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Heft 154: Vom Erbe des literarischen Realismus des 19. Jahrhunderts

Tagung anlässlich des 200. Geburtstages von Fritz Reuter und des 100. Todestages von Wilhelm Raabe

Von: Heidi Beutin, Wolfgang Beutin, Christian Bunners, Jost Hermand, Thomas Höhle, Hans-Jürgen Schneider, Hartwig Suhrbier, Gerhard Wagner

Heft 154: Vom Erbe des literarischen Realismus des 19. Jahrhunderts

Reihe "Pankower Vorträge", Heft 154, 2010, A5, 64 S., Preis 3 Euro plus Versand

Inhalt

Wolfgang Beutin
Grußwort zur Eröffnung der Tagung

Gerhard Wagner
Warum Realismus? Kulturelle Kontexte einer Jahrhundertfrage

Jost Hermand
Realisten, Parvenüs, Genies – Künstler der Gründerzeit

Christian Bunners
Poesie für die Unterliegenden
Zum 200. Geburtstag des Dichters und Demokraten Fritz Reuter

Hartwig Suhrbier
Komplimente für den Kollegen
Zur Rezeption Fritz Reuters durch Wilhelm Raabe

Wolfgang Beutin
Demokratie und Revolution in Wilhelm Raabes Stuttgarter Trilogie

Heidi Beutin
Marie von Ebner-Eschenbachs Sozialutopie in der Erzählung "Der Kreisphysikus"

Thomas Höhle
Helvetische Demokratie im Werk Gottfried Kellers

Jürgen Schneider
Theodor Fontane: Unwiederbringlich
Zur Psychopathologie des Alltäglichen

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Das vorliegende Heft enthält für den Druck bearbeitete Beiträge der Konferenz
Vom Erbe des deutschen Realismus des 19. Jahrhunderts, die anlässlich des 200. Geburtstags von Fritz Reuter und des 100. Todestags von Wilhelm Raabe am 24. September 2010 vom Verein „Helle Panke“ e.V. – Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin in Verbindung mit der Fritz Reuter Gesellschaft e.V. veranstaltet wurde.

Die im November 2010 dicht beieinander liegenden Gedenktage waren uns Anlass, über Schriftsteller nachzudenken, die auf ihre Weise die Gedanken der Revolution und der Demokratie im 19. Jahrhundert stark gefördert haben. Ihr schriftstellerisches Erbe zählt in Deutschland zum Grundstock des literarischen Realismus.

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LESEPROBE

Wolfgang Beutin

Grußwort zur Eröffnung der Tagung

Innerhalb der nächsten Wochen dieses Jahres liegen zwei Gedenktage dicht beieinander. Sie bieten Anlass, über Schriftsteller nachzudenken, die auf ihre Weise die Gedanken der Revolution und der Demokratie im 19. Jahrhundert stark gefördert haben, wofür ihnen erhebliche Opfer abverlangt wurden:

Fritz Reuter (200. Geburtstag am 7. November; gest. 1874) und Wilhelm Raabe (geb. 1831; 100. Todestag am 15. November).

Das schriftstellerische ¼uvre beider Autoren zählt in Deutschland zum Grundstock des literarischen Realismus, und es ist, wie die Biographien der Autoren, vielfältiger Legendenbildung ausgesetzt gewesen. In Wahrheit waren sie beide Dichter mit einem in der Wolle gefärbten gesellschaftskritischen Werk hohen Ranges.

Reuter musste seiner demokratischen Einstellung wegen das Todesurteil hinnehmen. Zwar wurde seine Strafe in dreißigjährige Haft umgewandelt, wovon er sieben Jahre meist auf preußischen Festungen abbüßte. Das war kein Kinderspiel, sondern zeitweise mit qualvoller Isolierung und stetig mit grausamen Entbehrungen verbunden. Doch ließ er sich seine demokratische Überzeugung niemals rauben, und er drückte sie in seinem später entstehenden dichterischen Werk vielfach aus. Nicht zuletzt dadurch wurde er in seiner Zeit zum gefeiertsten Dichter Deutschlands.

Seinem Zeitgenossen Raabe gestatteten die Literaturverhältnisse im Reich nur ein Schriftstellerdasein am Rande der Gesellschaft, oft mit kaum dem Existenzminimum für ihn und seine Familie. Ihm bildeten die Revolutionen und "Revolutionen des Geistes" die Grundfakten der europäischen Geschichte, die er in seinen wichtigsten Dichtungen würdigt.

Einen den Kennern und Liebhabern von Fritz Reuters Dichtkunst schmerzlichen Sachverhalt fasste Christian Bunners erst 2009 wieder in die Worte: dass im 20. Jahrhundert „die Bekanntschaft mit Fritz Reuters Werken abgenommen“ habe, „mitbedingt durch den allgemeinen Rückgang des Gebrauchs niederdeutscher Sprache“. Außerhalb Norddeutschlands ist es mittlerweile eingerissen, Reuter am ehesten als Verfasser allenfalls regional interessierender Schriften zu bewerten, als einen der besseren Heimatschriftsteller, dessen zwei Hauptkennzeichen wären: die Verwendung des Plattdeutschen und der Humor! Wobei die Leute dann in der Regel diesen mit Spaß verwechseln, mit neudeutsch „fun“, der Sorte billiger Unterhaltung, in der heutzutage die populären Medien brillieren. Mit Hilfe der Stichwörter „Plattdeutsch“ und „Humor“ wird Reuter vom Hauptstrom der hochrangigen Dichtung getrennt. Diese Trennung zurückzunehmen, ist eine wichtige Aufgabe. Dann findet er seinen Platz wieder, wo er einzig hingehört: in der Literaturgeschichte des deutschen Realismus des 19. Jahrhunderts.

Die Rezeptionsgeschichte des Werks von Wilhelm Raabe beweist vortrefflich das Vorhandensein dessen, was er selber einmal das „Verkennungssystem“ nannte: „Die Menschheit ist einfach fürchterlich in ihrem Verkennungssystem!“ Zu dessen prominenten Opfern zählt ja er selber, der Erfinder oder jedenfalls Anwender dieser Wortverbindung. Ausgerechnet den Urheber des Satzes, einen Autor, der mit heutigen Begriffen auf dem linken Flügel des damaligen Bürgertums stand und in der Paulskirche zur "äußersten Linken" gezählt hätte (mit seinem Bekenntnis zur Volkssouveränität und Demokratie), ihn versuchten gelehrte Repräsentanten des NS in den Faschismus, in ihr „Drittes Reich“ heimzuholen. Das ging so weit, dass einem Raabe-Spezialisten der Dichter ein „Prophet nationalsozialistischen Gedankenguts“ war (Fehse, 1934). Und 1942 erklärte der damalige Vorsitzende der Raabe-Gesellschaft, Hahne, des Dichters „Botschaft“ sei gegen „Weltjudentum“ und „russisches Untermenschentum“ gerichtet.

In Wahrheit erinnerte dieser Schriftsteller im Nachmärz an große Revolutionen, um die Versuchung zur Resignation in einer „bösen“ Zeit, in der konterrevolutionären nach der gescheiterten Revolution von 1848/49, zu bekämpfen. So lautet Raabes Mahnung an die Adresse der schreibenden Zunft, die er in der „Chronik der Sperlingsgasse“ (1857) unmittelbar anredet: „O ihr Dichter und Schriftsteller Deutschlands, sagt und schreibt nichts, euer Volk zu entmutigen, wie es leider von euch, die ihr die stolzesten Namen in Poesie und Wissenschaften führt, so oft geschieht! Scheltet, spottet, geißelt, aber hütet euch, jene schwächliche Resignation, von welcher der nächste Schritt zur Gleichgültigkeit führt, zu befördern oder gar sie hervorrufen zu wollen.“ So und so ähnlich die originalen Aussagen Raabes in seinem Roman-Erstling, worin er sich mit den inneren Zuständen seiner Gegenwart, „des Zeitalters der Revolution“, auseinandersetzte. Aber wie soll man es bewerten, wenn ein westdeutscher Forscher (Volker Klotz) bei Betrachtung der „Chronik der Sperlingsgasse“ von der „rückwärts gewandten Sprache und Ideologie“ Raabes sprach? Eines Autors, der als junger Autor 1863 diesen Satz niederschrieb: „Es bleibt nichts übrig als die Revolution und nur die Revolution …“?

Spricht man vom bedeutenden Erbe des Realismus in Deutschland und in den deutschsprachigen Ländern in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, sind die ¼uvres so hervorragender Autoren wie die der Berliner Willibald Alexis und Theodor Fontane mitgemeint, sind mitgemeint die Dichtungen Theodor Storms, der Schweizer Gottfried Keller, Jeremias Gotthelf und Conrad Ferdinand Meyer, der Österreicher Adalbert Stifter, Ferdinand von Saar und Ludwig Anzengruber ebenfalls. Nicht zu vergessen ist der Frauenanteil, denn Schriftstellerinnen wie Marie von Ebner-Eschenbach, Louise von François und Gabriele Reuter trugen mit ihrer vorzüglichen Epik ihren Anteil zur Literaturgeschichte des Realismus bei.

In der hier zu eröffnenden Konferenz des heutigen Tages soll versucht werden, Grundprobleme des deutschen Realismus aufzuzeigen und eine Auswahl wichtiger Werke von Autoren und einer Autorin vorzustellen und sie zu interpretieren. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der literarischen Hinterlassenschaft der norddeutschen Realisten der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (Reuter, Raabe, Fontane).

Wie schon jährlich seit einem vollendeten Jahrzehnt, darf ich im Namen der Referenten und der Referentin auch an diesem Freitag im September 2010 den Mitarbeitern der „Hellen Panke“ und ihrer Leitung für die Vorbereitung der Tagung aufs herzlichste Dank sagen, was hiermit geschieht.

  • Preis: 4.00 €
  • Erscheinungsjahr: 2010