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Heft 174: Medizin - eine Biowissenschaft

Zum 100. Geburtstag des Forscherehepaares Ingeborg und Mitja Rapoport

Von: Werner Binus, Rita Gürtler, Herbert Hörz, Gisela Jacobasch, Burkhard Schneeweiß,Claus Wagenknecht

Heft 174: Medizin - eine Biowissenschaft

Reihe "Pankower Vorträge", Heft 174, 2013, 44 S., A5, 3 Euro plus Versand

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Inhalt

Vorwort von Gisela Jacobasch

Gisela Jacobasch, Claus Wagenknecht: Medizin – eine Biowissenschaft

Rita Gürtler: Theorie und Praxis – Fundament für einen guten Kliniker

Burkhard Schneeweiß: Salzverlust-Syndrom vor 50 Jahren

Werner Binus: Im Mittelpunkt der Medizin steht der Mensch und nicht das Profitstreben

Herbert Hörz: Zum Verhältnis von Samuel Mitja Rapoport zur Philosophie

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AUTORINNEN und AUTOREN

Gisela Jacobasch, Prof. Dr. med., Dr. sc. rer. nat.

Claus Wagenknecht, Prof. Dr. med. habil.

Rita Gürtler, Dr. med. habil.

Burkhard Schneeweiß, Prof. Dr. med. habil.

Werner Binus, Prof. Dr. sc. med., Vorsitzender der IG Medizin und Gesellschaft 2002 bis 2007

Herbert Hörz, Prof. Dr. sc. phil.

Am 27. November 2012 wäre der berühmte Biochemiker, Antifaschist und Kommunist Prof. Dr. Mitja Rapoport (1912–2004) 100 Jahre alt geworden. Prof. Dr. Ingeborg Rapoport, die ausgewiesene Forscherin auf dem Gebiet der Neonatologie, feierte am 2. September 2012 ihren 100. Geburtstag. Dem bedeutenden Forscherehepaar zu Ehren organisierte die „Helle Panke“ gemeinsam mit der Leibniz-Sozietät am 26. November 2012 eine Veranstaltung, in der Wegbegleiter, Schüler sowie anwesende Gäste das Wort nahmen, um das außergewöhnliche Leben und Wirken der Rapoports in sehr persönlicher Weise zu schildern und zu würdigen. Zugleich erhält der interessierte Leser einen Einblick in die medizinische Forschung als biowissenschaftliche Disziplin.

Die Leitung der Diskussion in der Reihe „Politik im Gespräch“ lag in den Händen von Prof. Dr. Gisela Jacobasch und Dr. Hans Thie, dem Vorstandsvorsitzenden des Vereins „Helle Panke“ e.V. – Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin. Mit besonderer Freude begrüßten die Anwesenden Frau Prof. I. Rapoport.

Der Herausgeber dieser Publikation bedankt sich bei Frau Prof. Jacobasch für die Vorbereitung der Veranstaltung und die redaktionelle Mitarbeit bei der Publizierung der Beiträge.

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LESEPROBE

Vorwort

Die letzten 150 Jahre erbrachten einen enormen Fortschritt an naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und methodischen Entwicklungen. Aus der engen Verflechtung von Politik und Naturwissenschaften einschließlich der Medizin wurde jedoch den Forschern der Einfluss auf die Nutzung sowie die Verhinderung eines Missbrauchs dieses wissenschaftlichen Potentials weitgehend entzogen. Dadurch wurde es möglich, dass der wissenschaftliche Fortschritt z. T. auch zu schwerwiegenden Konsequenzen sowohl für die Natur als auch für die Lebensbedingungen der Menschen führen konnte.

Einige Beispiele sollen dazu genannt werden. Aus dem Forschungsbereich Physik/Chemie zählt dazu die Entdeckung der Radioaktivität. 1896 fiel Henry Becquerel eine Strahlung von Uran auf. Die hervorragende Forscherin Marie Curie wies im gleichen Jahr eine ähnliche Strahlung bei Plutonium als Begleitsubstanz von Wismut nach. 2 Jahre später entdeckte sie zusammen mit ihrem Mann Pierre Curie das radioaktive Element Radium, dessen Strahlung zwei Millionen Fach stärker als die von Uran ist. Alle drei Wissenschaftler erhielten für die Entdeckung der Radioaktivität 1903 den Nobelpreis für Physik, trotzdem erreichte das Ehepaar Curie keine Berufung an der Pariser Universität. Unter unvorstellbar harten Arbeitsbedingungen isolierte Marie Curie anschließend reines metallisches Radium und stellte es selbstlos Kollegen zur Charakterisierung der Eigenschaften und zur klinischen Erprobung zur Verfügung. Dafür wurde Marie Curie 1911 als einziger Frau bisher zum zweiten Mal der Nobelpreis zuerkannt. Aber auch danach scheiterte ihre Aufnahme in die Pariser Akademie der Wissenschaften am Vorurteil der dortigen Akademiker. In Anerkennung ihrer erfolgreichen Förderung der klinischen Radiologie wurde sie jedoch 1922 von der Pariser Medizinischen Akademie als erste Frau zum Mitglied gewählt. Forschen war für Marie Curie der Inbegriff ihres Lebens wie für die meisten engagierten Wissenschaftler. Sie beschrieb das einmal so: beim Arbeiten fühle sie sich wie ein Kind, das vor den Naturvorgängen wie vor einer Märchenwelt stehe und sich der Geist eines Abenteurers mit unausrottbarer Neugier verbindet.

Der 1. Weltkrieg unterbrach abrupt ihre Forschungsarbeit. Vor der anrückenden deutschen Armee brachte sie persönlich das von ihr isolierte Radium nach Bordeaux und verhinderte so, dass es in feindliche Hände fiel. Nach Paris zurückgekehrt engagierte sie sich im französischen Gesundheitswesen. Unter ihrer Anleitung entstanden zahlreiche neue Röntgenstationen. Außerdem stattete sie Röntgenfahrzeuge für den ambulanten Einsatz an der Front aus. Nach dem Krieg schrieb sie das Buch „Radiologie und Krieg“ und setzte sich in der Völkerbund-Kommission für eine friedliche Zusammenarbeit von Menschen ein, da sie den Krieg verabscheute.

Für die Erhaltung des Friedens und die Ächtung von Atomwaffen, deren Bau nach der Beherrschung der Kernspaltung möglich wurde, setzten sich auch die Nachfahren der Curies vehement ein. Trotzdem geschah am Ende des 2. Weltkrieges das zuvor Unvorstellbare, der Abwurf von Atombomben auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki. Dieses menschenverachtende Kriegsverbrechen wird unauslöschlich mit dem Namen der USA verbunden bleiben. Dieses schreckliche Ereignis mobilisierte aber zugleich zahlreiche internationale Aktivitäten zur Ächtung von Atomwaffen, ohne dass bis heute die Gefahr ihres Einsatzes vollständig beseitigt werden konnte. In diesem Zusammenhang ist auch das Wirken von zwei international bekannten Kardiologen herauszustellen, des Amerikaners Bernard Lown und des Russen Jewgeni Tschasow. Ihnen gelang es, trotz massiver Gegenwehr, die Grenzen des Kalten Krieges zu überwinden und gemeinsam die zu erwartenden katastrophalen Folgen eines Atomkrieges für die Menschen und das gesamte Leben auf der Erde aufzuzeigen und zu belegen, dass es dagegen keine wirksamen Schutzmaßnahmen gibt. Sie wurden die Initiatoren der Vereinigung „Physicians for the Prevention of Nuclear War“ (IPPNW), der sich weltweit viele Ärzte anschlossen. Ihr Wirken wurde verdientermaßen 1985 mit der Verleihung des Friedens-Nobelpreises gewürdigt.

Die IPPNW-Sektion der DDR wurde lange Zeit von Mitja Rapoport geleitet, an dessen Leben als Biowissenschaftler und Kommunist wir uns heute unmittelbar vor seinem 100. Geburtstag erinnern wollen. Auch Rapoport faszinierte die Vielfalt und Schönheit lebender Organismen. Sie führte ihn über die Medizin zur Biochemie, um die Genialität biologischer Mechanismen und ihre Entwicklung zu erkunden und besser verstehen zu können. 25 Jahre war Mitja Rapoport als Direktor des Institutes für Physiologische und Biologische Chemie tätig. Hier in Berlin setzte er die Tradition vieler berühmter Wissenschaftler fort, die die Entwicklung der Biochemie seit der Mitte des 19. Jahrhunderts bestimmt hatten.

Einer der Pioniere der Biochemie an der Charité war Felix Hoppe-Seyler, der in der Chemischen Abteilung der Pathologie arbeitete. Er führte als Erster für Medizinstudenten Vorlesungen für Physiologische Chemie durch und gründete die berühmte Zeitschrift für Physiologische Chemie. Er wurde 1870 auch der erste Lehrstuhlinhaber für Physiologische Chemie, aber leider nicht in Berlin, sondern in Straßburg. Die Gründung eines Institutes für Physiologische Chemie an der Charité erfolgte erst unter der Leitung von Herrmann Steidl 1928. Von 1937–1951 wurde es von dem Entdecker des Adenosintriphosphates (ATP), Karl Lohmann, geleitet, dessen Nachfolger dann Mitja Rapoport wurde.

Die positive Entwicklung der Biochemie und damit der Biowissenschaften insgesamt erfuhr in Berlin nach dem 1. Weltkrieg mit dem Erstarken des Faschismus und des Antisemitismus sowie der Einführung des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums einen abrupten Abbruch. Allein an der Charité wurden 1933/34 120 Wissenschaftlern die Lehrbefugnis entzogen und sie in die Emigration gezwungen. Diese Situation spiegelt sich auch in der Verleihung der Nobelpreise an Biowissenschaftler wider, die an der Berliner Universität tätig waren. Emil Fischer, Eduard Buchner, Paul Ehrlich, Albrecht Kossel, Richard Willstätter, Walter Nernst und Otto Warburg erhielten die Auszeichnung vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten, Otto Meyerhof, Boris Chain, Fritz Lipmann, Hans Krebs und Hugo Theorell dagegen erst in der Emigration.

Hinzu kam, dass nach der Verleihung des Friedens-Nobelpreises an den KZ-Häftling, Friedenskämpfer und Publizisten Carl von Ossietzky allen in Deutschland lebenden Wissenschaftlern die Annahme eines Nobelpreises verboten wurde. Die vorgesehene zweite Auszeichnung des herausragenden Wissenschaftlers der klassischen Biochemie, Otto Warburg, wurde deshalb 1944 aus politischen Gründen unterlassen und die für die Entdeckung des Energieträgers ATP durch Karl Lohmann gar nicht erst in Erwägung gezogen. Warburg und Lohmann waren die einzigen Wissenschaftler, die Inge und Mitja Rapoport nach ihrer Übersiedlung in die DDR aus der berühmten Berliner Epoche der Biowissenschaften noch antrafen. Beiden blieben sie zeitlebens eng verbunden. Zum Andenken an das wissenschaftliche Wirken von Karl Lohmann und für seine Verdienste um die Entwicklung der Biowissenschaften in der DDR ließ Mitja Rapoport nach seiner Emeritierung eine bronzene Gedenktafel anfertigen, die er zur Förderung der Traditionspflege der Humboldt-Universität schenkte. Das Relief ziert auch heute noch die Südwand des ehemaligen Institutes für Physiologische und Biologische Chemie in der Hessischen Str. 3/4.

Mit der Entwicklung der Biochemie und Molekularbiologie einschließlich der Mechanismen der Vererbung und ihrer Anpassung an Umweltfaktoren mithilfe der kleinen miRNAs ist in den letzten Jahrzehnten die Gefahr eines Missbrauchs von biologischen Erkenntnissen ebenso groß geworden wie zuvor die Entdeckung der Radioaktivität. Wissenschaftler und Ärzte sind deshalb aufgerufen, sich gemeinsam dafür einzusetzen, das zu verhindern.

Der heutige Abend, veranstaltet von der Hellen Panke und der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin, ist dem 100. Geburtstag des Forscherehepaares Ingeborg und Mitja Rapoport gewidmet. Mit dem Thema: „Medizin – eine Biowissenschaft“ wollen wir herausstellen, dass die Entwicklung der Grundlagen und Gesetzmäßigkeiten des Lebens eng mit der Verpflichtung verbunden ist, die gewonnenen Erkenntnisse zu nutzen und Leben optimal zu erhalten. Dazu gehört neben der Beherrschung des zu vertretenden Fachgebietes auch die Wachsamkeit jedes Menschen vor dem Missbrauch der Wissenschaft auf allen Gebieten. Dies war stets die Maxime des Ehepaares Rapoport. Wir freuen uns, diese Veranstaltung gemeinsam mit Inge Rapoport durchführen zu können, die bereits am 2. September ihren 100. Geburtstag feierte.

Gisela Jacobasch

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Gisela Jacobasch, Claus Wagenknecht

Medizin – eine Biowissenschaft

Aus Anlass des 100. Geburtstages des Forscherehepaares Inge und Mitja Rapoport haben wir als Thema der heutigen Veranstaltung „Medizin – eine Biowissenschaft“ gewählt und wollen die Verdienste beider Wissenschaftler bei der Verwirklichung dieser Zielstellung herausstellen. Einige Weggefährten und Schüler der Jubilare werden das u. a. an eigenen Beispielen illustrieren und alle Anwesenden sind zur Diskussion zu dem Thema eingeladen.

Warum halten wir diese Thematik für aktuell? 1993 erhielten Fogel und North den Nobelpreis für Ökonomie für ihren Nachweis, dass das ökonomische Wachstum im 18. und 19. Jahrhundert in Europa, insbesondere in England, vorrangig dadurch ermöglicht wurde, dass durch eine Verbesserung des Ernährungsstatus` die Gesundheit der Menschen stabilisiert wurde. Dieser historische Bezug verdeutlicht bereits, dass Medizin eine Biowissenschaft ist, die Erkenntnisse vieler Wissenschaftsdisziplinen aufgreifen muss, um sowohl die Prophylaxe als auch die Diagnostik und Therapie verbessern und die molekularen Grundlagen der spezifischen Funktionen von Organen und Geweben im Gesamtorganismus verstehen zu können. Nur so ist es möglich, die kausalen Zusammenhänge funktionaler Störungen zu erkennen, ihnen vorzubeugen bzw. sie therapeutisch korrigieren zu können.

Natürlich treten in diesem Zusammenhang auch Beziehungen zur Wirtschaft auf. Es ist aber falsch, die Medizin als einen wichtigen Wirtschaftszweig einzuordnen, wie es die deutsche Bundeskanzlerin tut. Der Patient darf nicht als Ware gelten und die Medizin nicht dem Monopol der Pharmaindustrie unterworfen werden. Das Grundanliegen der Krankenkasse war einst das Solidaritätsprinzip und nicht die Schaffung einer Zwei-Klassengesellschaft. Zu betonen ist darüber hinaus, dass die Einschätzung der Medizin als Biowissenschaft nicht vom Gesellschaftssystem eines Staates abhängig ist. England ist z. B. im Gegensatz zu Deutschland bemüht, an seinem hart erkämpften staatlichen Gesundheitswesen mit interdisziplinärer Zusammenarbeit festzuhalten. Das englische Gesundheitswesen diente – nebenbei bemerkt – auch als Modell für die Entwicklung des Gesundheitswesens in der DDR, das mit der Unterzeichnung des Einigungsvertrages seine Rechtsgültigkeit verlor. Die heutige Einordnung des deutschen Gesundheitswesens als wichtigen Wirtschaftszweig ist die Ursache dafür, dass es auf aktuelle Herausforderungen nicht effektiv reagieren kann und trotz hoher finanzieller Aufwendungen kein besserer Gesundheitszustand z. B. durch gezielte präventive Maßnahmen zu erreichen ist. Dabei wäre die konsequente Durchsetzung von Präventionsstrategien dringend erforderlich, um z. B. die mit Übergewicht und Fettsucht assoziierten Erkrankungen wie dem Diabetes mellitus Typ II, Herz-Kreislaufschädigungen, zahlreichen Tumorentwicklungen und neurodegenerativen Leiden vorzubeugen. Das Gleiche gilt für Infektionskrankheiten und altersbedingte degenerative Sehstörungen. Aber Forschungsgelder zur Erarbeitung von wissenschaftlich begründeten Präventionsstrategien gibt es in Deutschland nicht mehr. Der Wiener Jugendfreund Mitja Rapoports, der Dichter Jura Soyfer, formulierte solche Situationen kurz so: „wahr ist, was die Kurse stützt und falsch, was keiner Aktie nützt“.

Warum engagierten sich Inge und Mitja Rapoport vehement für eine Medizin als Biowissenschaft und ein staatliches Gesundheitswesen? Hierfür sind mehrere Gründe zu nennen:

1. ihre humanistische Gesinnung und Charakterstärke,

2. ihre Überzeugung, dass jeder Erkenntnisfortschritt von einem entsprechenden Zuwachs an Wissen in den Grundlagendisziplinen abhängt, der kontinuierlich vertieft werden muss, um daraus Schlussfolgerungen für die ärztliche Praxis ableiten und umsetzen zu können,

3. ihr hohes gesellschaftliches und politisches Verantwortungsbewusstsein und nicht zuletzt

4. ihr Fleiß und ihre Vorbildwirkung.

Geprägt wurden diese Eigenschaften durch die Stationen ihres Lebens. Inge und Mitja Rapoport wurden zu Beginn eines Jahrhunderts geboren, das durch gewaltige gesellschaftliche Umbrüche, den 1. Weltkrieg, eine Weltwirtschaftskrise, die Entwicklung des Faschismus mit seinem unmenschlichen Vernichtungswahn, gekennzeichnet war und zum 2. Weltkrieg führte. Dieser Krieg verwüstete Europa und Teile Asiens und hatte als Opfer viele Millionen Tote.

Inge Syllm wuchs als Halbjüdin unter nicht einfachen familiären Bedingungen in Hamburg auf, konnte sich jedoch ihren Wunsch, Medizin zu studieren, erfüllen. Sie musste sich aber vielen Diskriminierungen und Anfeindungen erwehren und auf die Anerkennung ihrer Promotionsarbeit verzichten. 1938 gelang der Familie durch eine Emigration in die USA das Überleben. Der Neubeginn war aber auch in den USA nicht einfach. Inge resignierte aber nie und erlangte schließlich eine Anstellung als Ärztin an dem modernen Kinderkrankenhaus in Cincinnati (Ohio).

Mitja Rapoport wurde in einer jüdischen Familie in einer Stadt an der galizisch russischen Grenze geboren und verbrachte einige Jahre seiner Kindheit in Odessa. Von dort flüchtete die Familie während des Bürgerkrieges nach Wien. Diese Stadt empfand Mitja als seine eigentliche Heimat. Das kulturelle, soziale und politische Leben, mit dem er dort in Kontakt kam, faszinierte ihn und verstärkte seine wissenschaftliche Neugier auf vielen Gebieten. Er las viel, er konnte sehr schnell lesen und verfügte auch über ein ausgezeichnetes Gedächtnis. Bewusst schloss er sich zunächst der Sozialdemokratischen Partei und später der Kommunistischen Partei Österreich an. 1936 beendete er erfolgreich sein Medizinstudium und die Promotion. Für Ergebnisse einer experimentellen Arbeit, die er im Labor von Prof. Otto Fürth durchführte, erhielt er ein Jahr später ein einjähriges Stipendium für einen Forschungsaufenthalt an der Kinderklinik in Cincinnati. Dadurch entging er der Vernichtung nach der Annexion Österreichs. Seinem Freund, Jura Soyfer, dessen politische Kabaretts große Popularität in Wien hatten, missglückte dagegen 1938 die Flucht aus Österreich. Er starb mit 26 Jahren im Konzentrationslager Buchenwald. So ein Schicksal hinterlässt Spuren!

In Cincinnati lernte Inge Syllm Mitja Rapoport kennen, sie wurden ein Paar und eine kontinuierlich größer werdende Familie. In Amerika schloss Rapoport auch sein Chemiestudium ab. Die Ergebnisse seiner experimentellen Forschungsarbeit fanden rasch nationale und internationale Anerkennung. Kennzeichnend war für seine Arbeit von Anfang an eine klare Zielstellung, die Auswahl eines dafür geeigneten Untersuchungsobjektes und von Methoden, deren Nutzung eine sichere Aussage über die verfolgte Zielstellung versprach. So beschäftigte er sich intensiv mit spezifischen Fragen des Elektrolytstoffwechsels, der insbesondere bei Kinderkrankheiten eine große Rolle spielt. Die Chefin der Kinderklinik, Katharine Dodd, erkannte sehr rasch die Begabung und Zielstrebigkeit ihres jungen Mitarbeiters und förderte seine wissenschaftliche Arbeit. Aufgrund seiner Erfahrungen auf dem Gebiet des Elektrolytstoffwechsels gehörte er 1947 zu einer Delegation, die in Japan die Ursache der Kinderkrankheit Ekiri, die mit einer hohen Todesrate verbunden war, aufklären sollte. Als Ursache wurde ein schwerer ernährungsbedingter Mangel an Kalzium identifiziert, der sich durch eine entsprechende Substitution überwinden ließ.[1]

Das bevorzugte Forschungsobjekt von Rapoport waren zeitlebens rote Blutzellen. Mit relativ einfachen Methoden, geschickt eingesetzt, entdeckte er den 2.3-Bisphosphoglyzeratweg, der eine wichtige Rolle bei der Kontrolle der Freisetzung von Sauerstoff aus dem Transportprotein Hämoglobin der Erythrozyten an Gewebszellen spielt. Weiterhin erkannte er, wie wichtig die Aufrechterhaltung des intrazellulären Spiegels von Adenosintriphosphat, dem wichtigsten biologischen Energiespender, für die Überlebensfähigkeit roter Blutzellen ist. Mit einer Lösung, die Zitronensäure und Glukose enthielt, bekannt als ACD-Medium, gelang es ihm, die Transfusionsfähigkeit von Blutkonserven auf 30 Tage zu verlängern.[2] Dadurch konnten im 2. Weltkrieg viele verletzte Soldaten gerettet werden. Obwohl Rapoport dafür mit dem „US Certificate of Merit“, die höchste an eine Zivilperson in den USA vergebene Auszeichnung, erhielt, schützte sie ihn nach Ausbruch des Koreakrieges nicht vor der Verfolgung durch das McCarthy-Tribunal. Er floh deshalb nach Wien, in der Hoffnung, dort an der Universität berufen zu werden. Doch der lange Arm der CIA vereitelte die Berufung trotz hervorragender fachlicher Beurteilungen. Schließlich entschloss er sich, 1952, das Angebot des Staatssekretariats der DDR zur Übernahme der Leitung des seit 1951 verwaisten Institutes für Physiologische Chemie an der Charité der Humboldt-Universität zu Berlin anzunehmen, ohne zu ahnen, dass auch hier in der Leitung der Charité ein CIA-Agent tätig war, getarnt mit falschem Namen und gefälschten akademischen Zeugnissen (Friedrich Hall alias Hijok, Ärztlicher Direktor der Charité von 1950–1952), der über den Fakultätsrat ebenfalls versuchte, die Berufung von Rapoport längere Zeit zu verhindern.[3]

Obwohl der Neubeginn an der Charité für die Familie mit vier kleinen Kindern eine soziale Sicherheit garantierte, waren die Arbeitsmöglichkeiten für den jungen ehrgeizigen Forscher ernüchternd. Erschütternd war für ihn nicht nur die zerstörte, politisch und auch wissenschaftlich gespaltene Stadt, sondern vor allem die Vernichtung einer vor dem Faschismus reichen, erfolgreichen biochemischen Forschungslandschaft mit vielen herausragenden Persönlichkeiten. Darüber hinaus war ein Fachkräftemangel auf nahezu allen Gebieten in der noch jungen Republik spürbar. Trotzdem klagte Rapoport darüber nie öffentlich; denn einer übernommenen Funktion fühlte er sich stets verpflichtet. Mit seiner Berufung war die Aufgabe verbunden, jährlich 700–900 Medizinstudenten auszubilden, und er nahm rasch wahr, welche Erwartungen zahlreiche wissbegierige Studenten an den aus den USA gekommenen Hochschullehrer knüpften. Heute lässt sich einschätzen, es wurden für Rapoport 25 erfolgreiche Arbeitsjahre an der Charité; unter seiner Leitung wurden nicht nur Tausende von Medizin- und Stomatologiestudenten ausgebildet, sondern für mehrere Jahre wurde auch ein Studiengang für Biochemie für begabte Biologen und Chemiker nach Abschluss ihres Grundstudiums eingerichtet. Später kamen auch Forschungsstudenten dazu, vor allem aus der Biophysik. So gelang es, dringend benötigte, hoch qualifizierte Absolventen für die Forschungsarbeit an verschiedenen Instituten der Akademie und an Universitäten sowie für die Leitung biotechnologisch ausgerichteter Industriebetriebe zur Verfügung zu stellen.

Mit der ihn auszeichnenden Disziplin, seinem Organisationstalent und pädagogischen Geschick sorgte Rapoport zunächst dafür, dass in dem kleinen Institut in der Invalidenstr. 103a die Arbeit wieder aufgenommen werden konnte. Zu den ersten neu gewonnenen Mitarbeitern Rapoports zählten: der Mediziner Eberhard Götze, der Pharmazeut Joachim Raderecht und der Chemiker Günter Sauer, zu den ersten Doktoranden die Biologen Eberhard Hofmann und Ernst-Georg Krause. Alle übernahmen später Leitungsfunktionen in verschiedenen medizinischen Forschungseinrichtungen.

Rapoport legte von Anfang an großen Wert auf eine interdisziplinäre Zusammensetzung seiner Mitarbeiter; denn aufgrund seines Doppelstudiums wusste er, dass das von ihm verfolgte Ziel einer Medizin als Biowissenschaft allein mit Medizinern nicht zu erreichen war. Außerdem konnte er klar einschätzen, was er von jeder Disziplin für die Entwicklung einer modernen experimentellen Biowissenschaft benötigte. Mit einem relativ kleinen Mitarbeiterteam wurde im Wintersemester 1952 die Biochemieausbildung für Medizin- und Stoma-tologiestudenten, die nach dem Wechsel von Karl Lohmann an die Akademie der Wissenschaften in Berlin-Buch unterbrochen war, wieder aufgenommen. In den ersten Jahren hielt der Institutsdirektor alle Vorlesungen selbst. Das hohe Niveau seiner Vorlesungen sprach sich in Windeseile bei Studenten in der ganzen Republik herum. Es kamen auch viele Gasthörer, die zum ersten Mal begriffen, welche grundsätzliche Bedeutung phosphorylierte Verbindungen im Zellstoffwechsel spielen. Prof. Peter Langen berichtete einmal, dass phosphatübertragende Reaktionen in der Biochemievorlesung für Biologiestudenten in Greifswald mit der Begründung weggelassen wurden, dass sie zu schwierig seien. Die Vorlesungen bildeten für Rapoport zugleich das Grundkonzept für sein 1962 erschienenes Lehrbuch „Medizinische Biochemie“, das er den Studenten widmete. Es behob nicht nur den Mangel an qualitativ hochwertigen Lehrbüchern auf diesem Gebiet, sondern wurde ebenso wie das von Raderecht verfasste Praktikumsbuch für Medizinische Biochemie auch ein internationaler Erfolg. Das Lehrbuch wurde in mehrere Sprachen übersetzt und erschien bis 1989 in 10 Auflagen.

Auch neue Formen des akademischen Unterrichts wurden eingeführt, um die biowissenschaftliche Grundausbildung zu intensivieren; dazu gehörten Seminare, Konsultationen, eine Ausbildung in kleinen Gruppen und in späteren Jahren auch ein integrierter Unterricht zusammen mit Vertretern verschiedener klinischer Disziplinen. Um eine stärkere Praxisbezogenheit zu erreichen, wurden für die Ausarbeitung von Modellseminaren geeignete Krankheitsbilder verwendet. Diese Art der Wissensvermittlung forderten die Studenten dann auch in der Klinik ebenso die Einführung von Stationspraktika. Das Medizinstudium in der DDR wurde mit seiner konsequenten Berücksichtigung der Einheit von Lehre und Forschung hohen internationalen Anforderungen gerecht und deshalb für viele Länder zum Vorbild, nach der Wende aber in Deutschland ignoriert.

Einige zielstrebige Medizinstudenten des Jahrganges 1950, die praktisch keine Biochemievorlesung erhalten hatten, fassten den Entschluss, nach ihrem abgeschlossenen Staatsexamen, diesen Ausfall bei dem „Amerikaner“ nachzuholen. Diese Beweggründe führten z. B. die späteren Professoren Sinaida Rosenthal, Dieter Scheuch und Claus Wagenknecht ins Institut zu Rapoport.

Sollte eine Annäherung an das internationale Niveau auf dem Gebiet der Biochemie erreicht werden, war es dringend erforderlich, das eigene Forschungspotential zu vergrößern, das Methodenspektrum zu modernisieren und zu erweitern, die apparative Ausrüstung zu verbessern und entsprechende Laborräume zu schaffen. Ein erster Schritt in diese Richtung war die Fertigstellung des neuen Institutes in der Hessischen Str. 3–4. 1957/58 konnte es bezogen werden und damit auch die Forschungsarbeit intensiviert werden. Es übte von Anfang an eine große Anziehungskraft auf junge Menschen aus. Die Anzahl der Mitarbeiter nahm rasch zu. Zurückgekehrt aus der Kriegsgefangenschaft kamen u. a. Harry Scharfschwerdt und Joachim Altenbrunn dazu. Einige Mediziner nahmen nach dem Staatsexamen ihre Facharztausbildung für Biochemie auf, andere schlossen ihre Diplom- oder Promotionsarbeiten ab. Dazu zählten auch zunehmend mehr ausländische Doktoranden und Aspiranten. Manche Mitarbeiter blieben auch nur ein bis zwei Jahre am Institut, um mit besseren biochemischen Grundkenntnissen danach ihre klinische Tätigkeit aufzunehmen.

Als erstes erlernten alle Neuankömmlinge bei Frau Mothes, einer ehemaligen MTA des Nobelpreisträgers Otto Warburg, wie man richtig unter Verwendung von Chromschwefelsäure Pipetten säubert und andere Grundregeln der Laborarbeit. Es herrschte eine kollektive Arbeitsatmosphäre, in der man einander half. Rapoport stellte zwar hohe, aber stets realistische Anforderungen und förderte den intellektuellen Meinungsstreit, um die Zielstrebigkeit, wissenschaftliche Neugier und Eigenverantwortlichkeit seiner Mitarbeit voranzubringen.

Für die nächsten zwei Jahrzehnte blieben die roten Blutzellen das bevorzugte Forschungsobjekt. Mehrere der in ihnen neu entdeckten Enzyme und Stoffwechselwege zählen auch heute noch zu internationalen Forschungsschwerpunkten. Der in unreifen roten Blutzellen, den Retikulozyten, identifizierte Atmungshemmstoff, der am Abbau von Mitochondrien und an der Inaktivierung der Atmungskette beteiligt ist, führte zur Entdeckung von spezifischen Lipoxygenasen. An diesen Arbeiten waren u. a. Harry Scharfschwerdt, Tankred Schewe, Bernd Thiele und Hartmut Kühn beteiligt.[4] Die bei Stoffwechselbilanzierungen von Marianne Müller postulierte ATP-abhängige Proteolyse wiederum führte zum Proteasom, das zum Schwerpunkt der Forschungsarbeiten von Peter Dubiel wurde. Aus der Aufklärung von Regulationsmechanismen von Schlüsselenzymen der Glykolyse, zu denen Ergebnisse der Arbeitsgruppen von Jacobasch und Hinterberger vor allem beitrugen, konnten neue Gesetzmäßigkeiten über die Regulation der Glykolyse abgeleitet werden. Sie lieferten die experimentellen Daten für das mathematische Glykolysemodell und die Erarbeitung der Kontrolltheorie durch Reinhard Heinrich und Tom Rapoport. Auf diesen Gebieten wurden internationale Spitzenleistungen erreicht. Höhepunkte des wissenschaftlichen Erfahrungsaustausches waren dafür die von Rapoport und seinem Freund, dem Pharmakologen Fritz Jung, seit 1955 initiierten „Internationalen Symposien über die Struktur und Funktion der roten Blutkörperchen“. Diese Erythro-zytensymposien wurden über 34 Jahre in Abständen von drei Jahren durchgeführt. Zu ihnen kamen stets zahlreiche Wissenschaftler aus vielen Ländern in Berlin zusammen.[5]

Für eine erfolgreiche Forschungsarbeit sind ein Zugang zur Fachliteratur, ein internationaler Erfahrungsaustausch und Studienaufenthalte zum raschen Erlernen neuer Methoden vor allem für junge Wissenschaftler unerlässlich; denn sowohl die Biochemie als auch die Molekularbiologie sind in hohem Maße methodische Wissenschaften, in denen kontinuierlich neue Verfahren entwickelt werden, die in vielen Biowissenschaften einschließlich der Medizin benötigt werden. Der Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik und der Devisenmangel der DDR erschwerten deshalb die Forschungsarbeit. Ein Jahr nach der Gründung der Gesellschaft für Experimentelle Medizin in der DDR 1960, unternahmen darum Mitja Rapoport, Karl Lohmann, Horst Frunder u. a. engagierte Kollegen den Versuch, als erste Fachgesellschaft der Experimentellen Medizin eine Biochemische Gesellschaft in der DDR zu gründen und ihr eine internationale Mitgliedschaft in der FEBS und der IUB zu verschaffen, was trotz massiven Protestes der BRD gelang. Durch die Mitgliedschaft in den entsprechenden Europa- und Welt-Gremien wurde es möglich, die internationale Zusammenarbeit zu verbessern. Neue Erkenntnisse wurden von Kongressen mitgebracht, gemeinsam ausgewertet und dienten zugleich der Überprüfung der eigenen Forschungsstrategien.

Mit der Einführung von Methoden für molekularbiologische Analysen gewannen auch genetische Aufgabenstellungen zunehmend an Interesse. Diese leiteten sich zum einen aus Befunden über biochemische Mechanismen der Reifung roter Blutzellen ab und zum anderen aus Berichten über Enzymopathien in der Glykolysesequenz und dem oxidativen Pentosephosphatweg von Erythrozyten. In Zusammenarbeit mit Kinderklinikern und Hämatologen in der DDR, CSSR, Polen und der UdSSR identifizierten wir zahlreiche Patienten, die aufgrund von Glukose-6-Phospahtdehydrogenase- und Pyruvatkinaseenzymopathien an chronischen nichtspärozytären hämolytischen Anämien litten. Da fast alle dieser Patienten verschiedene Mutationen in den entsprechenden Genen aufwiesen, unterschied sich auch der Schweregrad ihrer Erkrankungen. Durch eine Erweiterung des mathematischen Glykolysemodells mit dem Pentosephosphatweg, die ich gemeinsam mit den Biophysikern Hergo Holzhütter und Ronny Schuster vornahm, war es möglich, die oxidative und energetische Belastungsfähigkeit der defekten roten Blutzellen exakt zu bestimmen und daraus Empfehlungen für die medizinische Betreuung der Patienten abzuleiten.[6] Das schloss auch die Berufswahl der Patienten und die Durchsetzung ihrer Ausbildung mit ein. Das ermöglichte den meisten dieser Patienten eine lange berufliche Tätigkeit. Ein pathologisch gesteigerter Abbau von roten Blutzellen führt aber zur Entwicklung einer sekundären Hämochromatose mit schweren Folgeschäden. Ab einem bestimmten Alter der Patienten wird deshalb eine kontinuierliche Eisenelutionstherapie erforderlich. Das Engagement dafür war bei den Patienten z. T. größer als bei den behandelnden Ärzten. Einer der Patienten, dem wir zu einer Ingenieurausbildung verholfen hatten, setzte z. B. in einem Industriebetrieb der DDR den Bau von über 60 spezifischen Pumpen durch, mit denen die Patienten zuhause selbst diese Behandlung während der Nacht durchführen und ihre Lebenserwartung verlängern konnten.

Neue Möglichkeiten eröffneten sich auch für die Analyse von genetischen Defekten bei Neugeborenen; bei denen durch frühzeitig vorgenommene diätetische Maßnahmen bleibende Organschäden bei den Betroffenen verhindert werden können. Deshalb wurde ein Neugeborenen Screening für Galaktosämie und Defekte im Aminosäurestoffwechsel in Zusammenarbeit mit Vertretern der Humangenetik erarbeitet. Derartigen Fragestellungen widmeten sich besonders Charles Coutelle und Claus Wagenknecht. Mit Unterstützung von Inge Rapoport wurden die Teste mit geringem ökonomischen Aufwand bei allen Neugeborenen in Ostberlin bis zur Wende durchgeführt. Prof. Knapp führte ein analoges Neugeborenen-Screening für Phenylketonurie für alle Neugeborenen der DDR in Greifswald durch. Aber die klinische Manifestation der meisten genetisch bedingten Erkrankungen, wie z. B. auch die der Mucoviszidose lässt sich nicht diätetisch unterdrücken. Deshalb konzentrierten sich die Arbeiten von Coutelle später vor allem auf Strategien zur Gentherapie.[7]

Zuvor mussten aber in der DDR erst einmal die Grundlagen für eine molekularbiologische Forschungsarbeit geschaffen werden. Sie begannen im Institut in der Hessischen Str. mit der mRNA-Isolierung des Karpfeninsulins, einem Modell mit vielen methodischen Vorteilen. Später zog Sinaida Rosenthal zusammen mit Tom Rapoport, Charles Coutelle, Volkmar Hahn u. a. nach Buch, um dort das Institut für Molekularbiologie an der Akademie der Wissenschaften aufzubauen. Dort wurde dann u. a. auch die erste Sonde für humanes Insulin hergestellt.

Aber zurück zum Stadtinstitut. In den Neubau zog auch Inge Rapoport ein, um eine tierexperimentelle Studie zum Magnesiummangel für ihr Habilitationsthema durchzuführen. Zwei Fragen interessierten sie: 1. die Wechselbeziehungen zwischen dem Kalzium- und Magnesiumspiegel im Blutplasma bei der Entwicklung einer Tetanie, was von hoher diagnostischer Relevanz ist. 2. Die Auswirkungen eines Magnesiummangels auf den Zellstoffwechsel; denn intrazellulär ist Magnesium sowohl an vielen enzymatischen Reaktionen beteiligt, beeinflusst die Struktur der Ribosomen, die Expression von Enzymen und auch Transportprozesse. Frau Rapoport schloss nicht nur ihre Habilitation erfolgreich ab, sondern nahm für ihre Arbeit in der Kinderklinik auch die Erkenntnis mit, dass für eine klinische Universitätseinrichtung eine Forschungsabteilung unerlässlich ist.

Weitere klinisch relevante Fragestellungen betrafen u. a. die Präparation von Biofeinchemikalien, eine Initiative für das Arzneimittelinstitut Dresden, an der sich mehrere Biochemieinstitute der DDR beteiligten in der Hoffnung, dass es gelingt, dadurch den Mangel an Biofeinchemikalien zu mindern oder gar zu überwinden, was aber nicht eintrat. Außerdem suchte Wagenknecht nach einer Alternative zum optischen Test, um analog zur Atmungskette, in der die einzelnen Komplexe nach ihrer Potentialdifferenz angeordnet sind, eine leicht einsetzbare Komparatormethode klinisch nutzen zu können. Das gelang durch die Verwendung von Phenazinmethosulphat, einem in seinem Labor präparierten Farbstoff, dessen Färbung sich bei Redoxreaktionen verändert. Dieser Test hatte den Vorteil, dass er billig und ohne Photometer universell für klinische Fragestellungen einsetzbar war. Seine Bewährungsprobe erfuhr dieser Farbschnelltest 1965/66 in Annaberg im Erzgebirge, wo viele Menschen an Hepatitis erkrankt waren. Zusammen mit Prof. Spieß und Dr. Anders setze er mit seinen Mitarbeitern und Studenten den Farbschnelltest ein, um frühzeitig Erkrankte zu erkennen, zu isolieren und medizinisch versorgen zu können. Dadurch wurde die Erkrankungswelle gestoppt. Die Auswertung der Befunde ergab darüber hinaus die Erkenntnis, dass ca. 50% der Hepatitispatienten einen anikterischen Krankheitsverlauf zeigten. Daraus wurde die Schlussfolgerung abgeleitet, dass für die Diagnostik der Hepatitis die Analyse von Indikatorenzymen im Blutplasma unerlässlich ist. Sie wurde danach bald ein Standard für die Diagnostik von Leber- und Herzkreislauferkrankungen.

Diese Aktivitäten trugen mit dazu bei, dass in den 70er Jahren die angewandte medizinische Forschung ausgeweitet wurde. Da nun ausgebildete Fachkräfte und eine bessere materielle Basis vorhanden waren, wurden auch neue Disziplinen mit eigenen Gesellschaften gegründet. Dazu zählten die Klinische Chemie/Pathobiochemie, Pathophysiologie, Immunologie, Humangenetik und auch die Neonatologie, deren erste Lehrstuhlinhaberin Inge Rapoport wurde. Außerdem wurde eine Akademie für ärztliche Fortbildung mit Promotionsrecht ins Leben gerufen.

Eine Biologieprognose, an deren Erarbeitung maßgeblich Mitja Rapoport und Sinaida Rosenthal beteiligt waren, bildete die Grundlage für die Koordinierung der Forschung auf den Gebieten der Biowissenschaft und zu ihrer Konzentrierung in größeren Forschungsvorhaben. Im Rahmen der 3. Hochschulreform wurde außerdem an der Humboldt-Universität eine Biowissenschaftliche Fakultät gegründet, deren 1. Dekan Mitja Rapoport war. Sie förderte die Konzipierung von Forschungsprojekten, in die auch Disziplinen der Landwirtschaft, Veterinärmedizin, Biologie, Botanik, Physik und Biophysik mit einbezogen werden konnten. Für Biologen, Chemiker, Biochemiker, Biophysiker und Ingenieure wurden außerdem postgraduelle Ausbildungsprogramme konzipiert, mit der sie die staatliche Anerkennung als Fachwissenschaftler der Medizin erhalten konnten. Diese dem Facharzt vergleichbare postgraduelle Ausbildung berechtigte die Absolventen, innerhalb eines bestimmten Fachgebietes eigenständig Maßnahmen der medizinischen Diagnostik durchzuführen. Ergänzt wurden diese Maßnahmen durch die Schaffung einer interdisziplinär zusammengesetzten Promotionskommission, an der Naturwissenschaftler, deren Promotionsthemen in medizinische Forschungsprojekte eingebunden waren, diese vorverteidigen konnten, wodurch sie eine akademische Absicherung ihres Promotionsvorhabens erreichten. Diese positive Entwicklung wurde nach der Amtsübernahme durch Erich Honecker jedoch zeitweise unterbrochen. Die gesetzliche Anerkennung der Ausbildung von Fachwissenschaftlern an der Akademie für Ärztliche Fortbildung nach bestandener Abschlussprüfung konnte dadurch erst 1981 durchgesetzt werden.

Die Ausrichtung des 12. FEBS-Kongresses durch die Biochemische Gesellschaft der DDR mit Prof. Rapoport als Präsidenten wurde vor seiner Emeritierung ein krönender Abschluss seiner herausragenden wissenschaftlichen und wissenschaftspolitischen Lebensleistung. Der Dresdener Kongress 1978 trug klar seine Handschrift. Er wies ein hohes wissenschaftliches Niveau auf, brachte junge Wissenschaftler zu Diskussionen über ausgewählte Themen am Abend mit bekannten Forschern zusammen, schloss die ihm wichtige Traditionspflege und auch eine anspruchsvolle kulturelle Umrahmung mit ein.

Nach seiner Emeritierung engagierte sich Rapoport als Präsident der Gesellschaft für Experimentelle Medizin bis 1987 weiter um die Umsetzung der gesteckten Ziele einer modernen Medizin. Nach der Wende zählte er zu den Mitgliedern der Akademie der Wissenschaften der DDR, die nach deren Abwicklung die Leibniz-Sozietät gründeten und wurde ihr erster Präsident.

Inge und Mitja Rapoport hinterlassen uns ein reiches Erbe. Sie haben uns gezeigt, dass Fortschritt zum Nutzen des Menschen auch in der Medizin nicht im Selbstlauf zu erreichen ist, sondern großer Anstrengungen bedarf. Der Vernunft zum Durchbruch zu verhelfen ist eben doch das „Einfache, das schwer zu machen ist“.

Literatur

Katherine Dodd, C. J. Buddingh, S. Rapoport: The etiology of Ekiri, a highly fatal disease of Japanese children. Pediatrics 3, 9–19 (1949)

Samuel Rapoport, M. Wing: Dimensional, osmotic, and chemical changes of erythrocytes in stored blood. 1. Blood preserved in sodium citrate, neutral, and acid citrate-glucose (ACD) mixtures. J. Clin. Investigation 26, 591–615 (1947)

Heinz David: “… es soll das Haus der Charite heißen …” Bd. 2, S. 493 und 600 (2004), akademos Wissenschaftsverlag

Hartmut Kühn, T. Schewe: Lipoxygenasen als lipidperoxidierende Enzyme. Die Rolle von S. M. Rapoport als Nestor der deutschen Lipoxygenaseforschung. Akademischer Festakt in der Charite am 8. Okt. 2012 anlässlich des 100. Geburtstages von Prof. Dr. I. Rapoport und Prof. Dr. M. Rapoport, in press Leibniz-Sozietät der Wissenschaften, Verlag: irena regener berlin

Gisela Jacobasch: Die Entwicklung der Biochemie leitete die Periode der Medizin als Biowissenschaft ein. Die Humboldt-Universität Unter den Linden 1945–1990 Zeitzeugen – Einblicke – Analysen. HRSG. W. Girnus, K. Meier Leipziger Universitätsverlag 2010, S. 249–275

Gisela Jacobasch: Hereditäre Membrandefekte und Enzymopathien roter Blutzellen. Handbuch der Molekularen Medizin Bd. 6, Monogen bedingte Erbkrankheiten 1, S. 393–441. Hrsg. D. Ganten, K. Ruckpaul, Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2000

Charles Coutelle: Von der klassischen Biochemie zur pränatalen Gentherapie. Die Entwicklung der Molekularen Humangenetik im Rückblick eines beteiligten Zeitzeugen. Akademischer Festakt in der Charite am 8. Okt. 2012 anlässlich des 100. Geburtstages von Prof. Dr. I. Rapoport und Prof. Dr. M. Rapoport, in press Leibniz-Sozietät der Wissenschaften, Verlag: irena regener berlin

[1] Katherine Dodd, C. J. Buddingh, S. Rapoport: The etiology of Ekiri, a highly fatal disease of Japanese children. Pediatrics 3, 9–19 (1949).

[2] Samuel Rapoport, M. Wing: Dimensional, osmotic, and chemical changes of erythrocytes in stored blood. 1. Blood preserved in sodium citrate, neutral, and acid citrate-glucose (ACD) mixtures. J. Clin. Investigation 26, 591–615 (1947).

[3] Heinz David: “… es soll das Haus der Charité heißen …” Bd. 2, S. 493 und 600 (2004), akademos Wissenschaftsverlag.

[4] Hartmut Kühn, T. Schewe: Lipoxygenasen als lipidperoxidierende Enzyme. Die Rolle von S. M. Rapoport als Nestor der deutschen Lipoxygenaseforschung. Akademischer Festakt in der Charité am 8. Okt. 2012 anlässlich des 100. Geburtstages von Prof. Dr. I. Rapoport und Prof. Dr. M. Rapoport, in press Leibniz-Sozietät der Wissenschaften, Verlag: irena regener berlin.

[5] Gisela Jacobasch: Die Entwicklung der Biochemie leitete die Periode der Medizin als Biowissenschaft ein. Die Humboldt-Universität Unter den Linden 1945–1990 Zeitzeugen – Einblicke – Analysen. HRSG. W. Girnus, K. Meier, Leipziger Universitätsverlag 2010, S. 249–275.

[6] Gisela Jacobasch: Hereditäre Membrandefekte und Enzymopathien roter Blutzellen. Handbuch der Molekularen Medizin Bd. 6, Monogen bedingte Erbkrankheiten 1, S. 393–441. Hrsg. D. Ganten, K. Ruckpaul, Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2000.

[7] Charles Coutelle: Von der klassischen Biochemie zur pränatalen Gentherapie. Die Entwicklung der Molekularen Humangenetik im Rückblick eines beteiligten Zeitzeugen. Akademischer Festakt in der Charité am 8. Okt. 2012 anlässlich des 100. Geburtstages von Prof. Dr. I. Rapoport und Prof. Dr. M. Rapoport, in press Leibniz-Sozietät der Wissenschaften, Verlag: irena regener berlin.

  • Preis: 4.00 €
  • Erscheinungsjahr: 2013