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Heft 211: Postwachstum als Transformationsperspektive

Diskurs und Bewegung, Übergänge und Spannungen

Von: Frank Adler, Jana Flemming/Norbert Reuter

Heft 211: Postwachstum als Transformationsperspektive

Reihe "Pankower Vorträge", Heft 211, 2017, 64 S.

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Das vorliegende Heft enthält zwei Beiträge, die in der Veranstaltung der „Hellen Panke“ e.V. am 29. Mai 2017 zum Thema "Postwachstumspolitiken" – (Um-)Wege in eine wachstumsunabhängige Gesellschaft als Diskussionsgrundlage gedient haben.

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AutorInnen

Frank Adler
Dr. sc., Soziologe, arbeitet zu Wachstumskritik/Postwachstum/sozial-ökologische Transformation, hat mehrere Publikationen zu dieser Problematik vorgelegt, jüngst Mitherausgeber und Ko-Autor von Postwachstumspolitiken: Wege zur wachstumsunabhängigen Gesellschaft, oekom-Verlag 2017

Jana Flemming
Dipl. Sozialwissenschaftlerin, Doktorandin an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, untersucht Perspektiven sozial-ökologischer Lebensweisen am Beispiel von Beschäftigten und Gewerkschaften

Norbert Reuter
Dr. habil., Leiter der Tarifpolitischen Grundsatzabteilung im Bundesvorstand der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) in Berlin und Privatdozent für Volkswirtschaftslehre an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule (RWTH) in Aachen, Autor mehrerer Publikationen zu Wachstumsfragen, u.a. Wachstumseuphorie und Verteilungsneutralität, Metropolis-Verlag 2007 Marburg

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INHALT

Frank Adler

Postwachstum

Diskurs und Bewegung, Visionen und Übergänge

1. Was ist Wachstum, worauf zielen Wachstumskritik und Postwachstum/Degrowth?
2. Drei Phasen des wachstumskritischen Diskurses
3. Warum Postwachstum? Argumente für eine emanzipatorische PW- Transformation
4. Visionen einer Postwachstumsgesellschaft
5. Übergänge zu Postwachstum demokratisch gestalten – aber wie und wer?

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Jana Flemming/Norbert Reuter

Gewerkschaften und Degrowth

1. An die eigene Geschichte anknüpfen: Sozial-ökologische Transformation als Teil gewerkschaftlicher Interessenvertretung?
2. Zementierte Differenzen, ignorierte Gemeinsamkeiten
3. Die Produktions- und Lebensweise umgestalten: Gerechte Übergänge für alle!
4. Gemeinsame Perspektive von Gewerkschaften und sozialen Bewegungen: Die Überwindung sozialer Ungleichheiten und die Gestaltung einer sozial-ökologischen Produktions- und Lebensweise

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LESEPROBE

Frank Adler

Postwachstum

Diskurs und Bewegung, Visionen und Übergänge

Spätestens mit der multiplen Krise seit 2007/2008 hat die Wachstumskritik eine Renaissance erlebt. Konferenzen mit mehreren Tausend Teilnehmern, eine Wachstums-Enquete des Deutschen Bundestages[1], viele sozialwissenschaftliche Publikationen mit z.T. hohen Auflagen belegen dies ebenso wie die Ankunft des Themas im Feuilleton, bei sozialen Bewegungen und einer breiteren Öffentlichkeit. Auch ist von einer nunmehr ebenfalls in Deutschland entstehenden Postwachstums- oder Degrowth-Bewegung die Rede.

„Wachstumskritik“ und „Postwachstum“ (PW) sind thematische Dächer für unterschiedliche Varianten von Gesellschaftskritik. Sie unterscheiden sich in ihren kritischen Diagnosen ebenso wie in den Alternativ-Visionen einer Postwachstumsgesellschaft (PWG) oder ihren Vorstellungen von politischen Übergangsstrategien und -projekten. Das führt mitunter zu einseitigen Wahrnehmungen und verleitet manchen Kritiker dazu, eine bestimmte Strömung oder prominente Stimme für das Ganze von Wachstumskritik zu halten. So wird sie z.T. auf ökologische Kritik reduziert oder als sozial unsensible romantische Kulturkritik der Gesättigten dargestellt, „Lohnzurückhaltung“ legitimierend. Andere unterstellen als ihren Kern einen sofortigen Übergang zu Nullwachstum. Für das Gros der Ökonomen ist nach wie vor eine wachstumsunabhängige Wirtschaft und Gesellschaft eine Horrorvorstellung, das Ende jeglicher Entwicklung. Auch für Teile der linken Kapitalismuskritik und Transformationsforschung existiert Wachstumskritik/PW/Degrowth kaum als ein ernstzunehmendes Phänomen. (Adler 2015)

Vor diesem Hintergrund scheint es mir sinnvoll, einen etwas breit angelegten Überblick zu dieser Thematik anzubieten. Ich beginne mit einigen unumgänglicher begrifflichen „Essentials“ (1.), wende mich dann den drei Phasen des wachstumskritischen Diskurses seit den 1960er Jahren zu (2.), auch um die Vielfalt seiner Quellen und Strömungen anzudeuten. Anschließend stelle ich fünf Argumente vor, die PW als wünschenswerte emanzipatorische Transformationsperspektive begründen (3.). Dann versuche ich, anhand weniger Merkmale oder Prinzipien zu illustrieren, inwiefern sich eine PWG von gegenwärtigen modern kapitalistischen Gesellschaften des globalen Nordens unterscheiden sollte (4.). Abschließend gehe ich auf die schwierige Frage ein, wie man sich einen demokratischen Übergang zu einer PWG vorstellen könnte (5.).

1. Was ist Wachstum, worauf zielen Wachstumskritik und Postwachstum/Degrowth?

Wirtschaftswachstum ist ein vieldeutig schillernder Terminus. Er gilt

  • in der Mainstream-Ökonomie als Bezeichnung für die Zunahme der Leistungskraft einer wirtschaftlichen Einheit, zumeist einer Volkswirtschaft,
  • spezifischer für kapitalistische Wirtschaften als ein Maß für den wertmäßigen Zuwachs einer Volkswirtschaft, dessen Struktur und Verteilung zugleich sozio-ökonomische Verhältnisse spiegelt,
  • als materielle Grundlage für Wohlstandssteigerung, gesellschaftliche Stabilität, sozialen Fortschritt und vor allem deshalb auch
  • als ein deklariertes (prioritäres) Ziel oder Paradigma von Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik,
  • als ein im allgemeinen Bewusstsein nach wie vor positiv besetzter Wert mit dem vielfältige Erwartungen verknüpft werden,
  • als ein hegemoniales Konzept, mit dem interessengeleitete Strategien und (neoliberale) Politiken als im Allgemeininteresse liegend legitimiert, andere abgelehnt oder unter „Wachstumsvorbehalt“ gestellt werden.

„Wachstumsorientierung“ wird zudem als zusammenfassende Metapher für Imperative dynamischer Stabilisierung kapitalistischer Gesellschaften (Landnahme, Beschleunigung etc.) gefasst, die deren wachstumsabhängige „Fahrrad-Stabilität“ (Dörre 2009) sichern sollen.

Einen weitgehend akzeptierten und theoretisch überzeugenden Begriff von „Wirtschaftswachstum“, auf den man sich umstandslos beziehen könnte, habe ich nicht gefunden, auch nicht erfunden. Deshalb werden im Folgenden nur einige begriffliche Facetten vorgestellt.

Folgen wir dem üblichen Sprachgebrauch und fassen „Wachstum“ als quantitativen (und damit in der Regel endlichen) Aspekt von Entwicklung, so wäre Wirtschaftswachstum ein quantitativer Ausdruck von wirtschaftlicher Entwicklung. Die hierzulande immer noch gebräuchlichste – zu Recht umstrittene – Messgröße ist das sog. Bruttoinlandsprodukt (BIP). Als Wachstum gilt in der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VWGR) gemeinhin die Zunahme des BIP in einem bestimmten Zeitraum (zumeist jährlich) bezogen auf einen bestimmten Wirtschaftsraum (Volkswirtschaft, OECD-Staaten, global etc.). Das reale BIP einer Volkswirtschaft ist die Summe des Geldwertes, also der inflationsbereinigten Preise der im Inland produzierten, für den Endverbrauch bestimmten, durch (Erwerbs-)Arbeit hergestellten verkauften Güter und Dienstleistungen.[2] Sein Zuwachs (=Wachstum) gilt als Kriterium der Leistungsentwicklung der Wirtschaft. (Krämer 2010)

Als „wertschöpfend“ gilt in der VWGR die Produktion von Einkommen durch Erwerbsarbeit. (Krämer 2010, 3) Nicht erfasst sind also unbezahlte reproduktive, selbstversorgende, ehrenamtliche (Eigen-)Arbeiten in privaten Haushalten oder Gemeinschaften. Repariere ich mein Fahrrad selbst, so geht diese Leistung nicht ins BIP ein; geschieht dies gegen Entgelt, so ist der Geldausdruck dieser bezahlten Leistung Bestandteil des BIP. Umgekehrt gehen in die VWGR die finanziellen Äquivalente für Leistungen ein, die schwerlich als Indiz für wirtschaftliche Leistungsfähigkeit oder gar Wohlstand gelten können, wie z.B. Aufwände infolge von Unfällen, Reparatur von Umweltschäden. (ausführlicher zu BIP, VWGR, „Wachstum“ vgl. Krämer 2010, Schmelzer/Passadakis 2011)

Elementare Voraussetzung dafür, dass auf volkswirtschaftlicher Ebene überhaupt etwas als BIP-Zuwachs gemessen werden kann, sind Überschüsse der Waren produzierenden Wirtschaftseinheiten. Über die zur Produktion einer Ware eingesetzten, dabei verbrauchten (monetär bewerteten) Ressourcen oder „Produktionsfaktoren“ hinaus, muss ein „Mehr“ erwirtschaftet worden sein. Dieses „Mehr“ kann ein größerer Umfang von Produkten sein bzw. es ist die gleiche Menge, aber mit geringerem Aufwand hergestellt; es kann unter sonst gleichen Bedingungen ein Zuwachs an Gebrauchseigenschaften oder Nutzen sein oder es können völlig neue Erzeugnisse/Leistungen sein, Innovationen, die sich erst einen Bedarf bzw. Markt schaffen. In welch stofflich-gebrauchswertmäßiger Form auch immer – in der entfalteten Warenproduktion einer kapitalistischen Marktwirtschaft muss es ein wertmäßiger Zuwachs in Geldform sein. Der in den Gütern und Leistungen enthaltene (Mehr-)Wert ist erst nach ihrem Verkauf, also nach ihrer Verwandlung in Geld gesellschaftlich auf dem Markt anerkannt („realisiert“). Entsprechend dieser, seiner gesellschaftlichen Form wird der Überschuss monetär erfasst als Wachstum des BIP.

Fließt von diesem „Mehr“ wieder mehr – als bezahlter Input in Form von Energie, Rohstoffen, Verschleißteilen, Arbeitskraft – in den Produktionsprozess zurück als im vorangegangenen Zyklus verbraucht worden ist, so kann der Prozess auf erweiterter Stufenleiter neu beginnen. Eine logische und historische Alternative zu dieser durch fortwährende Überschüsse ermöglichten „erweiterten Reproduktion“ ist die „einfache Reproduktion“ einer Wirtschaftseinheit oder Volkswirtschaft. Hierbei entstehen über den Ersatz der verbrauchten Produktionsbedingungen hinaus nicht systematisch für die Akkumulation bestimmte Überschüsse, sondern dies geschieht nur zufällig, temporär. Der Umfang der Produktion und des Verbrauchs für Produktion und Konsumtion halten sich in etwa die Waage bzw. sie wachsen global nur geringfügig, etwa lediglich im Maße des Bevölkerungswachstums. Das ist in etwa der „Normalzustand“ in vormodernen Gesellschaften, was kulturelle Höchstleistungen und Blütezeiten nicht ausschloss.

Dabei kam es mitunter zu kleinen „Produktivitätssprüngen“, etwa durch Innovationen in der landwirtschaftlichen Produktion (Rad, Pflugschar etc.). Es gab auch Tendenzen zur Konzentration dieser Überschüsse bei den „Mächtigen“ bzw. sie hatten Vorrechte bei deren Verteilung. Dieser akkumulierte Reichtum wurde individuell konsumiert (Luxus), zur Schatzbildung (u.a. zwecks Prestigegewinn) genutzt oder es wurden damit Kriege finanziert. In subsistenzwirtschaftlich organisierten Gemeinwesen wurden die erzielten Überschüsse zu bestimmten Anlässen kollektiv verfeiert, verschenkt oder anderweitig unter die Mitglieder des eigenen oder benachbarter Gemeinwesen verteilt.

Auch gab es in vorkapitalistischen Gesellschaften, sofern sie Tausch und Geld kannten, bereits „Kapital“ (z.B. als Handels- oder als zinstragendes Kapital) im Sinne des Vorschießens einer Wertsumme bzw. von Geld, um es zu verwerten, also einen Gewinn zu erzielen. So wurden etwa große „Entdeckungsreisen“ bzw. koloniale Raubzüge des 15. und 16. Jh. auf Kreditbasis finanziert. Aber Kapitalverwertung war nicht das zentrale treibende Motiv des Wirtschaftens. Die Produktion war auf die Deckung eines Bedarfs an Gebrauchsgütern ausgerichtet. (Heinrich 2006, 15) Und die einfache Warenzirkulation in arbeitsteilig produzierenden Gesellschaften war auf die Aneignung von Gebrauchswerten zur Bedürfnisbefriedigung gerichtet. Der Warenbesitzer tauscht seine Ware, die für ihn keinen unmittelbaren Gebrauchswert hat gegen Geld, um damit eine andere von ihm begehrte Ware zu kaufen. Die Zirkulation ist nur Mittel zu diesem Zweck, das Geld vermittelt nur den Tausch. Der Tauschakt beginnt und endet mit einer konkreten Ware und erlischt in ihrer Konsumtion.

Anders hingegen in der kapitalistischen Warenproduktion.[3] Die Vermehrung des vorgeschossenen Wertes in Geldform ist der eigentliche systemische Zweck von Produktion und Zirkulation. Die entsprechende allgemeine Formel des Kapitals in Marx` klassischer Fassung: G-W-G`. Es sollen Überschüsse (G´) in Gestalt von Gewinnen[4] erzielt werden. G wird vorgeschossen oder verauslagt, um mehr einzunehmen. Die Wertsumme, die diese Bewegung vollzieht, ist das Kapital, ein sich verwertender Wert. Diese Operation wird in kapitalistischen Wirtschaften nicht als einmaliger oder zufälliger Akt vollzogen, sondern permanent, systematisch.

Und dies erfolgt auf sich erweiternder Stufenleiter. Denn G` wird nicht gänzlich konsumiert. Zumindest ein Teil des erzielten Gewinns wird wieder eingesetzt, reinvestiert. Es wird in Produktivvermögen rückverwandelt, also zur Vergrößerung des Kapitals genutzt, ein Vorgang, der als Akkumulation bezeichnet wird. Mit dem damit erweiterten Umfang des vorgeschossenen Kapitals, den davon gekauften erweiterten Produktionsbedingungen, wächst im nächsten Zyklus auch der zu erwartende Gewinn. G´ wächst also spiralförmig von Zyklus zu Zyklus: die Reproduktion des Kapitals bzw. der Produktionsvoraussetzungen auf erweiterter Stufenleiter, die Akkumulation (wörtlich: „Anhäufung“) von Kapital als Bewegungsgesetz der kapitalistischen Wirtschaft.

Während also W-G-W auf einen außerhalb der Zirkulation liegenden Zweck zielt, auf die Aneignung von qualitativ bestimmten Gebrauchswerten zur Bedürfnisbefriedigung und darin ihr Maß und Ende findet, gewissermaßen in der Bedürfnisbefriedigung erlischt, ist diese rein quantitative Vermehrung von G, die Kapitalbewegung Selbstzweck, sie ist in ihrer eigenen Logik maß- und endlos. (Heinrich 2006, 84) Es handelt sich also um eine selbstverstärkende Dynamik, eine selbstzweckhafte „... rastlose Bewegung des Gewinnens“ (MEW 23, 167).

[1] Die Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität – Wege zu nachhaltigen Wirtschaften und gesellschaftlichen Fortschritt in der sozialen Marktwirtschaft“ war von Januar 2011 bis Juni 2013 tätig.

[2] Bei „Nichtmarktproduzenten“ (Staat, Sozialversicherungen) wird ersatzweise der „Aufwand für Arbeitnehmerentgelte und Abschreibungen ... als Maß für die Bruttowertschöpfung genommen“ (Krämer 2010, 3).

[3] Auf den nachfolgenden Seiten dieses Abschnitts 1.1. beziehe ich mich sinngemäß auf Marx` Kapital (MEW 23–25), sofern nicht auf andere Quellen verwiesen wird.

[4] „Gewinn“ wird hier verstanden als „Überschuss des Verkaufspreises einer Ware entweder über ihren Einkaufspreis oder über die Summe der Löhne und der Preise der Waren, die als Produktionsvoraussetzungen für die Herstellung dieser Ware gekauft wurden“ (Fülberth 2006, 13).

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