohne Ort und Jahr, S. 16.
[8] Erich Weinert: Memento Stalingrad, Berlin (DDR) 1957; Willi Bredel: Der Sonderführer, Ludwigslust 1946.
[9] Bei der Quadriga-Ausgabe ist es eine „Vorbemerkung“.
[10] Letzte Briefe aus Stalingrad, Gütersloh 1957, S. 68.
[11] Vgl. Joachim Wieder: Stalingrad und die Verantwortung des Soldaten. Frankfurt/Main u.a. 1963; Wilhelm Raimund Beyer: Stalingrad. Unten, wo das Leben konkret ist, Frankfurt/Main 1987.
[12] Pressemitteilung des Musik- und Bühnenverlages „Top Music“ vom 15.11.2002.
[13] Auch Walter Kempowski hat seine abgedruckten Stalingrad-Briefe „bearbeitet“ und geht mit deren Quellenlage etwas lax um.