Von: Marlon Grohn
Reihe "Pankower Vorträge, Nr. 239, 2022, 68 S.
Der Text ist die erheblich erweiterte Fassung eines Vortrags, den der Verfasser im Januar 2022 in der Hellen Panke in Berlin hielt. Thema ist Hegels Begriff des Bösen sowie das Verhältnis von „Schöner Seele“ und „bösem Bewusstsein“ sowie das Verhältnis von Moralität und Vernunft des Wirklichen in Hegels Phänomenologie des Geistes. Hegel löst dort die fixen Bestimmungen von Gut und Böse auf und bringt sie auf den Begriff: Beide Bewusstseinsformen, die Schöne Seele wie das Böse, sind moralischer Natur und finden ihre Auflösung in der Praxis des Wirklichen, also der tätigen Vernunft. Es wird gezeigt, inwiefern Hegels Phänomenologie eine Auseinandersetzung mit den Romantikern seiner Zeit ist und warum der marxistische Philosoph Alexandre Kojève die Philosophie Hegels als die in Begriffe gefasste Politik Napoleons und damit als dessen „Selbstbewusstsein“ deutete.
In Zeiten von privatisierter Öffentlichkeit und veröffentlichter Privatheit, also jenen der sozialen Medien, bietet es sich an, Hegels Stufen geistiger Erfahrung zu aktualisieren und zu zeigen, wo und auf welche Weise sie sich in der heutigen Diskussionskultur im Internet wieder findenlassen.
Marlon Grohn ist Autor der Bücher „Kommunismus für Erwachsene. Linkes Bewusstsein und die Wirklichkeit des Sozialismus“ (2019), „Hegel to go. Vernünftige Zitate“ (Hrsg. mit Dietmar Dath, 2020) und „Hass von oben, Hass von unten. Klassenkampf im Internet“ (2021). Er publiziert regelmäßig in Medien wie Telepolis und neues deutschland.
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Inhalt
0. Vorbemerkung zur Struktur der Phänomenologie des Geistes
1. Hegels Begriff vom Bösen
2. Verhältnis von Schöner Seele und bösem Bewusstsein
3. Napoleon, Kojève, das böse Bewusstsein und die Sozialen Medien
4. Kollektive „Schönseelischkeit“ und „tote Gemüter“
5. Nettigkeit und Anerkennung des Bösen
6. Teufel im Leib: Furcht, Bildung, Kampf und Arbeit
7. Die Schöne Seele Hamlet
8. Schluss
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„Bei Hegel ist das Böse die Form, worin die Triebkraft der geschichtlichen Entwicklung sich darstellt. Und zwar liegt hierin der doppelte Sinn, daß einerseits jeder neue Fortschritt notwendig auftritt als Fre-vel gegen ein Heiliges, als Rebellion gegen die alten, absterbenden, aber durch die Gewohnheit geheiligten Zustände und andrerseits, daß seit dem Aufkommen der Klassengegensätze es grade die schlechten Leidenschaften der Menschen sind, Habgier und Herrschsucht, die zu Hebeln der geschichtlichen Entwicklung werden, wovon z.B. die Ge-schichte des Feudalismus und der Bourgeoisie ein einziger fortlaufen-der Beweis ist. Aber die historische Rolle des moralisch Bösen zu un-tersuchen, fällt Feuerbach nicht ein. Die Geschichte ist ihm überhaupt ein ungemütliches, unheimliches Feld.“
– Friedrich Engels (1)
„Um politisch richtig zu handeln, muss man in jeder Lage immer nur das Niederträchtigste tun. Der Erfolg rechtfertigt im Nachhinein alles. Er adelt das ursprünglich Böse, bis es als das sittlich Wertvolle erscheint.“
– Napoleon
0. Vorbemerkung zur Struktur der Phänomenologie des Geistes
Für das Verständnis von Hegels Phänomenologie des Geistes ist zu beachten, dass sie einzelne Stufen oder Bewegungsgestalten des Bewusstseins – und damit auch Seins – behandelt. Diese Gestalten – vom „bösen Bewusstsein“, „dem Bewusstsein der Pflicht“, dem „Gewissen“ und dem „beurteilenden Bewusstsein“ über die „Schöne Seele“, „das harte Herz“ und die „Verzeihung“ bis hin zum „absoluten Wissen“ – bilden nicht einfach einzelne Personen ab und sind nur insoweit personifizierbar, als sie überhaupt bei jedem einzelnen Menschen in unterschiedlichem Grad vorzufinden sind, es sich also um Bezeichnungen von verschiedenen Entwicklungsstadien des menschlichen Bewusstseins handelt.
Zum Beispiel wird sich wohl jeder Mensch im Laufe seines Lebens einmal im Stadium der Schönen Seele befinden, die Frage ist nur, wie lange man in diesem verweilt oder ob es etwa verewigt wird. Auch die letzte, abschließende Gestalt des „absoluten Wissens“ ist wiederum lediglich schematisch und nicht notwendig identisch mit einem konkreten Menschen. Das absolute Wissen ist vielmehr eine Form des Weltzugangs, eine Weise, wie Bewusstsein formieren kann, eine geistige Stufe, auf dem eine Person zu einem bestimmten Zeitpunkt ihres Lebens steht.
Gegenstand der Phänomenologie des Geistes sind Entwicklungsdynamiken innerhalb des Bewusstseins (sowie deren Entäußerungen in der Wirklichkeit), die das Erklimmen von Stufen hin zu einer Weisheit, eben jenem „absoluten Wissen“, bedeuten. Der Begriff der Erfahrung, also der Entwicklungsprozess des Individuums, ist, wie Hegel bereits in der Vorrede deutlich macht, eine der zentralen Kategorien, denn „[d]as Bewußtsein weiß und begreift nichts, als was in seiner Erfahrung ist“ (PhG, S. 38), weshalb die Phänomenologie die „Wissenschaft der Erfahrung, die das Bewußtsein macht“ (ebd.) darstellen soll. Es drängt sich in den Zeiten von privatisierter Öffentlichkeit und veröffentlichter Privatheit, also jenen der Sozialen Medien, nahezu auf, Hegels Stufen geistiger Erfahrung zu aktualisieren und zu zeigen, wo und auf welche Weise sie sich im Internet heute wiederfinden lassen.