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Heft 164: 1871–2011 – 140 Jahre Einheit und Uneinigkeit in Deutschland

Ein linker Blick auf Nation, Klassenkampf und das Scheitern einer Mittelmacht -- Beiträge einer Tagung vom 24. Februar 2011

Von: Stefan Bollinger, Georg Fülberth, Jürgen Hofmann, Walter Schmidt

Heft 164: 1871–2011 – 140 Jahre Einheit und Uneinigkeit in Deutschland

Reihe "Pankower Vorträge", Heft 164, 2011, 40 S., A5, 3 Euro plus Versand

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Inhalt

Vorbemerkungen
von Stefan Bollinger

Walter Schmidt
Nationalstaat von oben und linker Widerstand

Georg Fülberth
Der deutsche Einheitsstaat trug den Keim seiner Auflösung von Anfang an in sich. Und so sieht er heute auch aus

Jürgen Hofmann
Wie viel Staaten verträgt eine Nation?
Großdeutsche, kleindeutsche und zweistaatliche Lösungen

Stefan Bollinger
Nie wieder Deutschland, Vaterland, Europa?
Von der Schwierigkeit linker Suche nach neuen Identitäten

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Zum Thema 1871–2011 – 140 Jahre Einheit und Uneinigkeit in Deutschland. Ein linker Blick auf Nation, Klassenkampf und das Scheitern einer Mittelmacht fand am 24. Februar 2011 eine gemeinsame Tagung der "Hellen Panke" e.V. mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung Gesellschaftsanalyse und politische Bildung e.V. in Berlin statt.

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LESEPROBE

Walter Schmidt

Nationalstaat von oben und linker Widerstand

Lassen Sie mich mit einer biografisch-historiografiegeschichtlichen Reminiszenz beginnen. Mein erster wissenschaftlicher Kontakt mit der Reichsgründung von 1871 erfolgte in meiner Examensklausur bei Karl Griewank im Juni 1953, als ich "die Stellung der deutschen Arbeiterbewegung zum deutsch-französischen Krieg 1870/71" darzustellen und zu beurteilen hatte.[1] Da spielte der 18. Januar 1871 zwar nur mehr beiläufig hinein; aber aus der positiven Haltung der Arbeiterbewegung zur ersten Phase des Krieges, als dieser Verteidigungscharakter trug, ergab sich immerhin, dass mit der Ausrufung eines deutschen Kaiserreichs auch etwas Positives erreicht, der Widerstand Frankreichs gegen die Einigung Deutschlands gebrochen worden und ein deutscher Einheitsstaat entstanden war, der den Arbeitern wichtig erschien. Engels' schon 1866 formulierte Haltung zu einem zu erwartenden "kleindeutschen Kaisertum": Die Sache als "fait accompli" anzuerkennen, "das Faktum einfach akzeptieren, ohne es zu billigen",[2] schob einer rein negativen Bewertung des 18. Januar 1871 zwar einen gewissen Riegel vor. Gleichwohl stand ich der bekannten Liebknecht'schen[3] und Marx'schen Sicht[4] von 1872 und 1875 auf das neue Reich natürlich weit näher, einer Sicht, die über Jahrzehnte in der DDR vorherrschend blieb.

Fünf Jahre später war ich bei der Gründung der Historiker-Gesellschaft der DDR 1958[5] durch die – heute längst vergessenen – Meinungsunterschiede zwischen Alfred Meusel und Ernst Engelberg um den Zeitpunkt ihres Gründungskongresses wieder mit dem 18. Januar konfrontiert. Meusel, ein Mann, der als kühler Norddeutscher und echter Preuße die nationale Tradition etwas weiter fasste als damals üblich und dem die einmal errungene nationale Einheit ein bleibender Wert war, hatte eben diesen Tag für den Kongress vorgeschlagen. Engelberg, ein in der Tradition der Achtundvierziger Revolution aufgewachsener Badener Feuerkopf, der in dieser Zeit ebenso konsequent wie engagiert das Konzept einer Revolution – und dem entsprechend – auch einer Einigung "von unten" verfocht, setzte dagegen und auch erfolgreich den 18. März von 1848. Letzterer lag mir natürlich allemal mehr; dies umso mehr, als ich seit meiner Examensarbeit über die Haltung der Neuen Rheinischen Zeitung zur polnischen Revolution von 1848[6] das Großereignis Achtundvierziger Revolution mit seinem Umfeld zu meinem Forschungsschwerpunkt gemacht hatte, dem ich nun schon über fünfeinhalb Jahrzehnte treu blieb. In der damaligen Kontroverse zwischen Meusel und Engelberg scheint das Problem des historischen Platzes zweier Ereignisse des 19. Jahrhunderts im deutschen, auch sozialistischen Traditionsverständnis der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf.

In der Mitte meines bisherigen Lebens traf ich schließlich 1970/71 mit vielen Historikern auf das Zentenarium der Reichsgründung, und es traf mich in zweifacher Weise.

In der Bundesrepublik galt die Reichsgründung offiziell immer noch als das zentrale Ereignis der Nationalgeschichte, als "nationalgeschichtlicher Höhepunkt", wie es damals selbst Willy Brandt formulierte, nicht zuletzt deshalb, weil sich die bundesdeutsche Politik in der Auseinandersetzung mit der DDR, zur Begründung des Alleinvertretungsanspruchs der BRD, historisch gerade auf eben diese Nationalstaatsgründung berief.[7] Aber auch in der DDR wollte und konnte man nicht spurlos an diesem Gedenkjahr vorübergehen. Auch hier gab es massive politische Gründe, ebenfalls gerade auf dem Feld der nationalen Frage, an 1871 zu erinnern und sowohl über dessen Vorgeschichte als auch und vor allem über die Folgen solcher Art Nationalstaatsgründung nachzudenken. In diesen politisch determinierten Reminiszenzen herrschten in der DDR die dunklen, kritischen, abwertenden Töne vor. Die Distanz zum Jubiläum war unübersehbar und von sozialistischen Positionen aus auch verständlich.

Mir selbst brachte das Jubiläum zunächst die Chance, erstmals umfassend den demokratischen Kontrapunkt zu 1871: die deutsche Revolution von 1848/49 und ihre historische Stellung vorzustellen, als Auftakt-Beitrag in einer von Horst Bartel und Ernst Engelberg herausgegebenen Sammelschrift. Sie stand unter dem deutlich distanzierenden Thema: "Die großpreußisch-militaristische Reichsgründung 1871. Voraussetzungen und Folgen."[8]

Zugleich aber war ich beteiligt an der Ausarbeitung von Thesen zum 100. Jahrestag der Reichsgründung, die noch Walter Ulbricht veranlasst hatte. Ihm ging es dabei vor allem um eine Analyse der nationalen Situation in Deutschland, genauer um die Erarbeitung neuer Positionen im Verhältnis zwischen DDR und BRD. Auf diesem Felde war 1969/70 mit Bildung der sozialliberalen Koalition in der Bundesrepublik eine neue Lage entstanden. Die politische Führung in der DDR sah sich nach der Feststellung Willy Brandts, dass in Deutschland zwei Staaten in einer Nation existieren, also nach der faktischen Anerkennung eines zweiten deutschen Staates, gezwungen, sich mit der These von der Einheit der Nation auf neue Weise auseinanderzusetzen. Auch aufgrund innerer sozialer Entwicklungen auf neuen gesellschaftlichen Grundlagen schienen schon seit längerem angestellte Analysen über neue Tendenzen auch in der Nationsentwicklung in der DDR Konsequenzen zu erfordern. Es war zu fragen, ob die deutsche Spaltung nicht auch schon auf das nationale Leben übergegriffen hatte und sich in der DDR auf sozialistischer Basis eine eigenständige nationale Entwicklung anbahne. Im Umfeld des Reichgründungsjahrestags wurde die Auffassung geboren, dass sich in der DDR ein neuer sozialer Typ deutscher Nation entwickle. An der Begründung dieser so genannten Zwei-Nationen-Theorie war ich beteiligt. Was daran falsch war, was dabei aber durchaus auch richtig beobachtet und beurteilt wurde und bis in die Gegenwart fortwirkt, darüber habe ich vor eineinhalb Jahrzehnten in einer kritischen Studie meinen Standpunkt fixiert, zu dem ich heute noch stehe.[9] So bleibt der 18. Januar 1871 in meiner eigenen wissenschaftlichen Biografie ein markantes Datum.

 

[1] Examensklausur Walter Schmidt vom 4.6.1953. In: Universitätsarchiv Jena. Bestand F I. Nr. 1942.

 

[2] Engels an Marx. 25.7.1866. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke. Bd. 31. Berlin 1961 (im Weiteren: MEW), S. 240 und 241.

[3] Der Leipziger Hochverratsprozess vom Jahre 1872. Neu hg. v. Karl-Heinz Leidigkeit. Berlin 1960, S. 256 f.: "Ein Staat wie das Bismarcksche Preußen-Deutschland ist durch seinen Ursprung mit fatalistischer Notwendigkeit dem gewaltsamen Untergang geweiht. ... Auf dem Schlachtfeld geboren, das Kind des Staatstreichs, des Krieges und der Revolution von oben, muss es ruhelos von Staatsstreich zu Staatsstreich, von Krieg zu Krieg eilen und entweder auf dem Schlachtfeld zerbröckeln oder der Revolution von unten erliegen. Das ist Naturgesetz."

[4] Karl Marx: Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei. In: MEW. Bd. 19, S. 29: Das Deutsche Reich sei seinem Wesen nach "nichts anderes als ein mit parlamentarischen Formen verbrämter, mit feudalem Beisatz vermischter und zugleich schon von der Bourgeoisie beeinflusster, bürokratisch gezimmerter, polizeilich gehüteter Militärdespotismus".

[5] Walter Schmidt: Die Gründung der Historikergesellschaft der DDR 1958. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Berlin (im Weiteren: ZfG). H. 8/1983, S. 675–690.

[6] Walter Schmidt: Marx und Engels und die "Neue Rheinische Zeitung" und die revolutionären Bewegungen in Polen 1848/49. Abschlussarbeit für die Prüfung für die Lehrer an der demokratischen Oberschule der Deutschen Demokratischen Republik an der Philosophischen Fakultät, Fachrichtung Geschichte, der Friedrich-Schiller-Universität Jena; überarbeitet erschienen unter dem Titel: Der Kampf der "Neuen Rheinischen Zeitung" um ein festes Kampfbündnis der polnischen und der deutschen Demokratie. In: Jahrbuch für Geschichte der UdSSR und der volksdemokratischen Länder Europas. Bd. 5. Berlin 1961, S. 111–178.

[7] Gustav Seeber/Heinz Wolter: Neue Tendenzen im bürgerlichen Geschichtsbild der BRD über die Reichsgründung von 1871. In: ZfG. H. 9/1972, S. 1069–1101; Walter Schmidt: Nation und deutsche Geschichte in der bürgerlichen Ideologie der BRD (= Zur Kritik der bürgerlichen Ideologie. Heft 99). Berlin und Köln 1980.

[8] Horst Bartel und Ernst Engelberg (Hg.): Die großpreußisch-militaristische Reichsgründung 1871. Voraussetzungen und Folgen. Bd. I. Berlin 1971, S. 1–23.

[9] Walter Schmidt: Das Zwei-Nationen-Konzept der SED und sein Scheitern. Nationsdiskussionen in der DDR in den 70er und 80er Jahren. Hefte zur ddr-geschichte. Heft 38. Berlin 1996.

  • Preis: 4.00 €
  • Erscheinungsjahr: 2011