Von: Wladislaw Hedeler
Reihe "Pankower Vorträge", Heft 172, 2012, 48 S., A5, 3 Euro zzgl. Versand
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Autor: Dr. phil. Wladislaw Hedeler, Berlin, Historiker und Publizist
Inhalt
Familienlegenden
Aufstieg im Parteiapparat
Zur Geschichte der bolschewistischen Organisationen in Transkaukasien
Das Februar-März-Plenum des ZK der KPdSU 1937
Jeshows Nachfolger
Für ein effizientes Straflagersystem
„Desinformationen“ aus Berlin
Die Fortsetzung der deutschen Operation des NKWD
Neue Aufgaben im besiegten Deutschland
Stalins Tod
„Die Totenglocken werden auch für ihn läuten“
Die Plenartagung am 2. Juli 1953 – Stalinismus ohne Stalin
Sippenhaft
Literatur über Lawrenti Berija
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Lawrenti Berija, Erster Sekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Georgiens, war 1938 von Stalin als Nachfolger des gestürzten Volkskommissars für Innere Angelegenheiten, Nikolai Jeshow, ausgewählt worden. Nach Stalins Tod rückte er zum Ersten Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates der Volkskommissare bzw. des Ministerrates auf. In dieser Funktion versuchte er, seine Position im Führungszirkel zu festigen. Doch er unterlag im Kampf um die Macht.
Die neuen, nunmehr der Forschung zur Verfügung stehenden Dokumente ermöglichen eine Rekonstruktion des komplizierten und widersprüchlichen Prozesses der Entstalinisierung in der UdSSR zwischen Stalins Tod 1953 und dem 20. Parteitag der KPdSU 1956.
Dr. Wladislaw Hedeler stellt in diesem Heft neue, in Russland erschienene Publikationen über den Verlauf der Untersuchung im „Fall Berija“ vor, zu denen er in einer Veranstaltung der „Hellen Panke“ e.V. – Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin am 10. Januar 2013 referiert.
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LESEPROBE
Familienlegenden
Sergo Berija beschreibt seinen Vater Lawrenti Berija in den 1995 in Russland veröffentlichten Erinnerungen als bescheidenen, fast asketisch lebenden Mann, als Kinder liebenden Vater, treuen Ehemann, begabten und toleranten Intellektuellen.[1] Der Schriftsteller Alexander Bek schildert ihn als „attraktiven Mann mit funkelnden, runden Gläsern im Zwicker, einer leicht gewölbten Stirn und schräg gescheiteltem Blondhaar, das eine frühe, noch relativ kleine Glatze kaschierte.“[2]
Er habe, hebt der Sohn hervor, Andersdenkende nie wegen ihrer Anschauungen verfolgen oder verhaften lassen und jegliches Blutvergießen prinzipiell abgelehnt. Mit Parteiarbeit beschäftigte sich der Vater nicht, denn seine Tätigkeit als Wirtschaftsfunktionär ließ ihm hierfür keine Zeit. Sogar in seiner Funktion als Erster Sekretär der Kommunistischen Partei Georgiens war er kein Apparatschik, sondern agierte eher wie ein effizienter Manager. Der einzige Geheimdienstchef vor ihm, der vergleichbare Qualitäten aufwies, war nach Meinung des Sohnes der 1926 verstorbene Feliks Dzierzynski, dessen Denkmal lange auf dem Platz vor der Lubjanka in Moskau stand.
Ein völlig anderes Bild zeichnet Anton Wladimirowitsch Antonow-Owseenko.[3] Für ihn ist Berija, der Stalin 30 Jahre lang treu gedient hatte, ein Monster, ein moralisch völlig verkommenes Subjekt. Antons Vater Wladimir Alexandrowitsch und seine Gefährtin Sofja Iwanowna Antonowa-Owseenko wurden noch während der Jeshowschtschina verhaftet, in einem Schnellverfahren verurteilt und beide in Butowo/Kommunarka erschossen. Antons Mutter war bereits 1929 verhaftet worden und hatte sich 1936 das Leben genommen. Die erste Verhaftung und Verurteilung des Sohnes zu 8 Jahren Lager erfolgte 1940, in der Amtszeit von Berija.
Über die Phantasie der genannten Autoren, bei beiden handelt es sich um betagte Söhne kommunistischer Spitzenfunktionäre, könne man nur staunen, konstatierte der Jurist Andrei Suchomlinow in seinem Buch mit dem symptomatischen Titel: „Wer sind Sie, Lawrenti Berija?“[4] Die Antworten auf seine Frage, davon wird noch die Rede sein, fallen sehr unterschiedlich aus. Solange die Archive des Ministeriums des Inneren nicht geöffnet sind, solange wird sich an dieser Situation nichts ändern, schrieb der Historiker Oleg Chlewnjuk 1995.[5]
Diese Haltung russischer Historiker ist typisch für den Vorabend bzw. den Beginn der so genannten Archivrevolution, als viele von ihnen auf die Archivöffnung hofften.
Der Kampf von Sergo Berija um die Rehabilitierung des Vaters war vergeblich. Das traf auch auf die Bemühungen der Adoptivtochter von Jeshow zu, die fast zeitgleich Anträge auf die Rehabilitierung ihres Ziehvaters eingereicht hatte.[6] Leitmotiv von Sergo Berijas Strategie war, alle gegen den Vater erhobenen Vorwürfe, von den Anklagen auf dem Juli-Plenum des ZK der KPdSU 1953 bis hin zu den 1996 in Moskau veröffentlichten Memoiren der angeblichen Geliebten seines Vaters, Nina Alexejewa, als erfunden und haltlos zurückzuweisen. Weil die Parteiarchive den Vater entlastendes und dessen Ankläger belastendes Material enthalten, werden sie nicht geöffnet und bleiben der Forschung verschlossen. Einzig und allein die von ihm immer wieder eingeforderte, aber von der sowjetischen bzw. russischen Justiz ebenso nachdrücklich abgelehnte Rehabilitierung des Vaters seien ein Schritt in die richtige Richtung, meinte Sergo Berija, der lange Jahre nicht den Namen des Vaters tragen durfte und mit einem auf den Geburtsnamen der Mutter Gegetschkori ausgestellten Pass leben musste.
Berija hat nach Meinung seines Sohnes das System, an dem er zugrunde ging, nicht geschaffen, sondern es umgestalten wollen. Wie er dabei vorging und wie tief greifend diese Umgestaltung sein sollte, ist eine der zentralen Fragen, der hier nachgegangen werden soll. Das Studium von Berijas Aufstieg führt uns in aller Deutlichkeit die Zeit nach dem Großen Terror, die Rekonstruktion seines Sturzes und die Zeit zwischen Stalins Tod 1953 und dem 20. Parteitag vor Augen.
Die Bemühungen der Kinder und Angehörigen um die Rehabilitierung der Eltern aus dem Kreis der Täter sind der Kontext, der immer mitgedacht werden muss, wenn man heute mit Dokumenteneditionen arbeitet, die Mitte/Ende der 1990er Jahre veröffentlicht worden sind. Sie sind gewissermaßen der Schlüssel zum Verständnis des Grundtenors der Publikationen von Boris Starkow in der Zeitschrift „Istotschnik“ [„Quelle“] 1993, Heft 4, der Publikation des Briefes von Iwan Pawlunowskij an Stalin in der Zeitschrift „Istotschnik“ 1996, Heft 3 und der von Alexander Kokurin und Alexej Posharow in der Zeitschrift „Istoritscheskij archiw“ [„Historisches Archiv“], 1996, Heft 4 vorgestellten 21 Dokumente über Berijas 1953 anvisierten „Neuen Kurs“. Boris Starkow schloss seinen Artikel mit der Feststellung, dass die von Berija angedachten Reformen von anderen umgesetzt worden sind.[7] Wie Berija innerhalb des Systems funktionierte, spiegeln insbesondere die veröffentlichten Protokolle der Verhöre durch den Generalstaatsanwalt Roman Rudenko schlaglichtartig wider.
Soweit es in seiner Macht stand, habe Berija die Reformen befördert, hebt sein Sohn hervor. So hörte, lautet eine seiner Behauptungen, mit Berijas 1938 erfolgtem Übergang in das Volkskommissariat des Inneren der Terror in der UdSSR über Nacht auf. Erstens stimmt das so nicht und zweitens war die Einstellung des Terrors keineswegs Berijas Verdienst. Die Nationalen Operationen des NKWD sollten per Politbürobeschluss vom 31. Januar 1938 bis zum 15. April 1938 abgeschlossen sein, der Termin konnte jedoch nicht eingehalten werden. Erst im November 1938 war damit definitiv Schluss. Zum 16. November hatten die Troikas die Arbeit einzustellen. Zum 17. November erhielten die Gerichte ihre Vollmachten zurück.
Berijas Sohn schrieb, dass keine einzige Erschießungsliste die Unterschrift seines Vaters trägt. Diese, wie die folgenden Legenden sind heute durch Dokumentenpublikationen widerlegt. Auch die Toten von Katyn gehen sehr wohl auf Berijas Konto. Richtig hingegen ist, dass er während des Vaterländischen Krieges viele Gulag-Häftlinge für den Einsatz an den Fronten freistellte. Einen besseren Beweis – urteilt der Sohn – gäbe es für Integrität und Volksverbundenheit eigentlich nicht. Doch auch an der Spitze dieses Apparates kümmerte er sich nicht um Politik, sondern widmete sich ausschließlich der Verteidigung des Vaterlandes – bis hin zur Schaffung der Voraussetzungen für den Bau der Atombombe. Hier ist das im Januar 1939 eingerichtete „Besondere technische Büro beim Volkskommissar für Innere Angelegenheiten“[8] gemeint, von dem noch die Rede sein wird. Verhaftete Wissenschaftler forschten und projektierten hier für die Rüstungsindustrie.
Berijas Sohn macht dessen Gefolgsleute Wsewolod Merkulow, Viktor Abakumow und Semen Ignatjew für die Untaten der Sicherheitsorgane verantwortlich. Nach Stalins Tod strebte Berija nicht nach Macht, sondern gab Chruschtschows Drängen nach, sich an die Spitze des Innenministeriums zu stellen. „Was hätte er als diszipliniertes Parteimitglied auch anderes tun sollen? Er hat der Führung vertraut und ist von ihr betrogen worden.“ Auch das Argument des Sohnes, sein Vater könne nicht für die Deportationen ganzer Völker verantwortlich gemacht werden, weil diese Frage „oben“ entschieden wurde, ist heute widerlegt. Berija war der Organisator dieses Völkermordes. Nachdem er sich auf diese Weise in Stalins Augen bewährt hatte, standen ihm im Apparat alle Wege offen.
Wir haben an anderer Stelle die Stunden und Tage nach Stalins Schlaganfall 1953 beschrieben. Berija, der bekanntlich als einer der ersten Vertrauten im Sommerhaus eintraf, unternahm nichts, um die Ärzte zu verständigen. Im Gegenteil, er kanzelte die Wache ab, denn es sei ja überhaupt nichts passiert, „der Generalissimus schnarche ja im Schlaf“, wies er die diensthabenden Offiziere zurecht. Merkulow sagte in der Vernehmung durch Rudenko aus, Berija habe Stalins Tod als Befreiung empfunden. Er scherzte, war fröhlich und regelrecht beflügelt.[9]
Nach Stalins Tod trat Berija auch auf dem Gebiet der Außenpolitik hervor. Seine die Entwicklung eines nichtsozialistischen Deutschlands, die Herstellung von Beziehungen zu Jugoslawien und die Koreapolitik betreffenden Vorschläge werden immer wieder angesprochen, um ihn in den Rang eines Reformers zu erheben. Aus den inzwischen veröffentlichten Materialien des Juli-Plenums des ZK der KPdSU 1953 geht hervor, dass Berijas Kampfgefährten ihren Mitstreiter nicht wegen der zu Lebzeiten von Stalin begangenen „Gesetzesverstöße“, wegen der „bürgerlich-nationalistischen Abweichungen“ oder der „Sabotage der Landwirtschaft“ verurteilten, sondern für den von ihm nach Stalins Tod – ganze drei Monate lang – eingeschlagenen außenpolitischen Kurs. Der 17. Juni 1953 war das Todesurteil für Berija. Auch der Vorwurf, den Geheimdienst über die Partei stellen zu wollen, ihn der Kontrolle zu entziehen, wog schwer. In diesem Apparat herrschten Willkür und Gesetzlosigkeit.
Wie weit – das ist die eigentliche Frage, die die Sowjetunionhistoriker umtreibt – wollte und konnte Berija gehen? Berijas Kurs – sagen die einen – hätte den Bruch mit dem Stalinismus nach sich gezogen, ein Weg den Chruschtschow damals noch nicht einzuschlagen bereit war. Berijas Weg können sie sich nur als einen Weg unter Umgehung, unter Ausschluss der Wahrheitsfindung vorstellen. Und für diese trat Chruschtschow, und sei es noch so inkonsequent, dennoch ein. Unter Berijas Führung wäre die Macht der Sicherheitsorgane ausgebaut und die des Parteiapparates weiter beschnitten worden. Chruschtschow hingegen entschied sich für die Stärkung des Parteiapparates.
Bevor Berijas Genossen zur inhaltlichen Kritik an seiner politischen Linie übergingen, ließen sie seine ebenfalls inhaftierten Leibwächter zu Wort kommen. Diese schilderten ihren Chef als moralisch verkommenes Subjekt.[10] Berijas Sohn hingegen behauptete, das Privatleben des Vaters wäre unter den Augen der Familienmitglieder abgelaufen, das Elternhaus stand, so war es immer, allen Gästen offen. Selbstverständlich hatte er menschliche Schwächen, hierin unterschied er sich nicht von Wladimir Lenin oder Leonid Breshnew. (Das ist eine Anspielung auf Molotows Rede auf dem Juli-Plenum 1953, nur war damals nicht von Breshnew, sondern von Stalin die Rede.[11]) „Warum aber, trägt man ihm“, fragte der Sohn weiter, „im Unterschied zu den genannten Sowjetführern seine Schwächen nach, bauscht Gerüchte auf, zeichnet ihn als Monster und gibt ihm allein die Schuld für die Missetaten, für die eigentlich andere Mitglieder der Parteiführung verantwortlich waren.“
Die Antwort auf diese Fragen muss in den nach wie vor unzugänglichen Archiven gesucht werden. Einige der Archivalien sind in die überschaubare Literatur über Berija aufgenommen worden, die meisten Dokumente beziehen sich auf die Arbeitsjahre in Moskau. Weitgehend ausgeblendet sind Leben und Schaffen vor und nach 1920.
[1] Berija, Sergo: Moj otec – Lavrentij Berija. [Mein Vater – Lavrentij Berija.] Moskva 1994, 431 S.
[2] Bek, Alexander: Die Ernennung. Berlin 1988, S. 33.
[3] Antonov-Ovseenko, Anton Vladimirovič: Lavrentij Berija. Krasnodar 1993, 432 S.
[4] Suchomlinov, Andrej: Kto Vy, Lavrentij Berija? Neizvestnye stranicy ugolovnogo dela. [Wer sind Sie, Lavrentij Berija? Unbekannte Seiten einer Strafsache.] Moskva 2003, 464 S.
[5] Chlevnjuk, Oleg: Berija: predely istoričeskoj „reabilitacii“. [Berija: Grenzen historischer „Rehabilitierung“.] In: Svobodnaja mysl’, 1995, Heft 2, S. 110.
[6] Petrov, Nikita; Jansen, Mark: „Stalinskij pitomec“ – Nikolaj E¸ov. [„Stalins Zögling“ – Nikolaj E¸ov.] [Im Folgenden: Petrov/Jansen] Moskva, 2009, S. 212.
[7] Starkov, Boris: Sto dnej „lubjanskogo mar¨ala“. [100 Tage des Marschalls in der Lubjanka.] In: Istočnik 1993, Heft 4, S. 90.
[8] Lubjanka. Stalin i NKVD-NKGB-GUKR „Smer¨“. 1939 – mart 1946. Dokumenty. Moskva 2006, S. 9–12. [Im Folgenden: Lubjanka 1939–1946]
[9] Verhör von W. Merkulow durch Generalstaatsanwalt Rudenko am 3. Juli 1953. In: Politbjuro i delo Berija, a. a. O., [im Folgenden: Politbjuro] S. 128.
[10] Verhör von Rafael Semjonowitsch Sarkisow durch Generalstaatsanwalt Rudenko am 1. Juli 1953. In: Politbjuro, S. 34.
[11] Molotow auf dem Juli-Plenum 1953. In: Lavrentij Berija 1953. Stenogramma, a. a. O., S. 104. [Im Folgenden: Stenogramma]