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Heft 32: Dialektiker und Mechanizisten

Wie der Marxismus in der Sowjetunion zur Legitimationswissenschaft verkam

Von: Wladislaw Hedeler

Heft 32: Dialektiker und Mechanizisten

Reihe "Philosophische Gespräche", Heft 32, 2014, 52 S.

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Grundlage des vorliegenden Heftes ist der Vortrag des Autors Dr. Wladislaw Hedeler zum Thema Dialektiker und Mechanizisten. Wie der Marxismus in der Sowjetunion zur Legitimationswissenschaft verkam, den er am 12. Mai 2014 in der Reihe "Philosophische Gespräche" halten wird.

Anknüpfend an seinen Vortrag „Säuberungen unter dem Banner des Marxismus. Zur Rezeption des Lebenswerkes der 1922 aus Sowjetrussland ausgewiesenen Philosophen“ (Philosophische Gespräche; Heft 31) vom Januar 2014 wendet sich der Verfasser im Folgenden der wechselvollen Geschichte der Philosophie unter dem Banner des Marxismus in der Sowjetunion der 1920er–1930er Jahre zu.

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Autor:

Wladislaw Hedeler. Dr. phil., Historiker und Publizist, lebt in Berlin

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INHALT:

Vorbemerkung

Die wissenschaftlichen Einrichtungen 1921 bis 1931

Die Kommunistische Sverdlov-Universität 1918–1932

Die Sektion Philosophie der Sozialistischen Akademie

Das Institut der Roten Professur 1921–1931

Das Marx-Engels-Institut 1921–1931

Die Gesellschaft der streitbaren Materialisten-Dialektiker

Das Staatliche Timirjazev-Forschungsinstitut für das Studium und die Propaganda der naturwissenschaftlichen Grundlagen des dialektischen Materialismus

Das Lenin-Institut 1923–1931

Russische Vereinigung von wissenschaftlichen und Forschungsinstituten auf dem Gebiet der

Gesellschaftswissenschaften (RANION) 1924–1930

Das Institut für Philosophie der Kommunistischen Akademie

Das Institut für Philosophie der AdW der UdSSR

Die Schulbildner: A. Deborin, I. Skvorcov-Stepanov

Die Gruppe der Dialektiker: V. Asmus, G. Bammel’, Ju. Frankfurt, S. Gonikman, N. Karev,

M. Levin, S. Levit, I. Luppol, Ja. Sten und A. Stoljarov

Die Gruppe der Mechanizisten: L. Aksel’rod, I. Boričevskij, V. Sarabjanov, S. Semkovskij, A. Timirjazev

„Die Philosophie über Bord!“ –Ė. Ėnčmen und S. Minin

N. Bucharin und seine Schule

Das Ende der Debatte 1929

V. Vernadskij und die Kritiker aus der AdW

Kritiker im Auftrag Stalins: M. Mitin, P. Judin und V. Ral’cevič

Das IML als Hort und Gralshüter des Marxismus-Leninismus

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Abkürzungsverzeichnis

Auswahlbibliografie

Personenregister

Zeittafel

Anhang: Gliederung des von N. Bucharin und A. Deborin vorgelegten Buchmanuskriptes „Idealistische und materialistische Dialektik“

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LESEPROBE

Vorbemerkung

Gegenstand der vorliegenden Untersuchung ist die Anfangsphase der Herausbildung der marxistischen Philosophie in Sowjetrussland bzw. der UdSSR zwischen 1918 und 1931. Parallel zur von Lenin initiierten Ausweisung bürgerlicher Intellektueller, darunter Vertretern der „alten Professur“ im Jahre 1922, erfolgte die Umgestaltung des Lehr- und Wissenschaftsbetriebes in Russland.(1) Zahlreiche neue wissenschaftliche und Forschungseinrichtungen entstanden. Deren Ausrichtung und Mitarbeiter wurden in der Literatur von Gustav Wetter(2) bis Oskar Negt den so genannten Dialektikern und Mechanizisten zugeordnet. Die 1924/1925 geführte Debatte und die Protagonisten werden im Folgenden vorgestellt, wobei an vorhergehende Publikationen, die in der Reihe „Philosophische Gespräche“ veröffentlicht worden sind, angeknüpft wird.(3)

Im Unterschied zur von Negt 1969 eingeleiteten Auswahl „Kontroversen über dialektischen und mechanistischen Materialismus“, in der Deborin und Bucharin als vermeintliche Kontrahenten erscheinen, werden hier die eigentlichen Wortführer der Mechanizisten Skvorcov-Stepanov, Timirjazev und Aksel’rod (Ortodoks) vorgestellt. Negt ging es bei seiner „ideologiekritischen Rekonstruktion der ‚Naturgeschichte’ des stalinistischen Denkens“ darum, „Strukturelemente des Sowjetmarxismus aufzuzeigen, die nur noch der stalinistischen Institutionalisierung bedurften, um in einer durch Züge einer marxistischen ‚Verhaltenslehre’ geprägten und historisch wirksamen Gestalt das Denken und Handeln ganzer Generationen von Kommunisten zu bestimmen“.(4)

Seine Überlegungen zur Überwindung des „Legitimationswissens“ und damit auch der „Hilflosigkeit der marxistischen Intellektuellen“ nach 1968 bleiben heute noch lesenswert. Es ist an der Zeit, Negts Aufforderung Folge zu leisten, mit der „systematischen Rekonstruktion der Periode des Vor-Stalinismus“ zu beginnen und damit die vom Jesuitenpater Wetter skizzierte Debatte unter Auswertung neuer Quellen zu betrachten.

Bestandteil der in Sowjetrussland geführten Debatte war die Auseinandersetzung um Lenins Lebenswerk. Es ging um seinen originären Beitrag zum Marxismus und um die Frage, ob seine Leistung auf dem Gebiet der Theorie oder der Praxis zu suchen sei. Als Deborin Anfang der 1930er Jahre attackiert wurde, schrieb Lunačarskij im Artikel „Lenin und die Literaturwissenschaft“: „Versucht wurde – beispielsweise von der Gruppe Deborins – die Wechselbeziehung von Marxismus und Leninismus so darzustellen, als sei der Marxismus die abgeschlossene Theorie des Proletariats, der Leninismus dagegen dessen erneuerte und unserer Zeit angepasste Praxis. Diese Auffassung muss aufs entschiedenste verurteilt werden, und zwar als bewusst oder unbewusst unternommener halbmenschewistischer Versuch, die Bedeutung des Leninismus herabzusetzen und damit auch den ganzen Marxismus zu verfälschen. Der Leninismus ist nicht nur eine der Zeit der realen proletarischen Revolution entsprechende Praxis, sondern auch eine neue Entwicklungsphase der Theorie, die deren Prinzipien zutiefst treu bleibt und sich in Verbindung mit den neuen Erfahrungen entwickelt.“(5)

Die Hochschullehrer Bucharin und Deborin, von dem noch die Rede sein wird, formulierten ihren Lösungsansatz unter Berufung auf Lenins philosophisches Testament und trugen in unterschiedlicher Weise dem Bedürfnis der Praxis nach Handlungsorientierungen Rechnung. Zwischen ihnen und ihren Schülern gab es in diesem Punkt weit mehr Gemeinsamkeiten als Kontroversen. Die Begriffe „Dialektiker“ und „Mechanizist“ fixieren nicht nur einen Lösungsansatz, sondern auch das die Diskussion bestimmende Spannungsverhältnis, wobei sie eher auf den Ausgangs- als auf den Endpunkt der Debatte zielen.

Nachdem die Auseinandersetzungen über Bucharins „Ökonomik der Transformationsperiode“, die in Sowjetrussland unter Gesellschaftswissenschaftlern und Parteifunktionären im Sommer 1921 äußerst kontrovers geführt worden waren, ihren Höhepunkt überschritten hatten, erschien ein weiteres Buch aus dessen Feder: „Die Theorie des historischen Materialismus“. Der Autor ist darin nicht den die Philosophie über Bord werfenden Mechanisten bzw. seinem die Philosophie in der „Tektologie“ aufhebenden Lehrer Bogdanov gefolgt. Sein Versuch, Hegels Dialektik in die Sprache der Mechanik zu übersetzen, mündete in eine „Theorie des beweglichen Gleichgewichts“. Theoriefeind-lichkeit und subjektivistische Versuche, gesellschaftliches Sein und gesellschaftliches Bewusstsein gleichzusetzen, hat Bucharin stets zurückgewiesen. Auch die für die „Ökonomik der Transformationsperiode“ noch zutreffende Parallelität in den Auffassungen Bogdanovs und Bucharins ist auf die nachfolgende „Theorie des historischen Materialismus“ nicht einfach übertragbar.

Nun wurde Plechanov für Bucharin interessant. In diesem Zusammenhang wird der Rückgriff auf Plechanovs „Grundprobleme des Marxismus“ besonders deutlich. Bucharin stützte sich auf Plechanovs Ausführungen über das labile Gleichgewicht und die Organisation einer gegebenen Gesellschaft sowie auf die Behauptung, mit Hilfe der so genannten fünfgliedrigen Formel (mit ihr wird eine bestimmte Ideologie aus dem Entwicklungsstand der Produktivkräfte abgeleitet) seien Kausalzusammenhänge zwischen verschiedenen Gliedern einer Reihe erklärbar.

Wie die „Ökonomik“ war auch die „Theorie“ Gegenstand kontroverser Debatten unter Parteifunktionären. Auf den akademischen Philosophiebetrieb hatte das jedoch keine Auswirkungen mehr. Die Vertreter der „bürgerlichen Professur“, die sich an dieser Diskussion beteiligt hatten, wie Sorokin, wurden bald darauf ausgewiesen. Andere Wissenschaftler, wie Čajanov, die noch im Lande bleiben durften, zogen es vor zu schweigen. Bucharin hat dennoch den Disput zu beleben versucht und seinen Kritikern geantwortet. Es gelang ihm jedoch nicht, der Diskussion eine positive Wendung zu geben. Auch nicht als er Autoritäten aus dem Ausland zitiert, die zu seinem Buch Stellung genommen hatten.

1929, unmittelbar nach der Entmachtung der „Rechtsabweichler“ in der KPdSU(B), nach der Eroberung der AdW, der „letzten Bastion bürgerlicher Theorieproduktion“, wurde auf Stalins Weisung mit dem „menschewi-sierenden Idealismus“, der angeblich unter dem Banner des Marxismus daherkam, einer Anspielung auf die gleichnamige Zeitschrift, abgerechnet. Das Jahr 1931 steht für die Geburtsstunde des Marxismus-Leninismus als Legitimationswissenschaft. Von den in der vorliegenden Publikation erwähnten 82 Personen fielen 35 dem Großen Terror zum Opfer. In den 1960er und 1980er Jahren verstarben jeweils vier der hier erwähnten Philosophen, in den 1970er und 1990er Jahren waren es jeweils vier. Etliche der damals von Stalin „an der philosophischen Front“ in der UdSSR eingesetzten Genossen verließen ihre „Kampfposten“ im Wissenschafts- und Parteiapparat erst in den 1980er Jahren.

(1) W. Hedeler: Säuberungen unter dem Banner des Marxismus. Zur Rezeption des Lebenswerkes der 1922 aus Sowjetrussland ausgewiesenen Philosophen. Helle Panke e.V. Berlin 2014. (Philosophische Gespräche; Heft 31)

(2) Gustav A. Wetter: Der dialektische Materialismus. Seine Geschichte und sein System in der Sowjetunion. Freiburg 1956.

(3) Zu Bogdanov siehe: W. Hedeler: Organisationswissenschaft statt Marxismus. Aleksandr Bogdanovs Vorstellungen von einer Gesellschaft der Zukunft. Helle Panke e.V. Berlin 2007. (Philosophische Gespräche 10); Zu Bucharin siehe: Dieter Uhlig; Wladislaw Hedeler: Nikolai Bucharins „Philosophische Arabesken“. Helle Panke e.V. Berlin 2006. (Philosophische Gespräche; Heft 8)

(4) Oskar Negt: Vorwort, S. 12 und 15. In: Nikolai Bucharin; Abram Deborin. Kontroversen über dialektischen und mechanistischen Materialismus. Frankfurt am Main 1974.

(5) Zitiert nach: A. Lunatscharski: Vom Proletkult zum sozialistischen Realismus. Berlin 1981, S. 252.

  • Preis: 4.00 €