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Heft 70: Walter Benjamin und die Kultur der Revolte

Von: A. K. Thompson

Heft 70: Walter Benjamin und die Kultur  der Revolte

Reihe "Philosophische Gespräche", 2024, Heft 70, 52 S.

Das vorliegende Heft geht auf den Vortrag des Autors in der „Hellen Panke“ am 15. Januar 2024 zurück. In der Reihe „Philosophische Gespräche“ referierte er zum Thema „Walter Benjamin and the Culture of Revolt – Walter Benjamin und die Kultur der Revolte“. Abgedruckt werden zwei Texte, die erstmals in deutscher Übersetzung erscheinen und beide das Thema des Vortrags behandeln: Walter Benjamin und die Kultur der Revolte. Wir bedanken uns beim Referenten A. K. Thompson. Wir danken Frank Engster für die Übersetzung und Florian Cord für das Lektorat.

Autor
A. K. Thompson,
ist als kritischer Theoretiker und Wissenschaftler aktiv im Bereich sozialer Bewegungen. Er ist Autor und Herausgeber zahlreicher Schriften, darunter Sociology for Changing the World: Social Movements/Social Research (2006), Black Bloc, White Riot: Anti-Globalization and the Genealogy of Dissent (2010), Keywords for Radicals: The Contested Vocabulary of Late-Capitalist Struggle (2016), Spontaneous Combustion: The Eros Effect and Global Revolution (2017) und Premonitions: Selected Essays on the Culture of Revolt (2018).

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Inhalt

How to Do Things with Walter Benjamin – 
Was tun mit Walter Benjamin                                                                                     


Die Schlacht um die Nekropole

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LESEPROBE

How to Do Things with Walter Benjamin[1]
 Was tun mit Walter Benjamin

 

„Ich habe nichts zu sagen. Nur zu zeigen. Ich werde nichts Wertvolles entwenden und mir keine geistvollen Formulierungen aneignen. Aber die Lumpen, den Abfall: die will ich nicht inventarisieren sondern sie auf die einzig mögliche Weise zu ihrem Rechte kommen lassen: sie verwenden.“

 (Walter Benjamin)[2]

 

I

Obwohl Walter Benjamin noch kein bekannter Name war, wurde er gegen Ende des 20. Jahrhunderts in der amerikanischen Wissenschaft zu einer Ikone. Durch seine Analyse der materiellen Kultur, durch seine Beschäftigung mit dem Urbanen und seine Erforschung derjenigen Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaft, die in ihrem Überbau zum Ausdruck kommen, entwickelte Benjamin ein analytisches Instrumentarium, das vor allem für die Kulturwissenschaft von besonderer Bedeutung war. In ihrem einflussreichen Aufsatz über das Passagenwerk von 1992 festigte Angela McRobbie diesen kanonischen Status, indem sie Benjamin als wichtigen Wegbereiter in diesem Feld bezeichnete (und als fortlaufende Ressource für diejenigen, die in diesem Feld arbeiten).[3] Doch obwohl Benjamin heute ein etablierter und kanonischer Bezugspunkt unter Kulturwissenschaftler_innen ist und es mittlerweile eine beträchtliche Sekundärliteratur zu seinem Werk gibt, sind Bemühungen, seine Einsichten zu klären und auf ihnen aufzubauen, indem sie für einen praktischen Gebrauch operationalisiert werden, relativ selten geblieben.

Dieser Mangel ist meines Erachtens aus zwei Gründen von Bedeutung. Erstens verlangt der Moment der Gefahr, in dem wir uns heute befinden (ein Moment, der durch das Wiedererstarken des Faschismus und den Zusammenbruch liberal-demokratischer Normen gekennzeichnet ist), nicht nur, dass wir unseren Zustand analytisch erfassen. Er verpflichtet uns auch zum Handeln, damit der katastrophale Ausgang, der in unserer Gegenwart angelegt ist, nicht eintritt.  Da Benjamin in seiner Zeit mit einer ähnlichen Gefahr konfrontiert war, entwickelte er intellektuelle Werkzeuge für ein solches Handeln – und Kulturwissenschaftler_innen könnten eine wichtige Rolle in der Bearbeitung der theoretischen wie praktischen Aufgaben spielen, die er uns hinterlässt. Zweitens, in analytischer Hinsicht, behaupte ich, dass Benjamins intellektuelles Projekt nur durch dessen Operationalisierung überhaupt wirklich verstanden werden kann.

Im Folgenden begründe ich diese Behauptungen, indem ich Benjamins lebenslanges intellektuelles Projekt episodisch skizziere, um so die kohärente Methode zu erschließen, die aus dem Projekt hergeleitet werden kann. Anschließend zeige ich anhand eines Beispiels, wie diese Methode heute angewandt werden könnte. In Übereinstimmung mit Benjamins Forderung, dass die materialistische Geschichtsdarstellung „nichts Wertvolles entwenden“ und keine „geistvollen Formulierungen“ verwenden sollte, beschränke ich mich auf die Betrachtung von Details, die vielen Lesern bereits bekannt sein dürften. Betrachtet man eine intellektuelle Biographie jedoch weniger als eine Tour durch die verschiedenen Einflüsse und verfolgt vielmehr die Implikationen, die sich aus den entscheidenden Impulsen eines Denkers ergeben, dann wird deutlich, dass (abgesehen von Unterscheidungen zwischen intellektuellen Phasen) selbst alltägliche Details eine kohärente Methodik zu offenbaren vermögen, die, sobald sie verstanden ist, auch operationalisiert werden kann.

 

II

Laut dem Benjamin-Biographen Pierre Missac umfasste bereits 1984 „eine allgemeine kritische Bibliographie“ mit Sekundärquellen zu Benjamin „nicht weniger als 180 Seiten, trotz sicher entschuldbarer Lücken“.  Um einen wirklichen Eindruck von Benjamins neuer kultureller Allgegenwart zu bekommen, gilt es jedoch, sich (wie Benjamin selbst es vielleicht getan hätte) einem eher anekdotischen, aber unbestreitbar aufschlussreichen Umstand zuzuwenden.  Hier zeigt sich, dass die Praxis, Benjamin in Form des name-dropping in wissenschaftlichen Arbeiten zu erwähnen, im Jahr 2011 derart weit verbreitet war, dass sie zum Gegenstand literarischer Satire wurde.

In Once We Were Swedes („Einst waren wir Schweden“) verbindet die kanadische Autorin Zsuzsi Gartner eine ernste Liebesgeschichte mit einem Krimi, mit einem College-Klassenzimmer sowie mit impressionistischen Spaziergängen durch das im Niedergang befindliche Vancouver. Eine Episode beginnt so: „Es war das Jahr, in dem die geschäftstüchtigen Obdachlosen (...) winzige Hütten aus geklauten Wahlkampfschildern bauten“. Unvermeidlich wurde alsbald „die Designwelt aufmerksam, und die in San Francisco ansässige Architekturzeitschrift Dwell veröffentlichte einen Fotoessay mit einem Text von Torontos angesagtestem öffentlichen Intellektuellen“. Zum Abschluss ihres Schnappschusses erzählt Gartner, wie der Dwell-Autor „das erforderliche Walter-Benjamin-Zitat aus Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkteit“ beisteuerte, bevor er mit „einigen McLuhanesken Wortspielen“ endete.[4]

Gartners Geschichte, die in Better Living Through Plastic Explosives („Schöner leben durch Plastiksprengstoffe“) enthalten ist (eine Sammlung, die zusammen mit einem Werk von Michael Ondaatje auf der Shortlist für den Giller Prize 2011 stand), mag als nützliche historische Marke dienen. Ihre kantigen und kantigen Anspielungen dürften allseits bekannt sein – die satirische Form funktioniert indes nur, wenn die Zielperson für solche Demütigungen auch geeignet ist. Doch auch wenn Gartners Satire das Ausmaß wie den Charakter der zeitgenössischen Auseinandersetzung mit Benjamins Werk offenlegt, so müssen die Gründe für diese Entwicklung erst noch ermittelt werden. Jenseits von Benjamins literarischer Virtuosität, seiner intellektuellen Verführungskraft sowie seinem Gespür für das Aufzeigen von Themen, die später zum Kerngeschäft der Kulturwissenschaften werden sollten, gilt es, die Aufrichtigkeit anzuerkennen, mit der Benjamin seine Leser_innen zu Kompliz_innen – und damit als aktive Teilnehmende – im Akt des Entdeckens machte.

1934 stellte Benjamin fest, dass die Zeitung zwar den Verfall des bürgerlichen geschriebenen Wortes signalisierte, sie in der Sowjetunion jedoch zu einem revolutionären Medium geworden war, wo praktische Erwägungen die Unterscheidung zwischen Autor_in und Leser_in aufgehoben hatten.  Eine ähnliche Haltung hatte Benjamin einige Jahre zuvor in Einbahnstraße eingenommen, wo er argumentierte, dass „die bedeutende literarische Wirksamkeit (…) nur in strengem Wechsel von Tun und Schreiben zustande kommen“ kann. Folglich müsse eine solche Arbeit „die unauffälligen Formen, die ihrem Einfluss in tätigen Gemeinschaften besser entsprechen als die anspruchsvolle Geste des universalen Buches, in Flugblättern, Broschüren, Zeitschriftenartikeln und Plakaten ausbilden“.  Ja, „nur diese prompte Sprache zeigt sich dem Augenblick wirkend gewachsen“.

Benjamin, der diese Einsicht in einer dem Passagenwerk beigefügten Notiz wiederholte und zu einer pointierten Maxime zuspitzte, war überzeugt, dass er bei der Zusammenstellung des Materials für seine Studie „nichts zu sagen. Nur zu zeigen“ brauche. Dieses Zeigen, so meine These, setzte das aktive Engagement des Lesenden-Betrachtenden voraus, und es bezog sich nicht nur auf die Dinge, sondern auf die Methode, also nicht nur auf das Was, sondern auf das Wie. Der Prozess selbst wiederum war auf Nachahmung angelegt, und es ist dieser methodologische Impuls, der Benjamins Werk bis heute so verführerisch macht. Aber während Verführung uns für den Wert eines methodischen Ansatzes sensibilisieren mag, kann sie gleichwohl nicht das Vehikel sein, mit dem die Methodologie selbst vermittelt wird.

Da Benjamin sich eher dem Zeigen als dem Erklären verschrieben hatte, legte er die Prämissen seiner Untersuchungen nicht immer offen dar. Gleichwohl wird bei der Durchsicht seines Werkes deutlich – vom Essay über das Leben der Studenten von 1915 bis zu seiner letzten Schrift Über den Begriff der Geschichte von 1940, den sog. Geschichtsthesen –, dass sein intellektuelles Projekt von einer durchgehenden methodischen Kohärenz geprägt war (die daher auch offengelegt werden kann).[5] Diese Kohärenz ermöglicht es, das Projekt selbst zu operationalisieren und mithin zu erweitern – Benjamin nachzueifern, und zwar nicht, wie es häufig der Fall ist, durch die ornamentale Wiederholung seiner Erkenntnisse, sondern durch den eigentlichen Prozess des Denkens und Handelns. Gleichwohl ließ Benjamins Ansatz viel Raum für Unsicherheit. Theodor Adorno behauptete einmal sogar, der Ansatz sei nicht viel mehr als eine „breitäugige Präsentation bloßer Tatsachen“,[6] und selbst Benjamin räumte einmal ein, es sei anständiger „von einem Trick als von einer Methode zu sprechen“.[7] Für diejenigen, die Benjamin operationalisieren wollen, müssen die Attribute dieses Tricks geklärt werden.

 

III

In der Einleitung ihres Buches Walter Benjamin: A Critical Life stellen Howard Eiland und Michael Jennings fest, dass die umfangreiche Sekundärliteratur zu Benjamin „sich dadurch auszeichnet, dass es in keinem Punkt Einigkeit gibt“.

...

_________________________

[1] [Der Aufsatz erschien zuerst in: A. K. Thompson: Premonitions. Selected Essays on the Culture of Revolt. Chico, CA: AK Press, 2018. Der englische Titel ist eine Anspielung auf den Klassiker von J. L. Austin How to do Things with Words.]

[2] Walter Benjamin: Das Passagenwerk. In: Gesammelte Schriften, Band V2, Frankfurt/M. 1982, N 1, a8.

[3] Angela McRobbie: „The Passagenwerk and the place of Walter Benjamin in Cultural Studies: Benjamin, Cultural Studies, Marxist Theories of Art.” In: Cultural Studies 6, Nr. 2 (1992): S. 147–169.

[4] Zsuzsi Gartner: Better Living Through Plastic Explosives. Toronto: Canada: Penguin 2011, S. 43. [Alle Zitate aus englischen Quellen wurden ins Deutsche übersetzt. Anm. F.E.]

[5] Mit diesem Argument will ich nicht behaupten, dass Benjamin zu Beginn seiner intellektuellen Laufbahn bereits wusste, welche Themen und Ansätze er am Ende seiner Laufbahn verwenden würde. Ich erkenne eine klare Periodisierung in Benjamins intellektueller Biographie an. Dennoch ist wichtig darauf hinzuweisen, dass die Reduzierung einer solchen Periodisierung auf eine Geschichte biographischer Einflüsse im Widerspruch zu Benjamins eigenem Ansatz der historischen Abrechnung steht. So schlägt er in Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts vor, dass der Ablauf der Welthistorie „ihr Ende in sich (trägt) und (es) entfaltet – wie schon Hegel sah – mit List“. Ich behaupte, dass diese Einsicht, um konsistent zu sein, auch auf jede Periodisierung von Benjamins eigenem intellektuellem Werk angewendet werden muss; vgl.  Walter Benjamin: „Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts“. In: Das Passagenwerk, Gesammelte Schriften, Band V1, S. 59.

[6] Theodor Adorno: „Charakteristik Walter Benjamins“. In Ders.: Prismen. Kulturkritik und Gesellschaft. Gesammelte Schriften, Band 10.1. Frankfurt/M. 1977, S. 242.

[7] Walter Benjamin: „Der Surrealismus: Die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz.“ In: Gesammelte Schriften, Band II. Frankfurt/M. 1977, S. 296–309; Zitat S. 298.

 

  • Preis: 4.00 €