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Heft 38: Der Relativismusstreit als Streit um die Aufklärung

Eine historische Fallstudie zu aktuellem Gebrauch: Gustav Radbruch und Hugo Dingler 1934

Von: Oliver Schlaudt

Heft 38: Der Relativismusstreit als Streit um die Aufklärung

Reihe "Philosophische Gespräche", Heft 38, 2015, 64 S.

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Der Autor des vorliegenden Heftes referierte am 6. Februar 2014 im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Philosophische Gespräche“ der „Hellen Panke“ e.V. zum Thema

Die politische Bedeutung philosophischer Grundlagenprobleme. Eine Fallstudie aus dem Jahr 1934: Gustav Radbruch und Hugo Dingler für und wider den Relativismus

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Autor:

PD Dr. Oliver Schlaudt, Promotion 2008, lehrt Wissenschaftstheorie am Philosophischen Seminar der Universität Heidelberg

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INHALT:

1. Einleitung: Der Streit um die Aufklärung                                   

1.1 Anlass: Der „Neue Realismus“                                                             

1.2 Relativismus und Absolutismus/Antirelativismus                            

1.2.1 Absolute oder relative Wahrheit?                                                         

1.2.2 Werturteile und Wirklichkeitsurteile                                                     

1.3 Der politische Kontext: Der Streit um die Aufklärung                    

1.3.1 Die Rhetorik des „Neuen Realismus“                                                   

1.3.2 Ein Echo aus der Vergangenheit

1.4 Philosophie und Politik im Relativismusstreit                                         

2. Fallstudien                                                                                         

2.1 Der Rahmen: Relativismus als Politikum im „Dritten Reich“                

2.2 Fall 1: Gustav Radbruch 1934                                                             

2.2.1 Naturrecht und Rechtspositivismus                                                    

2.2.2 Argumentation des Aufsatzes von 1934                                             

2.2.3 Radbruch nach 1945 – Bekehrung zum Naturrecht?                           

2.3 Fall 2: Hugo Dingler 1934                                                                   

2.3.1 Programm Letztbegründung                                                              

2.3.2 Der Aufsatz von 1934                                                                      

2.3.3 Anmerkungen zur Einordnung                                                          

a) Völkische Rhetorik: „abstrakt“ versus „konkret“                                

b) Das Psychogramm Dinglers und seine soziologische Bedeutung 

3. Diskussion: Was sagt diese Fallstudie aus?                                    

3.1 Dualismen                                                                                          

3.2 Kritische Prüfung: Entwirrungen im Ideologischen                                

3.2.1 Ist das politische Feld überhaupt bipolar strukturiert?                          

3.2.2 Ist der Zuordnungssinn richtig?                                                         

a) Der Absolutismus des Besonderen                                                   

b) Der Relativismus des Allgemeinen                                                                                                                 

c) Spiegelverhältnisse                                                                          

3.3 Ergebnis 

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LESEPROBE:      

1. Einleitung: Der Streit um die Aufklärung

1.1 Anlass: Der „Neue Realismus“

Anlass der Überlegungen, die ich im Folgenden vorstelle, ist eine Strömung in der aktuellen philosophischen Diskussion, die zwar in der akademischen Philosophie ihre Wurzeln hat, aber mit beachtlichem Erfolg eine breitere Rezeption erlangt: der „Neue Realismus“. Ob man hier wirklich von einer philosophischen Strömung sprechen kann oder sich der „Neue Realismus“ nicht vielmehr als Marketing-Gag erweist, wird die Zeit zeigen. Ich suche an dieser Stelle auch keine inhaltliche Auseinandersetzung. Andere haben dies schon getan, und zwar in angemessener Kürze und manchmal auch polemischer Frische, die den Leser erfreuen.[1] Mir geht es an dieser Stelle vielmehr um die politische Bedeutung der heutigen Relativismusdebatte, in welche der Neue Realismus beherzt eingreift. Um die These gleich vorwegzunehmen: Der Neue Realismus empfiehlt seine Relativismuskritik als ein Stück Aufklärung, aber tatsächlich passt sich seine Lehre fugenlos in eine entgegengesetzte Entwicklung ein, nämlich einen gesellschaftlichen Wandel, welcher als „Refeudalisierung und Postdemokratie“ (Sighard Neckel) beschrieben wird und sich in einer neuen gesellschaftlichen Gemütslage ausdrückt, die man in der Soziologie als „rohe Bürgerlichkeit“ (Wilhelm Heitmeyer) oder in der Essayistik unter Anspielung auf die Befindlichkeit der Restaurationsepoche nach dem Wiener Kongress bisweilen auch als „Neobiedermeier“ bezeichnet findet.[2]

Salopp ausgedrückt: Der soziale Wind weht wieder kälter und das Weltbild passt sich an, wobei die Begleitideologie des Neoliberalismus nicht – wie man vielleicht hätte erwarten können – in einem ja gleichwohl noch wissenschaftlich verbrämten Sozialdarwinismus besteht, sondern dezidiert irrationale, religiöse Züge aufweist.[3] Der „Neue Realismus“ liefert dazu gewissermaßen, gewollt oder nicht, die manichäische Metatheorie, nach welcher jeder Pluralismus schon logisch-begrifflich unhaltbar ist, das Gute und Böse, Wahre und Falsche keine Momente der Auseinandersetzung des Menschen mit der Welt und sich selbst darstellen, sondern absolute Eigenschaften des Universums, welche der Neue Realismus im gleißenden Licht seiner Metaphysik aufleuchten lässt. Der Begriff der Refeudalisierung wäre somit treffend nicht nur für die politisch-ökonomischen, sondern auch die weltanschaulichen Veränderungen. Stimmt dies, so wäre der Neue Realismus ein Paradebeispiel mit Aufklärungsrhetorik auftretender Gegenaufklärung – keine Aufklärungsliteratur, sondern eine neue Metaphysik, die sich auf einen neuen Feudalismus reimt.

Eine solche These verlangt natürlich, dass man sowohl allgemeiner zu dem Verhältnis von Philosophie und Politik Stellung nimmt als auch die Behauptung in einer Analyse im Detail einlöst. Ersteres werde ich in diesem einleitenden Teil tun, nachdem ich kurz das Relativismusproblem als philosophischen Kontext des Neuen Realismus umreiße und den eben ausgesprochenen „Ausgangsverdacht“ motiviere. Die Hauptarbeit der Entzifferung des politischen Subtexts der philosophischen Frage folgt im zweiten Teil in Form einer historischen Fallstudie zu einem früheren, im Jahr 1934 angesiedelten Kapitel des uns heute wieder beschäftigenden Relativismusstreits. Die Analyse der komplizierten sachlichen und rhetorischen Verhältnisse des ausgewählten Kapitels kann viel dazu beitragen, dass man die heutige Literatur mit geschultem Blick und Gespür für politische Verwebungen liest.

1.2 Relativismus und Absolutismus/Antirelativismus

Der Neue Realismus bestimmt sich als eine Position im Relativismusstreit, als diejenige nämlich, nach welcher es notwendige und absolute Wahrheiten gibt. Die Relativismusdebatte ist alt. Sie wird oft bis in die Antike rückdatiert, was m.E. aber auf einer problematischen Identifizierung von Relativismus und Skeptizismus beruht. Das 20. Jahrhundert hat sie aber – auch unter diesem Namen – in seiner Gänze begleitet, und in der Gegenwart scheint die Debatte sogar wieder lebhafter zu werden.

1.2.1 Absolute oder relative Wahrheit?

Man kann in erster Näherung ganz einfach sagen, dass nach dem Absolutismus eine jede Wahrheit absolut ist, sprich von nichts abhängt als von der Beschaffenheit der Welt, welche in der wahren Erkenntnis ausgesprochen und somit auf gewisse Weise widergespiegelt wird – daher auch die Bezeichnung als „Realismus“ und, davon abgeleitet, „Neuer Realismus“. Der Relativismus leugnet den absoluten Charakter der Wahrheit und behauptet das Vorhandensein auch anderer bestimmender Faktoren im Urteil. Taxinomien beispielsweise ziehen nicht einfach Grenzen nach, die in der Natur schon vorgezeichnet sind, sondern ergeben sich aus dem Zusammenspiel der Natur einerseits und unseren besonderen Interessen im Umgang mit den Naturdingen, kulturellen Rahmenbedingungen usw. usf. andererseits.[4] Eine Gesellschaft, so könnte man zusammenfassen, findet den Gegenstand ihrer Wissensproduktion nicht einfach vor, sondern ist daran beteiligt, ihn erst hervorzubringen oder zu „konstruieren“. Man spricht daher von „Sozialkonstruktivismus“. Der Relativist nimmt sich somit das Recht heraus, „Tatsachen“ nicht als gegeben hinzunehmen, sondern sie auf ihre historische und soziale Bedingtheit zu befragen. Beide Positionen werfen Fragen auf. Seitens des (Neuen) Realismus stellt sich die Frage, wie die absoluten Wahrheiten erkannt und ihr Anspruch argumentativ eingelöst werden soll. Vom Relativismus hingegen möchte man wissen, von welchem festen Grund aus er seine kritischen Pfeile schießt.

Für den Umgang mit dem Neuen Realismus reicht diese Darstellung schon fast aus. Es sollte lediglich ergänzt werden, dass sich die These der absoluten Wahrheit nicht auf beschreibende Aussagen über die Welt beschränkt, sondern etwa auch auf moralische Aussagen ausgedehnt wird. Dass aber die Wahrheit einer moralischen Bewertung nur von den Eigenschaften und der Beschaffenheit des Redegegenstands abhängt, heißt folgerichtig, dass beispielsweise moralisch relevante Handlungen an sich gut oder schlecht sind. Moral wäre nicht bloß ein Werkzeug zur Regelung unseres Zusammenlebens. Die Laster, so sie denn solche sind, wären es auch noch für den letzten Menschen, da Völlerei, Faulheit und Unglaube „an sich“, und nicht erst in Bezug auf die Gesellschaft und kollektiv geteilte Normen, schlecht zu nennen wären.

1.2.2 Werturteile und Wirklichkeitsurteile

Ich will allerdings vorausschauend auf die Fallstudie versuchen, den Gegenstand des Relativismusstreits noch etwas allgemeiner zu bestimmen. Es ließe sich sagen, dass der Gegenstand dieses Streits die Natur von Werturteilen und der Status ihrer Geltung im allgemeinsten Sinne ist. Es geht also um die Wertung oder wertende Beurteilung. Wir werten verschiedene Gegenstände nach verschiedenen Dimensionen. Die klassischen drei Wertdimensionen, wie sie in der Philosophie seit Platon genannt werden, sind das Wahre, das Gute und das Schöne, also die „alethische“ (wahrheitsmäßige), die moralische und die ästhetische Geltung: Wir bewerten Aussagen nach wahr und falsch, Überzeugungen und Handlungen nach gut und schlecht und Kunstwerke und Naturgegebenheiten nach schön und hässlich. Ergänzen wir noch die logische Wertdimension in der Bewertung von Argumentationen und logischen Schlüssen nach gültig und ungültig. Um bewerten zu können, benötigt man einen Maßstab, ein Ideal oder eine Norm. Sind diese Maßstäbe aber absoluter Natur oder schleicht sich in sie irgendeine Form von Relativität ein? Dies ist das eigentliche Relativismusproblem.

„Absolutisten“ – und dazu gehören die Neuen Realisten – behaupten nicht nur, dass Werturteile absolut sind, sondern auch, dass dies, zumindest für einige Urteile, mit Notwendigkeit so sei, da konsequenter Relativismus letztendlich selbstwidersprüchlich sei. „Relativisten“ hingegen halten an der relativen Natur allen Urteilens fest. Ein wichtiges Argument besteht darin, dass die Urteile und die Maßstäbe des Wertens mit uns Urteilenden und Wertenden als endlichen Wesen vermittelt sein müssen: die Maßstäbe müssen uns kognitiv zugänglich sein, gerechtfertigt werden können und sich in unserem Handeln als wirksam erweisen können. „Relativismus“ bezeichnet dabei wohlgemerkt eine ganze Familie von Theorien, die sich darin unterscheiden, wozu die Relativität ihnen gemäß besteht. Relativität zu subjektiven Präferenzen und Anschauungen, etwa persönlichem Geschmack, ist nur eine Variante des Relativismus, und vielleicht seine uninteressanteste, die von vielen Kritikern aber gleichwohl als sein Prototyp wahrgenommen wird. Relativismus muss aber nicht subjektivistisch sein. Die Relativität kann auch zu soziohistorischen oder auch gattungsmäßigen Faktoren bestehen. In letzterem Fall kann man von Anthropomorphismus sprechen, und ein Vertreter einer solchen Lesart naturwissenschaftlicher Erkenntnis ist Peter Ruben, welcher dem Leser dieser Reihe bekannt sein dürfte. Dieser schrieb 1969 beispielsweise: „Wir sehen damit, welche Unsinnigkeit in der Vorstellung liegt, daß wir einer sogenannten ʻewigen Naturnotwendigkeitʼ ausgeliefert seien, welche uns die Naturwissenschaft verdeutlicht. In Wahrheit liefert uns die Physik die Möglichkeiten der Natur als menschliche Fähigkeiten.“[5] Naturgesetze sind dementsprechend keine Abbildwahrheiten von Naturnotwendigkeiten, sondern Werkzeuge des Menschen. Die Aussagen der Physik versteht Peter Ruben allgemeiner gesprochen als ein vermittelndes Moment im Lebensprozess, in der Auseinandersetzung des Menschen mit der Welt, welcher erst die Geschichte hervorbringt und umgekehrt auch immer in geschichtlich gewordenen Formen stattfindet. Naturerkenntnis ist auf den Menschen als historisches Wesen rückbezogen und damit relativ.

Eine Form von Relativität, welche m.E. besondere Aufmerksamkeit verdient, ist die zwischen „Werturteilen“ und „Wirklichkeitsurteilen“, wie wir sie vorläufig trennen können. Wirklichkeitsurteile beziehen sich der Intention nach auf eine „an sich“, unabhängig vom Wertenden bestehende Wirklichkeit. In diese Klasse fallen insbesondere die empirischen Aussagen. Werturteile erheben sich noch einmal über diese „wertfreien“ Feststellungen, weil sie der Intention nach aufgrund von Feststellungen eine Wertung treffen nach Maßstäben, die an die Tatsachen herangetragen werden. Gegenstand von Werturteilen können auch Wirklichkeitsurteile sein, wie in der Beurteilung einer Aussage als wahr oder falsch, und umgekehrt können Werturteile Gegenstand von Wirklichkeitsurteilen sein, etwa wenn wir feststellen, dass jemand eine Aussage für wahr hält. Dies ist dann ein Wirklichkeitsurteil über ein Werturteil über ein Wirklichkeitsurteil.

In der Iterierung dieser Klassifizierung wird es – nebenbei bemerkt – natürlich schnell unübersichtlich: Wenn man diese Maßstäbe – wie die Absolutisten dies fordern – als vom Menschen unabhängige Gegebenheiten betrachtet, gleichen sich die Werturteile den Wirklichkeitsurteilen in ihrer Objektivität an. Umgekehrt reduzieren sich für den Subjektivismus als extremste Form des Relativismus die Werturteile auf Wirklichkeitsurteile, weil ja auch das subjektive Wohlgefallen eine empirische Tatsache ist.

In der Philosophie werden diese Klassen von Urteilen unter dem Titel von „Sollen und Sein“, „Wert und Tatsache“ oft kategorisch geschieden: Was sein soll, ist deshalb noch nicht, und was ist, muss nicht deshalb schon sein sollen. Was (faktisch) für wahr, gut oder schön gehalten wird, muss deswegen noch nicht wahr, gut oder schön sein, und was („in Wirklichkeit“, d.h. gerade unabhängig von den wirklichen Verhältnissen) wahr, gut oder schön ist, d.h. für wahr, gut oder schön gehalten werden soll, wird deshalb noch lange nicht als solches erachtet. Es scheint mir, dass Relativismus – mindestens in einer seiner interessantesten Varianten, vielleicht aber auch als seine letztendlich allgemeinste Form – die Relativität von Wert- und Wirklichkeitsurteilen behauptet, und zwar die wechselseitige Relativität: Werte sind relativ zu soziohistorischen Faktoren (Tatsachen), und umgekehrt sind Tatsachen als Urteilsinhalte relativ zu Werten wie z.B. den  Erkenntnisinteressen, mit welchen wir an den Gegenstand herangehen.

 [1] Eine ernsthafte und bündige Kritik mit Augenmaß brachte Fillafer 2013 im Merkur, lehrreich ist auch die kurze Kritik von McLaughlin 2008. Magnus Klaue hat eine treffende Polemik in der jungle world gebracht (Klaue 2013). Ich selbst habe mich in dem Buch Was ist empirische Wahrheit? (Frankfurt a.M. 2014) ausführlicher mit dem Relativismusproblem, zu welchem der Neue Realismus Stellung nimmt, auseinandergesetzt. Viele Gedankengänge, die ich hier nur anschneiden kann, finden sich dort ausgeführt (dieser Verweis möge genügen). Umgekehrt ergänzt die hier versuchte Kontextualisierung die dortigen rein theoretischen Überlegungen.

 [2] Siehe Heitmeyer 2012 und Neckel 2013.

 [3] So die These von Veerkamp 2005.

 [4] Dies ist die berühmte These der französischen Soziologen Emile Durkheim und Marcel Mauss, 1903.

 [5] Ruben 1969, S. 35 f.                                                                                 

  • Preis: 4.00 €