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Heft 34: Geht Demokratie auch anders?

Um eine nicht-kapitalistische Synthese von direkter und parlamentarischer Demokratie

Von: Johannes Heinrichs

Heft 34: Geht Demokratie auch anders?

Reihe "Philosophische Gespräche", Heft 34, 2014, 44 S., A4

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Zum Thema dieses Heftes referierte Prof. Johannes Heinrichs in einer Veranstaltung der Reihe „Philosophische Gespräche“, die am 11. September 2014 in Kooperation mit dem Institut für Sozialtheorie Bochum e.V. stattgefunden hat.

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Autor: Johannes Heinrichs

Professor für Philosophie und Sozialökologie a.D., lehrte ab 1975 Sozialphilosophie an der Jesuitenhochschule St. Georgen in Frankfurt/M. Seit seinem Verzicht auf diese Professur wirkte er als Gastprofessor, Forschungsbeauftragter und Schriftsteller. Von 1998 bis 2002 lehrte er Sozialökologie an der Humboldt-Universität zu Berlin als Nachfolger Rudolf Bahros. Führender Kopf im „Netzwerk Viergliederung der Demokratie“ und „Stiftung Wertedemokratie“ i.G.

Wichtigste einschlägige Bücher: Revolution der Demokratie, 2003, Neuauflage 2014; Kurzfassung: Demokratiemanifest für die schweigende Mehrheit, 2005; Sprung aus dem Teufelskreis. Sozialethische Wirtschaftstheorie, 2. Aufl. 2005; Revolution aus Geist und Liebe. Hölderlins ‚Hyperion‘ durchgehend kommentiert, 2007.

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INHALT

Vorbemerkungen

1. Einführung

Vom Schlagwort zum Reizwort

2. Geschichtliche Orientierung Demokratie von gestern

3. Der systematische Grundansatz

Vom handelnden Menschen zum sozialen System – das Missing Link

4. Sprung in den großen Organismus

Differenzierung von Subsystemen

5. Die praktische Kernforderung

Vier „Herzkammern“ der Demokratie: vier Parlamente

6. Konsequenzen in Fülle

Die nicht-parlamentarischen „Gewalten“

7. Eine zusätzliche architektonische Dimension

Die Dreiheit von Staat – Privatem – Öffentlichem

8. Der sozialethische Gesichtspunkt

Sozialprinzipien und ihre Evolution

9. Zukunftsgerichtete Synthesen

Demokratie von morgen

10. Strategien und Abgrenzungen

Aufklärung als revolutionäre Praxis

11. Ausblicke

Europäische und Globale Demokratie-Architektur

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LESEPROBE

1. Einführung: Vom Schlagwort zum Reizwort

„Demokratie“ war eines der größten Schlagwörter des 20. Jahrhunderts. Wahrscheinlich wird es rückblickend einmal als das größte und zentrale überhaupt gesehen werden. Ich gehe jedoch von der für manche provozierenden, für manche wiederum selbstverständlich scheinenden Feststellung aus, dass dieses Schlagwort ein bisher unerfülltes Versprechen geblieben ist, dass wir auch in den demokratischen Ländern allenfalls in einer „Halbdemokratie“ leben. Diese Aussage wird zu „Viertelsdemokratie“ hin präzisiert werden.

Starten wir zu einem kleinen Hindernislauf durch einige der beliebtesten Vorurteile oder Halbwahrheiten. Dieser Lauf darf hier bedeutend schneller ausfallen, weil dem Autor fast ausschließlich am konstruktiven Entwurf liegt und er sich von der üblichen, kraftlosen Demokratie-Bejammerei ebenso distanziert wie von der Verteidigung des Bestehenden durch die Bewusstlosen und Profitierenden: Wir lebten doch in der besten demokratischen Verfassung aller Zeiten (und Länder dazu).

1. „Demokratie ist eine ziemlich schlechte Staatsform, aber es gibt keine bessere.“ (Winston Churchill)

Es gibt in der Tat keine bessere Staatsform als Demokratie, im Sinne einer tendenziellen Identität von Regierenden und Regierten. Einziger „kleiner Schönheitsfehler“: Sie ist bis heute weder hinreichend durchdacht noch verwirklicht. Die Anfangseuphorie reicht nicht. Es gibt zu viel Verliebtheit in die Unvollkommenheit: als weiser Realismus getarnte Trägheit oder Opportunismus der Wohlsituierten.

2. „Die politische Wissenschaft zeigt, dass die Menschen doch im Großen und Ganzen mit der Demokratie zufrieden sind.“

Die politische Wissenschaft – oft wie die Publizistik nolens volens in einem Bade mit den Mächtigen und Reichen – hat mehrheitlich nicht den Mut zuzugeben, wie extrem unzufrieden die Menschen mit der real existierenden Demokratie sind. Und nicht den Mut, die Berechtigung dieser Unzufriedenheit anzuerkennen. Selbst die stolz vorgezeigte Mehrheit, die noch zur Wahl geht, tut dies teils mehr aus Pflichtgefühl denn aus Überzeugung. Ist das florierende Demokratie?

3. „Wir können ja doch nicht viel ändern, am wenigsten unsere Verfassung.“

Noch können wir soviel ändern, wie wir einsehen. Das wird nicht immer andauern. Das deutsche Grundgesetz lädt noch immer ausdrücklich zu einer neuen Verfassung ein (Artikel 146 GG). Gemeint war nicht bloß eine formale Ratifizierung des alten, „bewährten“ Grundgesetzes durch das Volk (die 1991 zum Glück nicht erfolgte), sondern zugleich eine inhaltliche Verbesserung. Alles Lebendige, was sich nicht verbessert, verschlechtert sich. Deshalb ist dem Buch „Revolution der Demokratie“ in 2. Auflage ein maßvoller Vorschlag zur Verfassungsentwicklung angefügt worden.

4. „Mag sie noch so unvollkommen sein, so gibt es doch keine Alternative zu dieser in kleinen Schritten lernenden Demokratie.“

Dass wir bestenfalls Halbdemokratien haben, gehört zum resigniert ausgesprochenen Volkswissen. Die „politische Klasse“ und die, die vom Bestehenden profitieren, wollen dies verschweigen und konstruktive Alternativvorschläge nicht diskutiert haben. Leider auch unsere so „freie Presse“. Sie erfasst unbewusst richtig: Das Konstruktive ist heute das Kritischste. Daher gibt es angeblich „keine Alternativen“, das TINA-Prinzip (There Is No Alternative). Dem wird hier das Prinzip TIANA entgegengesetzt werden: There Is A Necessary Alternative.

5. „Jeder kann nur bei sich selbst anfangen.“

Jeder muss in der Tat bei sich selbst anfangen, nämlich mit praxisbezogenem Denken für die Allgemeinheit. Dadurch geht der Einzelne bereits aus der privaten Hilflosigkeit in öffentliche Wirksamkeit über, mehr als mit persönlichem Moralisieren und biedermeierlicher Korrektheit. Strukturelle Einsicht und Aufklärung über Zusammenhänge und Interesse an der gemeinsamen Form von Freiheit, Gerechtigkeit und Glück sind erste Demokratenpflicht!

6. „Die soziale Wirklichkeit kann nur spontan von unten her aufgebaut werden.“

Die Kräfte der spontanen Gemeinschaftsbildung und der kleinen Reformen von unten sind wertvoll. Sie können jedoch auf Dauer nicht ohne das Bedenken des Ganzen und nicht ohne die gesamtgesellschaftlichen Rahmenbedingungen gedeihen. Man sollte sich an die hundert kleinen, sinnvollen Reformbewegungen von Unten vor dem Dritten Reich erinnern, die den heutigen „Umwelzungen“ (à la H. Welzer (1)) nicht nachstehen. Nur kam die große Umwälzung dann von Oben und wischte die idyllischen Ansätze von Lebensreform und dergleichen hinweg. Dergleichen Unverhofftes kommt nicht oft, sondern immer, wenn man sich dem strukturellen Bedenken des Ganzen verweigert (und das einseitige Sichdrehen im kleinen Kreis um sich selbst noch „Selbstdenken“ nennt).

7. „Denken hilft schon gar nicht, nachdem alles längst beredet ist.“

Praxisbezogenes Denken ändert jedoch grundlegende Haltungen und geht auf Handeln aus. Daran sollten wir die Produkte unserer intellektuellen „Diskurs“-Führer messen. Das freischwebende intellektualistische Hin- und Herräsonieren ohne tiefgreifende Folgen stellt dagegen ein missbräuchliches, wenn auch hochdotiertes Halbdenken dar. Und vor allem: Es gibt bisweilen Neues unter der Sonne der Erkenntnis, die auf das Gros akademischer Mitläufer und auf die ganz wenigen mutigen Vordenker gleichermaßen scheint!

8. „Weltweit gesehen, könnten wir froh sein, wenn erst einmal alle Länder unsere Sorgen mit der Demokratie hätten.“

Weltweit gesehen haben wir in unseren westlichen Halbdemokratien die besondere Verantwortung, Demokratie für die Entwicklungsländer zu einer attraktiven Wertedemokratie zu machen, in der nicht nur Geldwerte eine Chance haben.

9. „Heute steht erst einmal die ökologische Frage auf der Tagesordnung.“

Der Öko-Dringlichkeitsalarm seit dreißig Jahren führt zur Erhöhung des zivilisatorischen Stresses, aber in der Sache nicht entscheidend weiter, weil keine angemessenen politischen Verwirklichungsstrukturen organisiert sind. Die scheinbaren Natur-Probleme sind in Wahrheit ein großes Gesellschafts- und Demokratieproblem: Uns fehlen (weltweit und national) die geeigneten politischen Institutionen und Steuerungsmittel, ökologische Einsichten sachlich genügend abzusichern und vor allem verbindlich umzusetzen.

10. „Am allerdringlichsten sind aktuell die Probleme der europäischen Wirtschaftspolitik, des Sozialstaates, der Sozialpolitik (Arbeitslosigkeit, Steuern, Rente, Gesundheitswesen usw.)“

Doch gerade an diesen Sachproblemen zeigt sich die Demokratie-Problematik derzeit, besonders krass auf europäischer Ebene: Das Parteiensystem ist strukturell unfähig zu genügend sachlicher Politik, zu durchgreifenden Problemlösungen. Selbst die besten Lösungsansätze kommen in die Mühlen der Parteistrategien, der verschleierten Machtinteressen. Bewahren uns die großen Koalitionen davor besser als das Hickhack zweier Mannschaften nach angelsächsischem Muster?

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(1) Harald Welzer, Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand, Frankfurt 2013.

  • Preis: 4.00 €