Von: Frank Engster / Jan Hoff
Reihe "Philosophische Gespräche, Heft 28, 2012, A5, 52 S., 3 Euro plus Versand
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Zum Thema Die neue Marx-Lektüre seit 1965 referierten und diskutierten am 12. Januar 2011 Jan Hoff und Frank Engster in der Veranstaltungsreihe Vielfalt sozialistischen Denkens.
Autoren:
Frank Engster (Berlin), Dr., promovierte an der FU Berlin über den Zusammenhang von Geld, Maß und Zeit, zurzeit Junior Fellow am Postwachstums-Kolleg der Uni Jena
Jan Hoff (München), Dr., Autor des Buches: Marx global. Zur Entwicklung des internationalen Marx-Diskurses seit 1965, Berlin 2009
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INHALT
Vorwort von Frank Engster und Jan Hoff
Jan Hoff
Marx-Rezeption in den 1960er Jahren und in der Gegenwart. Fallbeispiele zwischen Editionsgeschichte und sozialen Bewegungen
Frank Engster
Die Neue Marx-Lektüre, ihr kritischer Gehalt und die nächste Generation
-------------------------------------------------------------------------LESEPROBE
Vorwort
1.
Bei den beiden vorliegenden Texten handelt es sich um einander ergänzende Darstellungen, die einen ähnlichen Gegenstand aus jeweils unterschiedlicher Perspektive und mit verschiedener Schwerpunktsetzung untersuchen. Der Text von Jan Hoff nähert sich anhand einiger wichtiger Fallbeispiele der Marx-Rezeption der 1960er Jahre und der Gegenwart in Betrachtung des Spannungsfelds von Editionsgeschichte und Geschichte sozialer Bewegungen. Der Beitrag von Frank Engster zieht eine kleine Bilanz der Neuen Marx-Lektüre und versucht, sowohl ihren kritischen Gehalt als auch Desiderate herauszuarbeiten.
2.
Angesichts des gewaltigen und unübersichtlichen Kontinents Marx und Marxismus ist eine Strukturierung unumgänglich. Zur inhaltlich-systematischen Gliederung schlagen wir folgende grobe Unterteilung vor: Im späten 19. Jahrhundert bildete sich der weltanschaulich geprägte traditionelle Marxismus in enger Anbindung an die sozialistische Arbeiterbewegung und deren Parteien und Institutionen heraus. Nach dem Ersten Weltkrieg führten Versuche einer theoretisch-politischen Neuorientierung dann zum sogenannten Westlichen Marxismus. Nach dem Zweiten Weltkrieg wiederum entwickelte sich von historischen Ungleichzeitigkeiten geprägt auf globaler Ebene eine neue Marx-Aneignung, deren westdeutsche Form die Neue Marx-Lektüre seit den 1960er Jahren darstellt. Die Herausbildung dieser dritten Phase muss von Land zu Land verschieden datiert werden, die politischen Einschnitte von 1956 und 1968 markieren diesen Zeitraum nur sehr grob. Seit dem Ende der 1970er Jahre entwickelte sich schließlich im Umfeld der französischen Philosophie eine Art Post-Marxismus heraus, der vielleicht erst heute seine Wirkungsmächtigkeit entfaltet, vor allem durch eine regelrechte Ontologisierung des Politischen.
Diese inhaltlich-systematische Einteilung verweist auf die Einschnitte und Umbrüche in der Marx-Rezeption, die wiederum wenn auch auf vermittelte Weise und oft mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung mit politischen Prozessen und sozialen und kulturellen Umbruchsituationen zusammenhängen, aber auch mit Veränderungen in der Editionsgeschichte, mithin in der Rezeptionsgrundlage. Dazu kommen die mitunter ebenfalls einschneidenden Einflüsse aus anderen Wissensgebieten wie etwa Psychoanalyse, Phänomenologie, (Post-)Strukturalismus, Dekonstruktion oder Feminismus.
3.
Im Hinblick auf die aktuelle Situation der internationalen Marx-Diskussion stellt sich die Frage nach ihrer historischen Verortung innerhalb der verschiedenen rezeptionsgeschichtlichen Entwicklungsphasen und Einschnitte. Immerhin wird mittlerweile, nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus und den bleiernen Jahren des Neoliberalismus (der mittlerweile ähnlich erschöpft und zugleich untot ist wie der Realsozialismus in seinen letzten Jahren), nicht mehr das Ende der großen Erzählungen verkündet und auch kein Ende der Geschichte mehr ausgerufen; dafür wird in verschiedenen Kontexten von einer Marx-Renaissance gesprochen, zunächst vor dem Hintergrund der sog. Globalisierung, dann vor dem der Finanzkrise. Hier können einige Charakteristika und Perspektiven der aktuellen Marx-Rezeption auf internationaler Ebene nur kurz angedeutet werden:
· Es gibt seit einigen Jahren das Bedürfnis, aber auch das Bemühen um eine Internationalisierung der Marx- und Marxismus-Diskussion. Das lässt sich nicht zuletzt anhand des Engagements von intellektuellen und politischen Zirkeln in englischsprachigen Ländern oder auch seitens italienischer Forscher zeigen. Auch die Institutionalisierung bestimmter geistes- und kulturwissenschaftlicher Disziplinen hat zu einer neuen Beschäftigung mit Marx geführt (cultural studies, gender studies, postcolonial studies, subaltern studies). Allerdings ist Marx hier mit konkurrierenden gesellschaftskritischen Ansätzen konfrontiert. Überhaupt findet hier ein neuer, unbefangener Umgang statt, der nicht unmittelbar an Marx und den Marxismus anschließt und auch keine kritische Weiterentwicklung oder Aufarbeitung beansprucht, ohne sich jedoch abzukehren oder abzugrenzen. Am ehesten findet hier eine Art Relativierung der Marxschen Kritik und des Marxismus und eine Pluralisierung von ökonomischen und politischen Herrschafts- und Machtverhältnissen statt.
· Die linke intellektuelle Prominenz der Gegenwart bezieht sich, sei es wieder oder weiterhin, auf Marx. Hier wären Zizek, Butler, Badiou, Rancière, Negri, Harvey, Jameson, Eagleton und andere Denker marxistischer oder post-marxistischer Provenienz zu erwähnen. Etwas vereinfacht lassen sich die Folgen in Gestalt eines Pro oder Contra skizzieren: Einerseits tragen allein schon die öffentlichkeitswirksamen spektakulären Interventionen der Prominenz mehr zur Verbreiterung des Interesses an Marx und von radikaler Kapitalismuskritik bei als die detailliertesten und avanciertesten Rekonstruktionen der Kritik der politischen Ökonomie. Andererseits führt das zu demselben Phänomen, das bereits aus dem traditionellen Marxismus bekannt ist: Dem breiten Publikum wird Marx durch eine bestimmte, prominente und oft mit ganz eigenen Überlegungen verbundene Lesart präsentiert, und die ist oft auch dann noch wirksam, wenn das Publikum daraufhin Marx im Original liest. Es fehlt dagegen die Aufarbeitung der verschütteten, der übergangenen und der erst wiederzuentdeckenden Forschungsleistung zahlreicher Marx-Spezialisten (wie z.B. Wolfgang Jahn). Ja, im Bezug auf Marx Kritik der politischen Ökonomie fehlen mitunter Problembewusstsein und Einsichten, die selbst der viel geschmähte traditionelle Marxismus längst hatte.
· Die aktuelle Marx- und Marxismus-Diskussion steht vor der Frage, wie sie sich zu den weltweiten sozialen Bewegungen der Gegenwart verhalten will. Eine Aufgabe wäre, die Illusionen und Beschränktheiten, die theoretischen Verkürzungen und die Geschichts-, Theorie- und Ökonomievergessenheit in den sozialen Bewegungen (und ihrer intellektuellen Befürworter) einer ähnlichen Kritik zu unterziehen, wie dies Marx seinerzeit mit Proudhon und anderen gemacht hat. Dabei ginge es vor allem um eine an die Marxsche Ökonomiekritik anschließende Kritik von gesellschaftskritischen Denkmodellen, die selbst noch im bürgerlichen Horizont befangen bleiben oder die erst gar nicht zu einer grundsätzlichen Kapitalismuskritik vordringen oder die ihre Emphase und Ontologisierung des Politischen in kein angemessenes Verhältnis zum Ökonomischen bringen können.
Frank Engster und Jan Hoff