Von: Ulrich Plass
Reihe "Philosophische Gespräche". Heft 65, 2021, 76 S.
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Die folgenden Abschnitte entstammen einer größer angelegten Untersuchung über die multidisziplinäre Entwicklung der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule in den 1930er und 1940er Jahren, insbesondere im Zusammenhang mit dem Begriff der Kulturindustrie, der von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer in dem zuerst 1944 unter dem Titel Philosophische Fragmente veröffentlichten Hauptwerk der Kritischen Theorie, Dialektik der Aufklärung, geprägt wurde. Die Perspektive dieser Untersuchung ist eine theoriegeschichtliche, das heißt, es geht in erster Linie darum, Licht auf die historischen Bedingungen der Genese des Kulturindustrie-Kapitels zu werfen. In Betracht gezogen werden dafür sowohl interne, das IfS betreffende Dokumente – inklusive Entwürfe von Kapiteln und Aufsätzen, Briefe, Gesprächsprotokolle – wie auch externe, den zeitgenössischen Kontext betreffende Dokumente.
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Autor: Ulrich Plass
Professor of Letters and German Studies an der Wesleyan University in Connecticut, USA
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INHALT
1. „Kein Hirt und eine Herde“
2. Selbstreflexion und Zensur: Über die Produktionsbedingungen der Kritischen Theorie in den USA
3. „Fortzusetzen“: Die umstrittene Aktualität der Theorie der Kulturindustrie
4. Kunst: Glücksversprechen und vulgärer Empirismus
5. Von falschen und echten Bedürfnissen
6. Rätedemokratie statt Kulturindustrie!
7. Kultur in der „monopolistischen Epoche“
8. „Kometenschweif der Arbeit“
9. Der rätselhafte, enträtselte Schematismus der Massenkultur
10. Standardisierung und Segregation
11. Verwaltete Bedürfnisse, technokratische Utopien
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LESEPROBE
„Kometenschweif der Arbeit“
Zur Genese der kritischen Theorie der Kulturindustrie
1. „Kein Hirt und eine Herde“
Zum Zeitpunkt seiner Entstehung in den frühen 1940er Jahren war das Wort Kulturindustrie gleichbedeutend mit Massenkultur, einem zweideutigen Begriff, der sich sowohl auf die Demokratisierung und Popularisierung von kulturellen Gütern vermöge reproduktiver Herstellungs- und Distributionstechniken bezog als auch auf autoritäre Massen-Manipulation durch propagandistische Mittel. Die Kritik der Massenkultur ging aus Nietzsches Theorie reaktiver Subjektivität und ihrer Manifestation in dem Phänomen verinnerlichter Konformität und gedankenloser Folgsamkeit hervor: „Kein Hirt und eine Herde“ heißt es in Also sprach Zarathustra (1883), zustimmend zitiert von Adorno 1942 in „Das Schema der Massenkultur“. Impliziert ist hier die Idee der Masse als (fremdgesteuertes) Objekt wie auch als (instinktiv selbststeuerndes) Subjekt. Mit der „Übersetzung“ des Begriffs der Massenkultur in den der Kulturindustrie wechseln Adorno und Horkheimer von der Nietzscheanischen Kritik der fehlgeleiteten Subjektkonstitution zur marxistischen Kritik der politischen Ökonomie, welche die gesellschaftlichen Konsequenzen des Übergangs vom liberalen zum Monopolkapitalismus und die für diesen charakteristische Ausweitung von kulturellen Konsumbedürfnisse untersucht.
Trotz gelegentlicher oberflächlicher Ähnlichkeiten mit der anthropologischen „Herdentrieb“-Hypothese von Freuds Massenpsychologie, mit konservativ-elitären Ängsten vor den „formlosen“ Massen, oder sogar mit faschistisch-maskulinistischen Auflösungsfantasien – wie Klaus Theweleit sie in den Siebzigern in seinen Männerphantasien analysierte – zeichnen sich linke Theoretisierungsansätze der Massenkultur, zu denen Adornos und Horkheimers Begriff der Kulturindustrie zu rechnen ist, dadurch aus, dass sie massenkulturelle Phänomene als Ausdruck von Klassenverhältnissen deuten. Zu dieser kritischen Tradition gehören die Arbeiten von Mitarbeitern des IfS wie Leo Löwenthal und Walter Benjamin und von Wegbegleitern der Kritischen Theorie wie Siegfried Kracauer und Ernst Bloch. Fortgesetzt hat sich diese Tradition nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland bei Günter Anders und Hans-Magnus Enzensberger und bei nordamerikanischen Soziologen wie C. Wright Mills und David Riesman, die beide den ursächlichen Zusammenhang zwischen manipulativer Massenkommunikation und entsolidarisierender und damit entpolitisierender Vereinzelung betonen. Normativ vorausgesetzt ist in dieser Traditionslinie das Ideal eines autonomen, mündigen Subjekts, dessen Herausbildung jedoch durch den gesellschaftlichen Druck, so wie alle anderen zu sein, verhindert wird. Mit Verweis auf Riesmans Begriff des „Außengeleiteten Menschen“ spricht Adorno in seinen 1953 in Los Angeles gemeinsam mit der Psychologin Bernice Eiduson verfassten Studien über das Fernsehen deshalb davon, dass protestantische „Innerlichkeit“, die als „Ontologie“ des Bürgertums zu verstehen sei, durch die massenkulturell bedingte „desillusionierte“ und „hartgesottene“ „Mentalität der Mittelklasse“ einen „autoritären und gleichzeitig ausgehöhlten Charakter“ angenommen habe.[1] Angesichts des Verschwindens von selbstgelenkten kulturellen Praktiken (wie Musizieren, Vorlesen, Briefeschreiben oder „räsonierende“ Gespräche führen) bietet Massenkultur nur die bloß warenförmige Markt-Universalität des gemeinsam-einsamen Konsums von Fernseh-Shows oder ritualisierten Podiumsdiskussionen.[2] Der massenkulturelle Anspruch, jedem etwas zu bieten, führt zu Beliebigkeit und Auswechselbarkeit des Angebots. Weil das, was geboten wird, nicht den Bedürfnissen der Massen, sondern den Verkaufs-Interessen der Monopole entspricht, zementiert Massenkultur die gesellschaftliche Ungleichheit, die sie aufzuheben schien. Für die Begriffsgeschichte der Kulturindustrie entscheidend ist die vor allem von Adorno in den Exiljahren vertretene marxistische These, dass die Totalisierung, Verinnerlichung und Unsichtbarmachung gesellschaftlicher Macht vermöge des Begriffspaars „Masse“ und „Monopol“ am adäquatesten erfasst werden kann.
Laut einer bekannten These Benjamins antwortet der Faschismus auf die „Proletarisierung der heutigen Menschen“ damit, „die Massen zu ihrem Ausdruck (beileibe nicht zu ihrem Recht) kommen zu lassen“ (BGS 1.2: 467). Adornos und Horkheimers strategische Distanzierung vom Begriff der Massenkultur hängt mit der von Benjamin erkannten Gefahr der faschistischen Ästhetisierung von Politik zusammen. Der Ausdruck Kulturindustrie stellt klar, wer gesellschaftlich und politisch das Sagen hat: nicht die Massen, die in Riefenstahls Propagandafilmen in öden Kolonnen über die Leinwand marschieren, sondern die „Monopolherren“ (HGS 5: 61). Anfang der Sechziger jedoch schränkte Adorno ein, „der Ausdruck Industrie“ im Kompositum „Kulturindustrie“ sei „nicht wörtlich zu nehmen“, weil er sich in erster Linie nicht auf die Produktion, sondern auf die Art und Weise der Konsumtion von Massenkultur richte. Trotz dieser begrifflichen Einschränkung sollte festgehalten werden, dass Adornos und Horkheimers Kritik nicht bei dem stehen bleibt, was auf den ersten Blick der Kern der Kulturindustrie-These zu sein scheint: der massenhaften Kommodifizierung von Kulturgütern, welcher wiederum eine Methode entspricht, der zufolge, wie Adorno und Horkheimer 1939 an Hans Mayer schrieben, „die Warenkategorie […] wie ein Scheinwerferlicht die gesamte Gesellschaft erhellt“.[3] In Widerlegung von Mayers Verdacht, Adorno habe im Kapital wohl nur das „Kapitel über das Geheimnis der Warenform“[4] zur Kenntnis genommen, erweiterten Adorno und Horkheimer Lukács’ Weiterführung des Marx’schen Fetischbegriffs, seine Theorie der Verdinglichung, dahingehend, dass die tayloristische Kontrolle über die Produktion nun auch in der Konsumtion erkennbar wird: Genauso wie die Arbeit in der Fabrik durch tayloristische Bemessung vereinfacht, atomisiert und diszipliniert wird, regrediert der Konsum von Kultur auf das reaktive Erfassen einzelner isolierter Merkmale. Und genauso wie durch tayloristische Rationalisierung des Arbeitsprozesses die Kollektivität der Arbeiter*innen gebrochen wird, weil ihre „ungeschickte“ (MEW 23: 389) Arbeitskraft leicht ersetzbar ist, erhebt die Kulturindustrie den Taylorismus zum dominanten Mechanismus von Vergesellschaftung: „Die Kulturindustrie hat den Menschen als Gattungswesen hämisch verwirklicht. Jeder ist nur noch, wodurch er jeden anderen ersetzen kann: fungibel, ein Exemplar.“ (HGS 5: 171f.)
Mit dem Ausdruck des Gattungswesens spielen Adorno und Horkheimer auf die Idee des frühen Marx an, in der nicht-entfremdeten Arbeit könne sich das Individuum in seiner Universalität verwirklichen. Stattdessen bietet die Kulturindustrie gewissermaßen die Parodie dieser humanistischen Utopie: Der Preis der Universalität ist die „radikale Ersetzbarkeit des Einzelnen“ (AGS 4: 265), wie Adorno 1947 in seinen Minima Moralia schreibt, weshalb in der Kulturindustrie auch der Tod komisch werde, wie man im Genre der „Mordkomödie“ (ebd. 266) sehen könne. Das Prinzip der universalen Ersetzbarkeit entstammt der Rationalität industrieller Produktion und wandert aus ihr in die ganze Gesellschaft ein, und zwar deswegen, weil die durch erhöhte Produktivität gewonnene Möglichkeit der Befreiung vom Arbeitszwang durch die Organisation des Arbeitsprozesses und damit durch die Verwandlung der Arbeit selbst verhindert wird: „Die Arbeitszeit ist tatsächlich bereits unterm Monopolkapitalismus herabgesetzt durch vollendete Entstofflichung der Arbeit. Aber eben dieser Disqualifizierung der Arbeit ist auch das zum Opfer gefallen, was im Sinn der Marxschen Konzeption, die Menschen in der Muße zu Menschen machen würde.“[5] Der Fluch der entstofflichten Arbeit liegt darin, dass sie endlos ist. Das Feld ihrer endlosen Weiterführung ist die Kulturindustrie. Aus diesem Grund kann auch, so spekulieren Adorno und Horkheimer, eine revolutionäre Politik nicht allein aus der Produktion kommen, sondern muss dort ansetzen, wo die Produktion ihre Fortsetzung mit anderen Mitteln findet: im Massenkonsum. Die erhöhte Aufmerksamkeit, die das IfS unter der Leitung Horkheimers in den Dreißigerjahren kulturellen Phänomen widmet, bedeutete also keinen Bruch mit den radikalen Ursprüngen des Instituts, sondern kam vielmehr aus der Überzeugung, dass die „Gründe, warum die Proletarier [nicht revolutionär handeln], wirklich im Kulturellen“ liegen (HGS 12: 514). Weil aber „das Kulturelle“ kein rein geistiger Bereich ist, sondern ein entstofflichter Anhang der Produktionssphäre, sah sich die Kritische Theorie gezwungen, die Reflexion über die Produktionsbedingungen von Theorie in ihr Forschen und Denken einzubeziehen. Nur eine solche Selbstreflexion konnte verhindern, dass der Standpunkt von Erkenntnis und Kritik ein abstrakt verhärteter wurde.
2. Selbstreflexion und Zensur: Über die Produktionsbedingungen der Kritischen Theorie in den USA
Als Horkheimer 1937 den selbstreflexiven Begriff der Kritischen Theorie als eine Wissensformation der Opposition gegen und des Hinausweisens über das Bestehende prägte, befand sich das 1923 in Frankfurt am Main von Felix Weil gegründete IfS bereits im New Yorker Exil, die deutsche Arbeiterbewegung war zerschlagen und die Arbeiterschaft in den antisemitischen Führerstaat eingegliedert. Damit war das dünne Band zwischen Theorie und Praxis, das in Frankfurt noch überlebt hatte, durchschnitten, und aus dem bereits akademischen wurde ein zunehmend theoretischer und philosophischer Marxismus (dessen produktivste Vertreter, Horkheimer, Marcuse und Adorno, Habilitationsschriften über Geistesheroen des bürgerlichen Bildungskanons verfasst hatten, Kant, Hegel, Kierkegaard). Nichtsdestoweniger machte sich das von politischer Praxis geschiedene Institut verdächtig, wenn auch weniger aufgrund der eigentlichen Forschung, die das IfS im Exil verfolgte, als vielmehr aufgrund des Profils der aus künstlerischen und intellektuellen Milieus stammenden europäischen Flüchtlinge. Ebenso wie prominente Exil-Schriftsteller*innen und Musiker*innen befand sich der Horkheimer-Kreis im Visier des FBI: „Briefzensur, Telephonüberwachung, ‚physical surveillance‘ [Beobachtung von Personen]“ und Befragung von Informanten gehörten zum Alltag.[6] Unter der Leitung des Erzreaktionären J. Edgar Hoover mobilisierte das FBI schon vor den antikommunistischen Hetzkampagnen der „Red Scare“ [Angst vor den Roten], die in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg eskalierten, beträchtliche Ressourcen für die Bespitzelung von (vermeintlichen) „Reds“ und ihren Sympathisanten.
Ab 1942 betätigte sich sogar ein an der Columbia University angestellter Mitarbeiter des IfS als FBI-Spitzel; [7] er/sie konnte allerdings keine Belege dafür liefern, dass am IfS subversive Aktivitäten stattfanden. Im Jahr 1950 denunzierte ein Informant Leo Löwenthal, einen engen Vertrauten Horkheimers und Redakteur der ZfS, wegen eines angeblichen Mangels an „Loyalität“ dem amerikanischen Staat gegenüber, eine Denunziation, die sich typischerweise aus antikommunistischen und antisemitischen Wahn-vorstellungen speiste, schließlich handelte es sich bei den Verdächtigen um Juden und Intellektuelle, die sich berufen fühlten, so der Denunziant laut FBI-Akte, „zu entscheiden, was für die Welt am besten ist“. Anlass zum Verdacht waren also Herkunft und Habitus sowie auch die scheinbar verschworene Einstimmigkeit der Gruppe: der Denunziant war sich sicher, „dass alle diese Personen sich in ihrer Arbeit und ihren Ansichten extrem nah standen; dass sie alle gleich denken und dieselben Ideen vertreten.“ [8]
Auf der Suche nach Beweisen blieben die Agenten des FBI allerdings überwiegend auf die Lektüre der Veröffentlichungen des IfS beschränkt: In einer auf den 21. Januar datierten Akte findet sich beispielsweise eine Zusammenfassung der Inhalte des neunten Bandes der ZfS mit dem Vermerk, das FBI interessiere sich besonders für Friedrich Pollocks Theorie des Staatskapitalismus. (Pollock war der stellvertretende Direktor des IfS und Horkheimers engster, lebenslanger Freund.) Der Verfasser des Berichts merkt an, dass Pollocks persönliche Akte ein Exposé des Artikels enthalte, aus dem hervorgehe, dass sein Artikel einer „kommunistischen Linie“ folge.[9] Dass gerade Pollock und Löwenthal, die im besonderen Maße um ein Vermeiden jeglicher Kontroversen bemüht waren, unter Verdacht geraten konnten, ist ein Hinweis darauf, dass Rolf Wiggershaus’ Einschätzung, Selbstzensur „gehörte zur Tradition des Instituts“ [10] , dahingehend präzisiert werden kann, dass die Selbstzensur – ob absichtlich oder zufällig – dazu diente, den Verdacht des FBI in der Schwebe zu halten: In ihrem Bemühen, in Telegrammen Adornos und Horkheimers, in denen die Wörter „Nietzsche“ und „Expressionismus“ benutzt wurden, einen Geheimcode zu entziffern, [11] bearbeiteten die Agenten einen Acker des Verdachts, der keine hermeneutischen Früchte tragen konnte, weil der Mangel an sprachlicher Transparenz für das Kritischwerden von Theorie unvermeidlich war. Der Kritischen Theorie nämlich liegt ein Begriff des Denkens zugrunde, der sich gegen den frommen Glauben wendet, die Welt bestehe aus selbstevidenten Tatsachen, die sich mit entsprechender Klarheit sprachlich unzweideutig wiedergeben lassen. Wer dieser Norm der Klarheit nicht folgte, bedauerten Adorno und Horkheimer, machte sich verdächtig: „Indem [der Begriff der Klarheit] das an den Tatsachen wie den herrschenden Denkformen negativ ansetzende Denken als dunkle Umständlichkeit, am liebsten als landesfremd, tabuiert, hält er den Geist in immer tieferer Blindheit gebannt.“ (HGS 5: 19)
Die fast äsopische Sprache der Kritischen Theorie entwickelte sich einerseits aus dem inneren Drang, sich den Zwängen einer auf definitorische Abgrenzung und Klarheit gerichteten Wissenschaft zu entziehen und andererseits als Reaktion auf die sich stetig verschärfende Jagd nach vermeintlich „illoyalen“ und anderweitig „landesfremden“ Personen in den USA. Wenn, wie Wiggershaus bemerkt, die Selbstzensur der Kritischen Theoretiker „fortschreitend“ war, dann handelte es sich bei diesem Prozess nicht um einen internen der paranoischen Täuschung, sondern um eine Entwicklung der Theorie, die nicht rein aus sich erfolgte, sondern in Reaktion auf äußere Umstände des Verdachts und der Überwachung. Selbstzensur gehörte zum Prozess der Theoriebildung des „westlichen Marxismus“, der ursächlich auf historische Niederlagen des revolutionären Proletariats und die Isolation der jungen Sowjetunion zurückging.[12] Im spezifischen Fall der Kritischen Theorie war der Übergang von einer „engagierten“ Theorie zur Kommunikationsform der „Flaschenpost“ kein geradliniger Prozess; das Alte verschwand nicht einfach, sondern bestand fort, wenngleich in veränderter Gestalt. Besonders deutlich kann man dies anhand redaktioneller Dokumente aus dem Umfeld der ZfS und der Publikationsgeschichte der Dialektik der Aufklärung erkennen. Ich möchte zwei Beispiele nennen:
1. Im ersten Heft des achten Jahrgangs der ZfS erscheint Horkheimers Aufsatz „Die Juden und Europa“. Der Arbeitsprozess vom Entwurf des Aufsatzes bis zum Erscheinen war ein anstrengender: Im Horkheimer-Archiv befinden sich fünf teilweise mit umfangreichen handschriftlichen Änderungen aus den Federn Horkheimers und Adornos versehene Fassungen sowie Exzerpte zu Erfahrung und Geschichte des modernen Antisemitismus in den Werken von Autoren wie Proust, Zola und Maupassant. In einem Brief an seine Eltern im Juli 1939 erwähnt Adorno, er habe mit seiner Frau Gretel und Horkheimer den Aufsatz „völlig umgearbeitet, d. h. neu geschrieben. An dieser äußerst interessanten Sache haben wir letzte Woche buchstäblich Tag und Nacht gearbeitet, in einem solchen Tempo, dass unmittelbar nach dem Abschluss Max zusammengeknaxt ist und sich mit Fieber ins Bett gelegt hat.“ (ABW 5: 17)
Die Hauptidee des Aufsatzes lautet: „Nichts am Faschismus ist ohne seine Genesis im Liberalismus zu begreifen.“ [13] Diese Idee schlägt sich in der vielleicht bekanntesten Formulierung dieses Essays nieder: “Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen.” (ZfS 8: 115) Ursprünglich hatte der Satz gelautet: „Wer aber den Kapitalismus nicht angreifen will, sollte vom Faschismus schweigen.“[14] Kann man eine solche Änderung als Selbstzensur bezeichnen? Es scheint klar, dass sowohl „angreifen“ als auch „reden über“ hier als Synonyme für „kritisieren“ gebraucht werden. Trotzdem fällt der Unterschied ins Gewicht: Das Verbum „reden“ impliziert den Zugang zu einer gewissermaßen universalen Öffentlichkeit, in welcher der Kapitalismus als (ein) Gegenstand (unter anderen) der historischen Urteilskraft behandelt wird, während „angreifen“ den Standpunkt des Kritikers impliziert, von welchem aus die Kritik artikuliert wird. Der Standpunkt ist in diesem Fall derjenige der gemeinsamen Verfasser des Essays: „Dass die Emigranten der Welt, die den Faschismus aus sich erzeugt, gerade dort den Spiegel vorhalten, wo sie ihnen noch Asyl gewährt, kann niemand verlangen.“ (ZfS 8: 115) Die Welt erzeugt mit dem Faschismus die (vor allem) jüdischen Emigranten, die ihm entfliehen, und die aus Mangel an Alternativen darauf setzen, dass das „hundertjährige Zwischenspiel des Liberalismus“ (ZfS 8: 121) ein geopolitisch ungleichzeitiges Ende findet, obwohl der Übergang vom Liberalismus in Faschismus sich im globalen Maßstab vollzieht: „Der Faschismus erobert von außen und innen zugleich. Zum ersten Mal ist die ganze Welt in dieselbe politische Entwicklung gerissen. Indien und China sind nicht mehr bloße Randgebiete, historische Größen sekundärer Ordnung, sie sind von der gleichen Spannung erfüllt wie die hochkapitalistischen Länder.“ (ZfS 8: 128)
Die prekäre Lage der jüdischen Emigranten ergibt sich laut Horkheimers Analyse aus einer Entwicklung, derer ökonomische Ursachen die marxistische Theorie prognostiziert hatte, nämlich einerseits aus dem Überflüssigmachen von Teilen der Bevölkerung aufgrund der „immer höheren Produktivität der Arbeit“, was in den 1920er und 1930er Jahren zu einer Massenarbeitslosigkeit führte, die durch staatliche Maßnahmen nicht bewältigt werden konnte: „die Krise [ist] permanent geworden“ (ZfS 8: 115). Wo die Krise der Normalzustand ist, da ist die verleugnete Wahrheit des Kapitalismus enthüllt: „der gleiche und gerechte Tausch hat sich selbst ad absurdum geführt“ (ZfS 8: 116). Immer weniger lässt Mehrwert sich über Investitionen in neue, die Konkurrenz fördernde Produktionsmittel aneignen. Profitträchtiger ist stattdessen die monopolistische Konzentration der Produktion und der Ausstoß von „variablem Kapital“: „Die Masse der Arbeiter, aus denen der Mehrwert herfließt, geht im Vergleich zum Apparat, den sie bedienen, zurück.“ (ZfS 8: 116) Der Übergang vom liberalen zum monopolistischen „Spätkapitalismus“ wird durch eine immer dichtere Verflechtung von Industrie und Staatsmacht ermöglicht, die im Faschismus ihren extremsten Ausdruck findet. Der Faschismus „löst“ das Problem von Arbeitslosigkeit und „Surpluspopulation“ (MEW 23: 416) dadurch, dass den „vermassten“ Menschen eine neue Rolle zugewiesen wird; der durch den Markt definierte liberale homo oeconomicus wird durch den Befehlsempfänger ersetzt: „An die Stelle des Tausches mit der Arbeit tritt das Diktat über sie. Waren die Massen in den letzten Jahrzehnten aus Kontraktpartnern Bettler, Objekte der Fürsorge geworden, so werden sie jetzt unmittelbar Objekte der Herrschaft.“ (ZfS 8: 118) Dieser Prozess der Vergegenständlichung der Menschen durch faschistische Organisation stellt zum einen ein Volk aus Soldaten, Folterknechten und sogenannten „produktiven“ Arbeitern her und zum anderen eine Masse aus „Unproduktiven“ und „Parasiten“, die nun verfolgt, vertrieben, gefoltert und ermordet werden können, weil der Staat sie zum Abschuss freigegeben hat: „Einer, der nicht dazugehört, nicht durch Verträge geschützt ist, hinter dem keine Macht steht, ein Fremder, ein bloßer Mensch, ist restlos preisgegeben.“ (ZfS 8: 134) Wo der liberale Markt als Sphäre von Zirkulation und Vermittlung an Bedeutung verliert, da sind „die Juden als Agenten der Zirkulation entmachtet“ und „werden als erste Opfer vom Diktat der Herrschenden getroffen“ (ZfS 8: 131).
Dass auch die Fluchtstätte der Emigranten von dieser Entwicklung nicht ausgenommen sein würde, wurde ursprünglich schon am Anfang des Essays deutlich, wo es hieß: „Ohne Begriff von dem, was in Deutschland geschehen ist, bleibt das Reden über den Antisemitismus in Oregon oder in Afrika bedeutungslos.“[15] In der veröffentlichten Fassung wurde der US-Bundesstaat Oregon (berüchtigt für seine „black exclusion laws“, mit denen ein weißer Herrenstaat garantiert werden sollte) allerdings durch das südostasiatische Siam ersetzt. Diese Form der politisch motivierten Selbstzensur übten die Autoren und Herausgeber der ZfS bewusst: Als Horkheimer am 9. August 1939 Adorno den Aufsatz noch einmal zur Durchsicht schickt, bittet er: „Sollten Sie an irgendwelchen Stellen noch Bedenken wegen rechts haben, bitte ich um Mitteilung. Die Stelle, an der ich Bedenken wegen links habe, ist […]“. (ABW 4.2: 56) Weniger besorgt um Kritik von rechts oder links, zeigt Adorno sich in seiner Antwort einen Tag später beruhigt, dass die „Substanz des Aufsatzes“ trotz „Milderung[en]“ des Ausdrucks keinen Schaden genommen habe. Nichtsdestoweniger bemängelt er Unebenheiten und Auslassungen, die er „Zensurlücken“ nennt (ABW 4.2: 58). Die für Horkheimers Aufsätze zur Zeit des Zweiten Weltkriegs typische stilistische Schroffheit ist auch auf die politische Notwendigkeit der Selbstzensur zurückführbar: der prekäre Standpunkt des Emigranten beeinflusst, was direkt und was nur vermittelt gesagt werden kann.
Die Effektivität der kritischen Sprache, trotz Verklausulierungen verständlich zu bleiben, verdankt sich ihrer Herkunft aus der marxistischen Theorie. Man bezog sich auf sie unter dem Kürzel „die Theorie“; so heißt es etwa in „Die Juden und Europa“: „Der Faschismus ist die Wahrheit der modernen Gesellschaft, die von der Theorie von Anfang an getroffen war.“ (ZfS 8: 116) Darüber, dass die Marx‘sche Theorie den Kern der modernen Gesellschaft und ihrer Entwicklungstendenzen korrekt erfasst hatte, herrschte am IfS trotz der Unterschiedlichkeit der jeweiligen biographisch-praktischen und fachspezifischen Rezeptionen des Marxismus Einigkeit. Doch diese Einigkeit wurde im Laufe des Jahres 1939 auch dadurch prekärer, dass das Vermögen des IfS durch die drastischen Kurseinbrüche an der Börse Anfang 1938 erheblich gemindert worden war und dass den Mitarbeitern ihre monatlichen Einkommen gekürzt wurden. Damit begann ein zähes Ringen, das IfS zu schrumpfen und den Mitarbeitern Stellen anderswo zu verschaffen. Man musste sich den wirtschaftlichen Umständen anpassen, und dazu gehörte auch, dass die ZfS in ihrem letzten Jahrgang auf Englisch erschien und im Frühjahr 1942 eingestellt wurde. Angesichts der immer düsteren Zustände in Europa waren finanzielle Sicherung und die Durchführung seiner eigenen Arbeit Horkheimer wichtiger als die Fortführung des IfS im großen Maßstab. Der Jahresbericht des IfS von 1938 verzeichnet zehn ständige Mitarbeiter und sieben „assoziierte Forscher“; im Jahresbericht 1944 ist deren Anzahl auf fünf bzw. drei geschrumpft.
Angesichts der sich anbahnenden institutionellen Krise war es ein ermutigendes Zeichen, dass im Mai 1939 in der kommunistischen Zeitschrift Unser Wort der Trotzkist Heinz Epe eine kenntnisreiche Rezension der ZfS veröffentlichte hatte, über die sich Horkheimer begeistert zeigte, auch gerade weil Epe Horkheimer vorgeworfen hatte, in der „Haut des bürgerlichen Philosophen“ [16] gefangen zu bleiben und seine Tätigkeit auf die Arbeit der Erkenntnis zu beschränken, für welche Epe wiederum des Lobes voll war, wie in seinem Kommentar zu Horkheimers Aufsatz „Die Philosophie der absoluten Konzentration“: „Solche Sätze sind uns wahrhaft aus dem Herzen gesprochen, und wiederum sollte man meinen, dass diese Erkenntnis die Verpflichtung des Bekenntnisses zu einem bestimmten politischen Programm in sich einschließe […]“ [17] . Dazu merkte Horkheimer in einem Brief an Löwenthal an, „Die negativen Äußerungen, die übrigens ins Schwarze treffen, erscheinen mir viel eher als Werbung denn als bösartiger Angriff. Eben deshalb steht auf die Publikation der [Juden und Europa …] Begeisterung zu erwarten.“ (HGS 16: 618) Das Wissen, noch eine aufmerksame Leserschaft in Europa zu haben (Unser Wort erschien in Antwerpen), dürfte ein Ansporn gewesen sein, nur teilweise den abmildernden Formulierungen nachzugeben, auf die Löwenthal drängte.
Der Schlussteil von Horkheimers Aufsatz stellte die Frage nach dem Ende des Antisemitismus. Sein „natürliches Ende“ sah Horkheimer in der vollendeten Unmenschlichkeit des Faschismus, denn dieser benötigte, glaubte Horkheimer, den Antisemitismus nur in der Periode seines Aufstiegs. Es gebe aber auch ein „unnatürliches Ende“, nämlich „die Abschaffung der Klassen selbst, nicht die Rückkehr zu vergangenen Formen des Unrechts.“ [18] Löwenthal hatte Bedenken wegen dieser Formulierung und warnte Horkheimer, „sehr heiß. Kann aktivistisch verstanden werden.“ (19] Folgerichtig schlug er erst vor, den ganzen Satz zu streichen und, vier Tage später, nur die Phrase „Abschaffung der Klassen“ zu tilgen. Horkheimer fand eine andere Lösung: er ersetzte die Phrase mit dem vagen Ausdruck „der Sprung in die Freiheit“. Wo zuerst die Notwendigkeit revolutionärer Handlung zur Beseitigung des Antisemitismus erklärt wurde, stand nun ein Satz, der auf unverfänglich vielfältige Art und Weise interpretiert werden konnte. Und mit dieser Änderung war der redaktionelle Prüfungsprozess noch keineswegs abgeschlossen. So meldete sich Löwenthal am 29. August bei Horkheimer: „Ihren Aufsatz habe ich wegen des Jargons noch Mals durchgesehen.“ Mit „Jargon“ meinte Löwenthal das marxistische Vokabular, insbesondere die Begriffe “Klasse” und “Kapitalismus”. Entsprechend schlug er beispielsweise vor, „Klassen“ durch „Gruppen“ oder, an anderer Stelle, durch „Unternehmer“ zu ersetzen. Ferner wurde auf Löwenthals Korrekturblatt aus „herrschender Klasse“ „die Herrschenden“ und „die Oberschicht“; aus „Arbeiterklasse“ „Arbeiterschaft“; aus „Kapitalismus“ „Epoche“. [20]
2. Trotz der von Adorno bemerkten „Zensurlücken“ und „Unebenheiten“ war es Horkheimer mit „Die Juden und Europa“ gelungen, wie er in einem Brief an Katharina von Hirsch erleichtert feststellte, „endlich einmal ein klares Wort über den Gegenstand [zu] bringen,“ ohne dabei, wie er befürchtet hatte, die „Grenze dessen, was in einem wissenschaftlichen Organ noch tragbar ist, [zu] überschreiten“ und der Reputation des IfS zu schaden (HGS 16: 614). Doch hatte er sich mit dem Erfolg des Artikels nicht aus der Zwickmühle manövriert, einerseits einen auf Kürze und Einfachheit bedachten neuen Stil der Theorie zu kultivieren[21] und andererseits das wissenschaftliche und bildungspolitische Establishment in den USA nicht zu verschrecken. Radikal zu sein ohne allzu radikal zu wirken: das war unmöglich. Daher blieben Horkheimers dezidiert politische und marxistische Ausführungen unveröffentlicht (wie sein Aufsatz „Zur Soziologie der Klassenverhältnisse“) oder erschienen nur im informellen mimeogra-phierten Format, wie sein Aufsatz „Autoritärer Staat“ und die gemeinsam mit Adorno verfassten Philosophischen Fragmente. Obwohl dieses Werk nur in einer Erstauflage von 300 Exemplaren erschien, wurde Löwenthal mit Verweis auf sein „übliches Amt als Zensor“ und „im Hinblick auf taktische Angelegenheiten“ zu Rate gezogen. [22] Nach einer letzten Korrektur des gesamten Typoskripts gab Löwenthal unter der Überschrift „Ernste Probleme“ zu bedenken, einige Formulierungen könnten so ausgelegt werden, dass sie „den Eindruck erwecken könnten, dass das Programm der freien Liebe [the program of free love] ausgerufen wird.“ [23) Vermutlich bezog sich Löwenthal hier auf Horkheimers Nietzscheanische These, der Genuss sei Rache der Natur an den Zwängen der Zivilisation, die durch die Arbeitsteilung von Geist und Körper Liebe und Lust immer stärker voneinander trennt, sodass das Geschlechtsleben einerseits zu „Sport und Hygiene“ verdinglicht wurde und andererseits der Sade‘sche Tabubruch einer Utopie die Treue halte, „die den physischen Genuß für alle freigibt“ (vgl. HGS 5: 128–133). Im Laufe der Publikationsgeschichte der Philosophischen Fragmente trat allerdings ein zweites Bedenken Löwenthals in den Vordergrund: Er warnte vor Formulierungen, die „den Eindruck erwecken, dass die demokratische Gesellschaft sich im Vorstadium des Faschismus“ [24] befände.
Im Sommer 1946 redigierte Löwenthal die Philosophischen Fragmente noch einmal. Sie sollten nun unter dem Titel Dialektik der Aufklärung im Amsterdamer Verlag Querido erscheinen (zeitweilig erhoffte man sich auch, dort die ZfS aufs Neue verlegen zu können). Am 22. Juli erinnert Löwenthal Horkheimer daran, dieser habe damals „nicht alle meine Bedenken […] akzeptiert“ und nun wiederholt Löwenthal nachdrücklich, Horkheimer habe unvorsichtigerweise „die Demokratie als Vorform des Faschismus verallgemeinert.“ [25] Horkheimer reagiert auf dieses wiederholte Bedenken mit Unverständnis: „Warum soll es so waghalsig sein, auf den Trend der Demokratie zum Faschismus hinzuweisen? Meiner Meinung nach ist dieser Trend eine der wichtigsten Thesen – besser gesagt, Grundannahmen – jeglicher kritischer Theorie der heutigen Gesellschaft.“ [26] Trotz dieser Uneinigkeit in ihrer Beurteilung der Tendenzen der amerikanischen Gesellschaft folgte Horkheimer Löwenthals schon 1944 geäußerter Befürchtung, die Dialektik der Aufklärung beinhalte noch zu viel linken Jargon. Am 17. Juli 1946 beauftragte Horkheimer Löwenthal, sich das Buch auf marxistische Ausdrücke hin durchzusehen und diese „soweit wie möglich zu entfernen.“ [27] Direkter Anlass für diese Aufforderung zur Zensur waren Artikel in der New York Times, die das Kampfwort „Monopol“ – das im politischen Diskurs der Vierzigerjahre sowohl von links, gegen Industrie-Monopole, als auch von rechts, gegen gewerkschaftliche „Arbeits-Monopole“ gebraucht wurde – vermehrt mit der Sowjetunion in Verbindung brachten.
Die Assoziation von „Monopol“ mit, wie Horkheimer es 1946 ausdrückte, „jenen Europäern, die zum Osten hin tendieren“ [28], führte dazu, dass in der Ausgabe von 1947 aus „Monopol“ eine “Clique” und aus „Monopolherren“ „Generaldirektoren“ wurden. Besonders verdächtig waren außerdem alle Wortbildungen mit „Klasse“ und „Kapital“. Man kann dies nachzählen: Komposita mit „Monopol“ kommen 1944 71-mal vor und 1947 nur noch sechsmal. Komposita mit „Klasse“ kommen 1944 34-mal vor und 1947 nur 17-mal. Komposita mit „Kapital“ kommen 1944 42-mal vor und 1947 immerhin 29-mal, deutlich wird aber die Tendenz, die theoretischen Hinweise auf die geschichtliche Entwicklung einer spezifisch kapitalistischen Gesellschaft zu tilgen. Man sieht dies auch am tendenziellen Verschwinden des Begriffs der Ausbeutung (von 13 Vorkommen 1944 auf vier Erwähnungen 1947 reduziert), des Tauschwerts (von sechs auf zwei Erwähnungen) und der Produktionsverhältnisse (von zwei auf eine Erwähnung). Soll man dieses „Verschwinden der Klassengeschichte in der Dialektik der Aufklärung“, wie Willem van Reijen und Jan Bransen es genannt haben, als vor allem taktische Konzession an den antikommu-nistischen Zeitgeist der Nachkriegsjahre verstehen, oder handelt es sich bei diesen begrifflichen Änderungen grundsätzlicher um Zeichen eines theoretischen und politischen Rückzugs? Reijen und Bransen meinen zwar, der “Marxsche Ansatz [bleibt] für die kritische Theorie nach wie vor grundlegend” (HGS 5: 457), doch wirft diese Feststellung mehr Fragen als Antworten auf, denn eine marxistische Theorie der Klassenherrschaft impliziert mehr als nur einen „Marx‘schen Ansatz“. Ist nämlich die Tilgung der Begrifflichkeit des monopolistischen Kapitalismus nicht nur ein oberflächliches Phänomen, dann bedeutet sie wahrscheinlich, wie dies auch immer wieder in der Forschung betont wird, dass Adorno und Horkheimer die These Pollocks von einem Übergang des Privatkapitalismus in den Staatskapitalismus akzeptierten. Weil die These Pollocks aber nicht mehr dem “Marx‘schen Ansatz” entspricht, sind die Änderungen der Urfassung von 1944 schwerlich nur als taktische Zensur zu beschreiben, von der der Kern der Theorie unberührt bleibt. [29]
Anmerkungen/Fußnoten:
[1] „How to Look at Television“ in: The Quarterly of Film Radio and Television 8 (1953), 213–235, 218.
[2] Vgl. Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, Frankfurt/M. 1990 (1962).
[3] Brief an Hans Mayer, in: Mit den Ohren denken: Adornos Philosophie der Musik, Frankfurt/M. 1998, 401.
[4] Ebd. 375.
[5] MHA: http://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/horkheimer/content/pageview/7317666.
[6] Im FBI-Zensurbericht vom 22. Juli 1942 findet sich der Vermerk, dass die Telegramme aller Mitglieder des IfS aufgrund ihres Hintergrunds als Flüchtlinge überwacht werden sollen. (Censorship Daily Reports VI: 5811–5825).
[7] Dave Jenemann, Adorno in America, Minneapolis, London 2007, 182–183.
[8] Confidential Office Memorandum, United States Government, 4. August 1950.
[9] “Institute of Social Research”, FBI Akte, 21. 1. 1944.
[10] Rolf Wiggershaus, Die Frankfurter Schule. Geschichte, Theoretische Entwicklung, Politische Bedeutung, Frankfurt/M., E-Book.
[11] Vgl. Andrew Rubin, “The Adorno Files”, in: Adorno: A Critical Reader, London 2002, 174.
[12] Vgl. Perry Anderson, Über den westlichen Marxismus, Frankfurt/M. 1978.
[13] MHA: http://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/horkheimer/content/pageview/6589909.
[14] MHA: http://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/horkheimer/content/pageview/6589861.
[15] MHA: http://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/horkheimer/content/pageview/6589899.
[16] Walter Held [Heinz Epe], „Kritische Theorie ohne politische Praxis?“, in: Helmut Dahmer, Freud, Trotzki und der Horkheimer-Kreis, Münster 2020, 485.
[17] Ebd. 486f.
[18] MHA: http://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/horkheimer/content/pageview/6589887.
[19] MHA: http://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/horkheimer/content/pageview/6327282.
[20] MHA: http://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/horkheimer/content/pageview/6327227.
[21] „Der Stil der Theorie wird simpler“ (HGS 12: 280).
[22] Vgl. Brief Horkheimers vom 28. April 1944 im MHA: http://sammlungen.ub.uni- frankfurt.de/horkheimer/content/pageview/6329174.
[23] MHA: http://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/horkheimer/content/pageview/6329080.
[24] MHA: http://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/horkheimer/content/pageview/6329080.
[25] MHA: http://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/horkheimer/content/pageview/6330193.
[26] MHA: http://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/horkheimer/content/pageview/6330165.
[27] MHA: http://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/horkheimer/content/pageview/6330224.
[28] MHA: http://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/horkheimer/content/pageview/6330224.
[29] Vgl. auch Moishe Postone, Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft, Freiburg 2003, 141–192.