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Heft 39: Totalitarismus – eine notwendige Denkfigur des 20. Jahrhunderts?

Fünf historische Stationen des Totalitarismusbegriffs

Von: Alfons Söllner

Heft 39: Totalitarismus – eine notwendige Denkfigur des 20. Jahrhunderts?

Reihe "Philosophische Gespräche", Heft 39, 2015, 60 S.

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Die vorliegende Publikation enthält eine erweiterte Fassung des Vortrages von Prof. Dr. Alfons Söllner, den er in der Reihe „Philosophische Gespräche“ der „Hellen Panke“ am 26. Februar 2015 gehalten hat. Zur weiteren Vertiefung der vieldiskutierten Totalitarismustheorie haben zwei weitere, früher publizierte Texte des Referenten in diesem Heft Aufnahme gefunden.

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 Autor: Prof. em. Dr. Alfons Söllner

1994–2012 Universitäts-Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Technischen Universität Chemnitz

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 INHALT    

Totalitarismus – eine notwendige Denkfigur des 20. Jahrhunderts?

Vortrag im Verein „Helle Panke“ e.V. am 26. Februar 2015

Sigmund Neumanns „Permanent Revolution“ – ein vergessener

Klassiker der modernen Totalitarismusforschung

Zuerst publiziert in:

Totalitarismus. Eine Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts,

vom Autor zusammen mit Ralf Walkenhaus und Karin Wieland

1997 im Berliner Akademieverlag herausgebracht

Frankfurter Schule und Totalitarismustheorie

Zuerst publiziert in:

Mike Schmeitzner (Hrsg.): Totalitarismuskritik von links.

Deutsche Diskurse im 20. Jahrhundert, Göttingen 2008

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LESEPROBE

Totalitarismus – eine notwendige Denkfigur des 20. Jahrhunderts?

Vortrag im Verein „Helle Panke“ am 26. Februar 2015 

Einem emeritierten Professor muss es erlaubt sein, auch einen theoretischen Vortrag mit einer Anekdote zu beginnen: Als ich in den 1990er Jahren am Hamburger Institut für Sozialforschung arbeitete, machte ich den Vorschlag, eine Konferenz zum Totalitarismusbegriff zu organisieren. Nicht ganz unerwartet stieß das Thema aber auf große Abwehr – an einem Institut, an dem nicht wenige Alt-68er untergekommen waren, wollte man lieber am vertrauten Faschismusbegriff festhalten, nicht zuletzt weil man dadurch die totalitären Seiten des Kommunismus weiter unter Tabu stellen konnte. Hätte mir damals Wolfgang Kraushaar nicht unter die Arme gegriffen und dazu aufgerufen, “sich auf’s Eis zu wagen“, so wäre diese Konferenz wohl nie zustande gekommen, ebenso wenig wie das „Totalitarismus“-Buch, das dann 1997 aus diesem Wagnis hervorging. Wir machten darin den Versuch, die ganze, die pluralistische und internationale Geschichte des Begriffs darzustellen und nicht nur seine Instrumentalisierung im Kalten Krieg anzuprangern. Eröffnet war damit ein neuer Zugang zu einer in der Linken festgezurrten Debatte.

Von Carl Schmitt stammt der Satz, dass alle „echten“ politischen Theorien polemischer Natur sind. Wenn man den darin steckenden Zynismus beiseite lässt, so stößt man auf den realistischen Grund, der auch für die Totali-tarismustheorie Geltung hat: sie ist ein Sediment der Politik und steht für die zerklüftete Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts. Und vielleicht lüftet sich deren Geheimnis am ehesten, wenn man von der unmittelbaren Situation Abstand nimmt und sozusagen das umgekehrte Fernrohr benützt. Verfeinert man diese Grobeinstellung zu einer Methode, so kann man nicht nur den Wandel von Ideen darstellen, sondern auch nach ihrer Funktion fragen und vor allem Vergleiche anstellen. Aus der polemischen Not wird dann die Tugend der Kritik. Und in eben diesem Sinne werde ich behaupten, dass sich die Totali-tarismustheorie heute als eine notwendige Denkfigur des 20. Jahrhunderts darstellt. Um dem Begriff die notwendigen Konturen zu verleihen, werde ich fünf historische Stationen des Totalitarismusbegriffs abschreiten, was natürlich nur in Skizzenform möglich ist:

      1. seine „Erfindung“ im Italien der 1920er Jahre,

      2. seine pluralistische Ausformulierung in den 1930er/40er Jahren,

      3. seine Kanonisierung in der Phase des Kalten Krieges,

      4. das Ausklingen des Diskurses in den 1960er Jahren,

      5. und sein Come-back qua Historisierung. 

1. Die „Erfindung“ des Totalitarismusbegriffs in Italien

Zur Entstehung des Totalitarismusbegriffs, die mittlerweile ganz gut dokumentiert ist, will ich mich nur ganz kurz äußern. Vielleicht ist am interessantesten daran, dass sich hier kurzzeitig ein Wechsel von der negativen zu einer positiven Begriffsverwendung ereignet: Während er von liberalen und katholischen Intellektuellen erfunden wird, um sich gegen den „stato totalitario“ des italienischen Faschismus zu positionieren, dreht Mussolini sozusagen den Spieß um und benützt den Begriff zur positiven Zielbestimmung seiner Bewegung: „Alles für den Staat, nichts außerhalb des Staates, nichts gegen den Staat!“, heißt es Anfang der 1930er Jahre in seinem berüchtigten Enzyklopädieartikel. Auch in Deutschland setzen Juristen wie Carl Schmitt und Ernst Forsthoff anfänglich auf den “totalen Staat“, aber als dann 1933 die „nationale Revolution“ erfolgreich durchgesetzt ist, tritt die rassistische und antisemitische Terminologie in der staatsrechtlichen Debatte in den Vordergrund. In der Selbstbezeichnung des Nationalsozialismus wird der Totalitaris-musbegriff bewusst fallen gelassen, er bleibt den Regime-Gegnern überlassen.

  2. Die pluralistische Ausformulierung in den 1930/40er Jahren

Die 1930er Jahre stellen die Etablierungsphase des Totalitarismusbegriffs dar. Dass er nicht nur „in der Luft liegt“, sondern sich der zeitgenössischen Wahrnehmung geradezu aufdrängt, kann man daraus ersehen, dass er in den verschiedensten politischen Lagern Verwendung findet, also keineswegs nur als konservativer Kampfbegriff auftritt. Schon in dieser Frühphase zeigt sich die Vielseitigkeit, aber auch die Vieldeutigkeit des Totalitarismuskonzepts. Diese „pluralistische“ Konstitution, wie man es nennen könnte, trifft sowohl auf die politischen Standorte zu, von denen aus er benützt, als auch auf die Objekte und die Zielvorstellungen, gegen die bzw. für die er in Abschlag gebracht wird. Der Einfachheit halber werde ich exemplarisch verfahren und je einen „rechten“, einen „linken“ und einen „liberalen“ Vertreter der frühen Totalitarismustheorie vorstellen. Gemeinsam ist ihnen die polemische Absicht: stigmatisiert werden die in Etablierung befindlichen zeitgenössischen Diktaturen, die ihrerseits noch einmal nach „rechts“ und „links“, konkret nach Nationalsozialismus/Faschismus und Kommunismus/Bolschewismus unterschieden werden:  

1. Einer der prominentesten konservativen Vertreter der Totalitarismus-theorie ist Waldemar Gurian. Er macht sich in der Weimarer Republik einen Namen als „katholischer Publizist“ und ist schon Ende der 1920er Jahre der Vorstellung auf der Spur, dass zwischen Faschismus und Bolschewismus erhebliche Übereinstimmungen bestehen. Sein Buch: „Der Bolschewismus“ von 1931 ist eine der ersten Regimedarstellungen der Sowjetunion, sie konzentriert sich zwar auf die antikirchlichen Maßnahmen der Bolschewiki, erhebt aber mit dem Konzept der „Ersatzreligion“ den Anspruch, den hochideologischen Charakter des Sowjet-Systems zu treffen. Nachdem Gurian in die Schweiz geflohen ist, legt er 1935 das Pamphlet: „Bolschewismus als Weltgefahr“ vor und überträgt darin seine kommunismuskritischen Überlegungen auf den Nationalsozialismus, den er jetzt sogar als den gefährlicheren Gegner bezeichnet. Die in den „Deutschen Briefen“, einer von ihm herausgegebenen internationalen Korrespondenz dokumentierte Entwicklung in Deutschland wird ihm zum Anschauungsbeispiel, um eine generelle Tendenz der modernen Diktaturen zu verdeutlichen: Sie besteht für ihn in der Durchsetzung einer „totalitären Weltanschauung“, die Propaganda und Terror dazu benützt, alle Bereiche des menschlichen Lebens: Gesellschaft, Staat und Kultur zu durchdringen.

2. Franz Borkenau kann man sich auf einem hypothetischen Spektrum als den politischen Gegenpol vorstellen: er kommt ausdrücklich von der Linken, war in der Weimarer Republik zuerst Kommunist, näherte sich dann der SPD und schloss sich in der Emigration schließlich der Gruppe „Neu Beginnen“ an. Auf diesem Weg exponiert er sich nicht nur als politischer Gegner des Nationalsozialismus, sondern wird auch zu einem unerbittlichen Kritiker des Kommunismus. Was die theoretische Orientierung betrifft, schlägt er in gewissem Sinn die Gurian entgegengesetzte Richtung ein: er geht von der Kritik des Nationalsozialismus aus und überträgt die dabei gewonnenen Leitbegriffe auf den Kommunismus und die Komintern.

Das Ergebnis ist eine ganze Reihe von politischen Pamphleten, die er gegen Ende der 1930er Jahre im englischen Exil publiziert. Die wichtigsten davon sind „The New German Empire“ (1939) und „The Totalitarian Enemy“ (1940), die zu Beginn des Zweiten Weltkriegs eine gewisse Verbreitung finden. Der theoretische Fokus dieser durchaus populären Bücher ist marxistisch, d.h. Borkenau geht von der Ökonomie aus, sieht in der Konzentration des Kapitals einen „Staatskapitalismus“ vorbereitet, der zwangsläufig in den Krieg führt. Schon auf dieser ökonomischen Ebene wird dann der Schritt in die Gleichsetzung des Nationalsozialismus mit dem kommunistischen Staatskapitalismus gemacht: die zentrale These lautet, dass es eine „essential similarity between the German and the Russian systems“ gibt.

Die Durchführung dieser These zeigt allerdings, dass es Borkenau nicht auf theoretische Subtilitäten, sondern auf die politische Positionsbestimmung ankommt: Seine Analyse ist grob und agitatorisch, sie setzt, der zugespitzten Situation des beginnenden Weltkriegs gemäß, mehr auf die rhetorische Wirkung und scheut sich z.B. nicht, besonders seit dem Hitler-Stalin-Pakt, vom „braunen Bolschewismus“ bzw. vom „roten Faschismus“ zu sprechen. Diese polemische Schlagseite würde noch deutlicher hervortreten, wenn man den Vergleich mit anderen, wenig später publizierten Analysen ebenfalls linkssozialistischer Autoren  anstrengen würde: Franz Neumann in seinem „Behemoth“ (1942) und Ernst Fraenkel in seinem „Dual State“ (1941) richten ihr Augenmerk ausschließlich auf den Nationalsozialismus, verzichten also auf den Vergleich mit dem Kommunismus. Dass sie dennoch mit einem Totalitaris-muskonzept operieren und wie sie dies im Einzelnen tun – das ist ein Kapitel für sich, das ich hier nicht aufschlagen kann.

3. Sigmund Neumann steht politisch zwischen den genannten Polen: Er war in Weimarer Republik sozialdemokratisch engagiert, während man die Haltung, die er in der amerikanischen Emigration als Hochschullehrer einnimmt, als linksliberal bezeichnen könnte. Das ist deswegen nicht unwichtig, weil diese Einstellung offenbar günstige Voraussetzungen für eine differenzierte Vergleichsstrategie mit sich brachte. Sein Buch: „Permanent Revolution“ (1942) ist dafür der schlagende Beweis, und dennoch ist gerade dieses Buch mehr in Vergessenheit geraten als alle anderen Werke, die von deutschen Emigranten während des Zweiten Weltkriegs in den USA veröffentlich wurden. Ich musste es in den 1990er Jahren geradezu „ausgraben“, und erst im vergangenen Jahr – 60 Jahre später – ist es ins Deutsche übersetzt worden, und zwar von Gerhard Besier, der es sich nicht nehmen ließ, nach seinem Gastspiel bei der sächsischen Linkspartei auch noch ein „Sigmund-Neumann-Institut“ zu gründen.

„Permanent Revolution“, lange Zeit ein „vergessener Klassiker“, hält sogar für die aktuelle Forschung Anregungen bereit – dafür kann man eine ganze Reihe von Argumenten anführen: Einmal bezieht Neumann tatsächlich alle drei Regime gleichermaßen ein: den italienischen Faschismus, die Sowjetunion und den Nationalsozialismus, auch wenn der letztere als der mächtigste Kriegsgegner natürlich besondere Aufmerksamkeit erfährt. Zweitens ist die Analyse sowohl historisch-genetisch wie strukturanalytisch angelegt: es geht um die Entstehung der modernen Diktaturen aus den Trümmern der zerfallenden „alten Ordnung“ in Europa. Ihre Etablierung ist drittens ein Krisenprozess, der sich in rasender Dynamik entfaltet: „Permanent revolution“, ursprünglich ein Terminus von Trotzki, bedeutet die Institutionalisierung einer Aggressionsspirale nach innen – gegen die „Feinde“ des Regimes – wie nach außen – kriegerische Expansion als raison d’être.

Das entscheidende Verdienst aber ist fünftens ein methodisches, nämlich die durchgehende Anwendung der Vergleichsstrategie: Neumann geht es nicht primär um Gleichsetzung, sondern um den echten Vergleich, aus dem sich die Leitbegriffe der Analyse erst ergeben: Sie lauten u.a. Führerprinzip (einschließlich der „zweiten Reihe“), Einparteienstaat, Massenkontrolle durch Ideologie und Terror, totaler Krieg, alles Begriffe, die sich später als die zentralen Topoi der Totalitarismusdebatte auskristallisieren. Wie ernst Neumann die Vergleichsmethode nimmt, sieht man auch daran, dass er nicht davor zurückschreckt, die demokratischen Verfassungsstaaten der westlichen Welt in seine Betrachtung mit einzubeziehen („definition by contrast“), aber natürlich treten dabei mehr Unterschiede als Ähnlichkeiten mit den „totalitären Diktaturen“ hervor.

In der Literatur ist darüber spekuliert worden, warum nach 1942, also nach den großen Büchern der „beiden Neumanns“ so etwas wie ein Moratorium in der Totalitarismusdiskussion eingetreten ist: Gab es auch unter den engagierten Intellektuellen eine Art Schonfrist für die Sowjetunion, eine politisch bedingte Rücksichtnahme, solange die Anti-Hitler-Koalition bestand und der Bündnispartner im Kampf gegen die Achsenmächte nicht brüskiert werden durfte? Die Frage ist zumindest geeignet, auf die grundlegende Veränderung der internationalen Konstellation hinweisen, die mit dem Kalten Krieg eintrat und die bekanntlich zur immer stärkeren ideologischen Aufladung des Ost-West-Konflikts geführt hat.

3. Die Totalitarismustheorie im Kalten Krieg

In der Epoche des Kalten Krieges hatte die Totalitarismustheorie ohne Zweifel ihre Hochkonjunktur. Dennoch ist es problematisch, die aus dieser Zeit stammenden Werke als die „Klassiker der Totalitarismustheorie“ zu bezeichnen, assoziiert man mit diesem Titel doch normalerweise eine unbestrittene Geltung. Die gab es für das Totalitarismuskonzept auch nach dem Zweiten Weltkrieg nicht. Wohl aber kam es in dieser Zeit zur Komplettierung und definitorischen Fixierung des Begriffs, was ihn zur politischen Metapher geeignet machte. Das daraus entstehende Konstrukt zeigte mindestens drei Gesichtspunkte, die stark ausgeprägt waren und bis heute eine Art von Minimaldefinition des Totalitarismuskonzepts darstellen:

Ins Zentrum tritt jetzt die direkte Gleichsetzung von Stalinismus und Nationalsozialismus; analog dazu kommt es zur verstärkten Ausformung als „Theorie“ und damit zur Verwissenschaftlichung des Begriffs; schließlich ist seine ideologische Funktionalisierung auch dann unvermeidlich, wenn sie gar nicht primär intendiert ist, der Systemkonflikt zwischen Ost und West war im wörtlichen Sinn penetrant. Alles in allem handelte es sich also um eine Einheit von Widersprüchen, die jetzt sogar in paradoxer Steigerung auftraten, weil Ideologie und Verwissenschaftlichung ja offensichtlich in Spannung zueinander stehen. Ich greife nur die beiden bekanntesten Beispiele heraus, die ihrerseits für zwei verschiedene Varianten der genannten Paradoxie stehen:  

1. Hannah Arendt: die philosophische Schärfung der TotalitarismustheorieHannah Arendt ist seit dem internationalen Erdrutsch von 1989 zu der bekanntesten Vertreterin des politischen Denkens überhaupt aufgestiegen. Dass diese Karriere möglich wurde, hängt maßgeblich mit ihrem Buch „The Origins of Totalitarianism“ zusammen. Es war nämlich nichts weniger als ein Knalleffekt, mit dem dieses Buch 1951 in die politische Öffentlichkeit der Nachkriegsgeschichte buchstäblich einschlug: Hannah Arendt war damit die bekannteste Vertreterin des Totalitarismuskonzepts geworden und ist es auch geblieben. Um diesen Gedanken zu Ende zu denken, kann man drei Überraschungseffekte an Hannah Arendts publizistischem Erstling herausstellen:

Anders als Sigmund Neumann, den sie gleichwohl intensiv rezipiert hatte, ging Hannah Arendt von vornherein von der Annahme aus, dass Nationalsozialismus und Stalinismus, wie sie sagte, „wesensgleiche“ Regime seien, aber sie verstärkte diese These noch einmal absichtsvoll: Sie behauptete nämlich, dass mit diesen modernen Diktaturen etwas „ganz Neues“ in die Geschichte eingetreten sei, dass also der Totalitarismus ein „singuläres“, daher „inkommensurables“ Phänomen sei. Damit aber waren zentrale Grundannahmen der wissenschaftlichen Forschung in Frage gestellt: die Kausalität historischer Prozesse und dementsprechend die Möglichkeit, sie wissenschaftlich herzuleiten und zumal sie sozialwissenschaftlich zu „erklären“, worauf doch die „modernsten“ der amerikanischen Wissenschaftler, die Vertreter der empirischen social sciences so stolz waren. 

Das lief auf eine Provokation hinaus, und sie wirkte umso schärfer, als die Behandlung des Totalitarismus im dritten Kapitel ihres Buches in einem durchaus ungeklärten Verhältnis zu den beiden vorausgehenden Kapiteln verblieb, in denen mit dem Antisemitismus und dem Imperialismus des 19. Jahrhunderts gleichsam die Vorgeschichte der modernen Totalitarismen rekonstruiert wurde. Hannah Arendt hatte offensichtlich wenig Interesse an methodologischen Fragen, und was sie später dazu antwortete, etwa dass die antisemitischen Bewegungen und die imperialistische Aufteilung der Welt so etwas seien wie „totalitäre Kristallisationen“ – im Unterschied zur Herausbildung der totalitären Herrschaft im 20. Jahrhundert selber, waren eher Verlegenheitsformeln als überzeugende Argumente.

Aber solche Kritik nahm Hannah Arendts Darstellung der „Ursprünge und Elemente der totalen Herrschaft“, wie das Buch in der deutschen Übersetzung dann hieß, weder von ihrer starker Seite noch verhinderte sie seine Rezeption, die sofort und vor allem international einsetzte. Diese lebte nämlich von einem grundsätzlich „anderen“ Zugriff auf das Thema, den man als philosophische Interpretation des Totalitarismus aus dem Geist des deutschen Existentialismus charakterisieren könnte. In sie ging neben der persönlichen Betroffenheit als verfolgte deutsche Jüdin noch ein weiteres Element aus der verwickelten Denkgeschichte des 20. Jahrhunderts ein: Hannah Arendt übersetzte das Schockerlebnis der totalitären Regime in eine neue und intensive philosophische Sprache, die von Heidegger und Jaspers stammte, und verstand es somit, deren Isoliertheit von der Sphäre des Politischen zu überwinden. Ihre Schilderung der totalitären Erfahrung geriet so eindringlich, weil sie existentialistische Grundbegriffe wie „Verlassenheit“, „Weltlosigkeit“, „Zerstörung der menschlichen Natur“ usf. direkt auf die Schilderung der bislang unvorstellbaren Lager- und Vernichtungswelt besonders des Nationalsozialismus münzte.

Ins Zentrum dieser Interpretation, die auf die „Wesenseigenschaften“ der totalitären Regime zielte, traten Ideologie und Terror, d.h. Herrschaftsmethoden, von denen alle anderen Dimensionen des sozialen und politischen Lebens nicht so sehr überlagert als vielmehr intensiv durchdrungen wurden: Zu den gesellschaftlich maßgeblichen Institutionen stiegen der Parteiapparat und seine Untergliederungen, die Geheimpolizei, vor allem die Konzentrations- und Vernichtungslager auf – in den letzteren identifizierte Hannah Arendt die   „eigentlich zentrale Institution des totalen Macht- und Organisationsapparats“, in denen der Mensch als solcher zerrieben wurde: ihre grauenerregende Wirkung bestand für sie darin, die Freiheit, die Rechte und die Würde des Menschen zu annullieren – die Lager demonstrierten und praktizierten die „Überflüssigkeit des Menschen“. Hannah Arendt entwarf eine radikal negative Anthropologie, die zeitgeschichtliche Tatsachen in eine unwiderstehliche Sprache packte!

Auch wenn die oben genannten methodologischen Einwände bis heute nicht ausgeräumt sind und auch wenn offensichtlich ist, dass der Bolschewismus im Vergleich zum Nationalsozialismus bei Hannah Arendt nur eine untergeordnete Rolle spielte, was aus Gründen der historischen Forschungslage anders gar nicht möglich war – ihr großes Verdienst ist und bleibt die Einführung des Holocaust, des Antisemitismus und der Judenvernichtung als der entscheidenden Tatsache, die dadurch – und eigentlich entgegen der Totalitarismus-gleichung – zum Signum der modernen Geschichte geworden ist. Die andere Frage, die sich daraus ergab und deren Beantwortung noch eine ganze Weile auf sich warten ließ, betraf die analogen Enthüllungen über den GULaG und insgesamt die Verbrechensgeschichte des Stalinismus.

2. Friedrich und Brzezinski – die Verwissenschaftlichung des Totalitarismuskonzepts

Wenn es richtig ist, dass die Durchschlagskraft von Hannah Arendts Totalitarismustheorie u.a. mit ihrer Skepsis gegenüber den modernen Sozialwissenschaften zusammenhing, dann kann man die Bedeutung des Autorenduos Friedrich/Brzezinski in mancher Hinsicht an der Verfolgung des entgegengesetzten Denkweges festmachen. Carl Joachim Friedrich hatte bereits seit den 1930er Jahren an der Harvard University vergleichende Regierungslehre betrieben, mit Zbigniew Brzezinski gesellte sich zu ihm ein russisch-stämmiger Kenner des Bolschewismus, und aus dieser Kooperation ging 1956 ihr „Totalitarian Dictatorship and Autocracy“ hervor, das 1957 als „Totalitäre Diktatur“ ins Deutsche übersetzt wurde. Das Buch bewegte sich im mainstream der amerikanischen political science, der empirisch ausgerichtet und einem technizistischen Methodenideal verpflichtet war.

Diese Ausrichtung wird schon in der Einleitung des Buches ganz deutlich: das historische Phänomen der totalitären Diktatur wird auf ein idealtypisches Modell hin abgezogen und anhand von sechs Merkmalen „definiert“ – diese Definitionskriterien sind ebenso berühmt wie berüchtigt, weil ihre Aufzählung bis heute zu den beliebtesten Standardfragen in politikwissenschaftlichen Prüfungen gehört. Verkürzt, wie die Antworten in aller Regel ausfallen, lauten sie:

- allumfassende Ideologie

- Einparteiensystem mit Führerprinzip

- terroristische Geheimpolizei

- Nachrichten- und Propagandamonopol

- Waffenmonopol

- zentral gelenkte Wirtschaft

Dieses „set“ von totalitären Merkmalen wird dann vergleichsweise schematisch durchdekliniert, natürlich nicht ohne eine Fülle von historischen Details und empirischen Informationen anzubringen, wobei, ähnlich wie bei Hannah Arendt, jeweils der Nationalsozialismus und der Sowjetkommunismus als die Paradebeispiele dienen. Dabei konnten die Autoren jetzt, Mitte der 1950er Jahre, auch für die kommunistischen Regime auf eine viel breitere Materialbasis zurückgreifen. Hinzu kam, dass Brzezinski von Hause aus Sowjetspezialist war, d.h. auf einem Feld der Wissenschaftsentwicklung bewandert, das in der Hochphase des Kalten Krieges von steigender außenpolitischer Bedeutung war und entsprechend innenpolitisch gefördert wurde. Die amerikanischen Sowjetologie war in der Nachkriegszeit zu gleichen Stücken ein Projekt der International Relations wie es die Voraussetzungen für die Ausbildung einer vergleichende Regimelehre schuf, wobei es eine Frage der wissenschaftlichen Hygiene war, ob und wie weit der Ost-West-Konflikt die wissenschaftlichen Auseinandersetzungen eintrübte.

Die Kritik, die an Friedrich/Brzezinski geübt wurde, arbeitete sich u.a. an den Mängeln der Idealtypenkonstruktion ab, die gegenüber den erheblichen historischen Unterschieden zwischen der kommunistischen und der nationalsozialistischen Variante der „modernen totalitären Diktatur“, wie der Terminus lautete, unempfindlich seien. Die schematische Gleichsetzung schien auf manchen Gebieten überzogen zu sein: War die hochmonopolisierte Wirtschaft in Nazideutschland tatsächlich in demselben Sinn eine „zentral gelenkte Wirtschaft“ wie die von Rationalitäts- und Materialmängeln geplagte Planwirtschaft der Sowjetunion? Waren die technischen Aspekte der Herrschaftsausübung – auch hier standen Ideologie und Terror an vorderster Front – nicht allzu einseitig hervorgehoben, während die Mentalitäten und die Inhalte der ideologischen Armierung der verschiedenen Regime vernachlässigt wurden, nicht zuletzt weil der historische und soziale Kontext fehlte? Trotzdem wurde die Totalitarismustheorie von Friedrich und Brzezinski in der westlichen Hemisphäre und der dazugehörigen Politikwissenschaft bis weit in die 1960er Jahre hinein zur „herrschenden Lehre“

3. Die ideologische Spiegelfunktion der Totalitarismustheorie

Dass die Totalitarismustheorie in den beiden Nachkriegsjahrzehnten eine der wichtigen Waffen des Antikommunismus war, ist unbestreitbar. Zu keiner Zeit in ihrer vielgestaltigen Geschichte kam dem Konzept eine so starke und direkte symbolische Bedeutung zu wie in der Hochphase des Kalten Krieges: Wenn die weltpolitische Lage in dieser Epoche durch die Systemkonkurrenz zwischen den Blöcken, durch den Ost-West-Konflikt geradezu definiert war, so passte in diese Konfrontation nichts besser als die mehr oder weniger direkte Gleichsetzung von Nationalsozialismus und Sowjetkommunismus. Diesen als Zwillingsbruder des untergegangenen Nazireiches zu denunzieren, erfüllte im Westen einen doppelten Zweck: einmal war der aktuelle Systemgegner dadurch als „politischer Feind“ gebrandmarkt, zum andern – und gleichsam im Umkehrschluss – konnte das eigene politische System, die westliche Demokratie, ein Surplus an Legitimation einstreichen.

Tatsächlich war „Totalitarismus“ in den westlichen Ländern – und nicht zuletzt in der Bundesrepublik als dem Nadelöhr des Ost-West-Konflikts – bis weit hinein in die Tagespolitik eine beliebte Feindmetapher, sowohl um den äußeren Feind zu denunzieren als auch um den innenpolitischen Gegner mundtot zu machen – dem Totalitarismusbegriff kam in Westen offensichtlich eine ähnliche Rolle zu wie dem Faschismusbegriff im Sowjetblock!

Damit aber ist noch nicht geklärt, warum die Totalitarismustheorie diese ihre Funktion so passgenau erfüllen kann. Dafür muss man sich auf das konzen-trieren, was man ihre ideologische Spiegelfunktion nennen könnte. Geht man die einzelnen Merkmale der totalitären Herrschaftsform durch, wie sie besonders durch die Idealtypenbildung bei Friedrich/Brzezinski hervortreten, so gibt es tatsächlich nicht nur auffällige Entsprechungen, vielmehr sind die Merkmale der westlichen Demokratietheorie in ziemlich genauer Analogie zu den Merkmalen der Totalitarismustheorie konstruiert, bezogen zwar als deren bestimmte Negation:

allumfassende Ideologie          versus      Meinungspluralismus

Einparteiensystem                    versus      Mehrparteiensystem

terroristische Geheimpolizei    versus      Rechtsstaatlichkeit

Propagandamonopol                 versus      freie Öffentlichkeit

Planwirtschaft                           versus      Marktwirtschaft

Dies festzustellen, ist freilich noch kein Präjudiz – weder für die Sachfrage noch für die Methode zu ihrer Beantwortung, ob und wie weit westliche Repräsentativdemokratien und östliche Volksdemokratien mit guten Gründen miteinander verglichen worden sind. Umgekehrt wird man aus der Tatsache, dass der Westen kaum eine Generation später den Systemwettbewerb für sich entschieden hat, weder eine nachträgliche Rechtfertigung dieser Form der Totalitarismustheorie noch eine aktuelle Rechtfertigung der westlichen Lebensweise ableiten können; es waren nämlich verschiedene Lebensentwürfe – und nicht nur politische Regime, die miteinander konkurrierten, und auf dieser Ebene bewegt man sich am fairsten, wenn man fragt, ob es nicht in Wirklichkeit die eigenen Ansprüche waren, an denen der Realsozialismus gescheitert ist!

4. Totalitarismustheorie als Auslaufmodell – die 1960er/70er Jahre

Wie tief die Totalitarismustheorie in den Ideologiehaushalt des Kalten Krieges eingebunden war, kann man auch daran erkennen, dass sie in demselben Maß an Bedeutung verlor wie sich die internationalen Beziehungen entspannten. Sie war für die westliche Politik sozusagen überflüssig, wenn nicht sogar hinderlich geworden. Die dadurch angezeigten Veränderungen hatten viele Erscheinungsformen, wie überhaupt großflächige Umbrüche des politischen Bewusstseins immer mehrdimensional begründet sind. Ich nenne nur die folgenden drei, die eng miteinander zusammenhingen und sich gegenseitig verstärkten:

Bei allem Auf und Ab in beiden Lagern setzte seit Anfang der 1960er Jahre in den Ost-West-Beziehungen ein Tauwetter ein, das länger anhielt als die kurzfristige Liberalisierung im Gefolge der Entstalinisierung. Dafür steht in der Sowjetpolitik die Ära Breshnew und in der Bundesrepublik die auf Verständigung und Entspannung zielende Ostpolitik von Willy Brandt, die ja schon die ganzen 1960er Jahre über sozusagen in der Schublade lag. Mit der sozial-liberalen Koalition Brandt-Scheel wurde die Verständigungspolitik 1969 zur offiziellen Regierungspolitik, die sich nicht nur auf die DDR richtete, sondern zu einer Vielzahl von bi-nationalen Abkommen führte, die ab 1973 ihrerseits vom sog. KSZE-Prozess international flankiert wurden.

Parallel dazu und deutlich mitbewirkt durch die Abmilderung des Ost-West-Konflikts kam es zu Auflockerungen der politischen Kultur, die viele Dogmen der Nachkriegszeit in Frage stellten und deren Höhepunkt heute mit dem Kürzel „1968“ bezeichnet wird. Die sog. Studentenbewegung war nichts weniger als eine „Kulturrevolution“, die eine hektische Aufbruchsstimmung entflammte und die gesamte westliche Welt erfasste. Die politischen Schlagwörter lauteten jetzt: Kampf gegen den Vietnamkrieg, Antikapitalismus, Antiamerikanismus und – am wichtigsten für unser Thema – eine neue und positive Ausrichtung auf die Ideenwelt des Sozialismus. Dementsprechend trat der für die westliche Politik so typische Antikommunismus in den Hintergrund und wurde durch einen alt-neuen Antifaschismus ersetzt, der teils aus dem Ostblock oder vom kommunistischen China übernommen, teils durch den Rückgriff auf die Debatten der 1930er Jahre, z.B. die sog. Frankfurter Schule, gespeist wurde. Nimmt man sozialpsychologische Faktoren hinzu, wie sie durch die so genannte sexuelle Revolution bezeichnet sind, so zeigt sich, wie tief die Veränderungen anzusetzen sind, die sich – gleichsam an der Spitze des Eisbergs – als politische Demontage des Totalitarismuskonzepts darstellten.

Am signifikantesten und langfristig folgenreich waren schließlich die Veränderungen, die sich im engeren Wissenschaftssystem durchsetzten: Einmal kam es zur sachlichen wie methodologischen Ausdifferenzierung der Forschung, in unserem Fall zum fortschreitenden Auseinandertreten von Nationalsozialismusforschung einerseits, Sowjetforschung andererseits. Auf die stürmische Entwicklung der letzteren in den USA wurde bereits hingewiesen, analog dazu entwickelte sich in Westdeutschland eine spezialisierte DDR-Forschung, in der die sog. Volksdemokratien als eigenständige Systeme behandelt, d.h. vor allem von innen heraus verstanden wurden, was eine methodologische Anerkennung der dort herrschenden Wertvorstellungen voraussetzte. Es war exakt diese „immanent“ ansetzende Kommunismusforschung, die das Totalitarismusmodell nicht nur ersetzte, sondern aus seiner Kritik geradezu hervorgegangen war.

Exemplarisch lässt sich dieser Vorgang, der sich in der Bundesrepublik der 1960er Jahre herauskristallisierte, an der Theoriebildung des Berliner Politikwissenschaftlers Peter Christian Ludz studieren: Schon 1961 hatte er auf „offene Fragen der Totalitarismustheorie“ hingewiesen, im Laufe des Jahrzehnts wurde ihm die plakative Gleichsetzung von Stalinismus und Faschismus zum Hindernis, um zu einer wirklich „wissenschaftlichen“ Analyse des DDR-Systems zu kommen, und 1968 publizierte er schließlich das Buch: „Parteieliten im Wandel“, eine soziologische Darstellung des DDR-Herrschaftssystems, die sich immanent an der Ideologie und an den Institutionen des SED-Staates abarbeitete, aber demonstrativ auf den Totalitarismusbegriff verzichtete. Dass die Aktivisten der Studentenbewegung mit dergleichen Subtilitäten wenig am Hut hatten, steht auf einem anderen Blatt, während der hartnäckig festgehaltene Antifaschismus der späteren K-Gruppen nur allzu offensichtlich die Funktion hatte, die Leichen im Keller der stalinistischen Vergangenheit zu verstecken.  

5. Nach 1989: Come back und/oder Historisierung der Totalitarismustheorie?

Jeder Historiker, auch der Ideenhistoriker gerät in die Defensive, wenn es um die Beurteilung der Gegenwart geht: Was neu ist, mag aktuell sein, aber gerade das erweist sich oft nur als verkleidete Wiederholung des Alten. Dennoch kann man mit Fug und Recht sagen, dass die Totalitarismustheorie um 1989 noch einmal eine beachtliche Renaissance erlebte – was zunächst nur als kurzfristiges come back erschien, wurde langfristig Teil des naturwüchsiges Prozesses, den man als „Historisierung“ bezeichnet. Vielleicht könnte man auch von der Naturgeschichte des menschlichen Erinnerns und Vergessens sprechen: Historisierung schafft einerseits Distanz, führt aber genau so oft zum Wiederaufleben gerade des Vergessenen, das dann bisweilen sogar eine ganz besonders dringende Aktualität anmeldet.

Historisierung und Reaktualisierung – vielleicht ist es dieses Begriffspaar, also die Einheit der Widersprüche, mit dem sich das seltsame Doppelleben der Totalitarismustheorie in der Gegenwart am ehesten beschreiben lässt. Ich nenne ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit einige Beispiele:

1. Schon vor und während des Zusammenbruchs der Warschauer-Pakt-Staaten hatte der Totalitarismusbegriff eine bemerkenswerte Konjunktur, und zwar ganz besonders in der Gestalt einer fast heroisierten Hannah Arendt: ihr Denken diente den Dissidenten besonders in Polen, der Tschechoslowakei sowie in Ungarn als eine Art Leuchtsignal, als Schlüsselwort für die Kritik am Sowjetkommunismus und seiner Hegemonie in Osteuropa, es beflügelte und begründete ihre Systemkritik gleichzeitig.

2. In untergründigem Zusammenhang damit gab es bei Teilen der westeuropäischen und besonders der westdeutschen Linken eine Art von Betroffenheits- oder gar Schamreaktion angesichts der spektakulären Enthüllungen, die nach dem Mauerfall ans Licht der Öffentlichkeit traten. Besonders die Machenschaften der Staatsicherheit und das pure Ausmaß der Durchdringung der gesamten DDR-Gesellschaft durch sie machten den Begriff von neuem plausibel: die Stasi als „totalitäre Krake“!

3. Parallel dazu erlebte der Begriff eine gewisse Auffrischung in der politikwissenschaftlichen Deutschlandforschung, wie ich an meinem Chemnitzer Kollegen Eckard Jesse hautnah erfahren konnte: er diente jetzt als zeitgeschichtliche Kontinuitätsbrücke, um den Weg von der „ersten“ zur „zweiten“ Diktatur in Deutschland, vom Nationalsozialismus zur DDR zu gehen – und nicht zu vergessen: die „neue“ Bundesrepublik als den rettenden Ausgang aus dieser Dunkelstrecke der Zeitgeschichte zu finden. Zu einer innovativen Theoriebildung kam es dabei nicht.

4. Umgekehrt aber ist es ebenso interessant, dass der Totalitarismusbegriff in der Gegenwart kaum auf die Phänomene Anwendung findet, in denen politische Gewalt oder sogar Terror in großem Stil nicht bloß als Mittel, sondern sogar als Ziel propagiert wird. Wie schon die Stigmatisierung des älteren Linksterrorismus läuft auch die Bekämpfung des islamischen Terrorismus bis hin zu den hochaktuellen Fragen der richtigen Reaktion auf die Mordfeldzüge des „Islamischen Staates“ eher über Begriffe wie „Radikalismus“ oder „Extremismus“. Steckt darin nicht eine gewisse Verharmlosung?

5. Schließlich ein provinzielles Beispiel: Noch in der herbstlichen Debatte um die Frage, ob die DDR als „Unrechtsstaat“ zu bezeichnen sei oder nicht, kann man ein letztes Wetterleuchten der Totalitarismustheorie sehen. Was in den Reihen der etablierten Parteien nur der allzu offensichtliche Versuch war, Bodo Ramelow als den „ersten Ministerpräsidenten der Linkspartei“ zu verhindern, duldet auch bei den mehr oder weniger glücklichen Gegenreaktionen keinen Vergleich zu der Hitze, mit der über den Begriff einst gestritten worden ist.

6. Einen alternativen Weg der Historisierung beschreiten die Versuche, das Totalitarismuskonzept zum Leitbegriff der politischen Ideengeschichte zu machen. Ein Beispiel dafür haben Sie soeben vorgeführt bekommen: ich sehe im Totalitarismuskonzept vor allem eine Art von Spiegel oder, sofern ich den Zwittercharakter und die Mehrdeutigkeit des Konzepts betont habe, ein Kaleidoskop, um die vielfältigen Brechungen zwischen Politik und Wissenschaft im 20. Jahrhundert zu beleuchten und in die größere historische Perspektive zu stellen.

In diesem Sinne hoffe ich, meine Titelfrage beantwortet zu haben:

Ja, Totalitarismus – das ist tatsächlich eine notwendige Denkfigur des 20. Jahrhunderts! 

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