Von: Volker Caysa
Reihe "Philosophische Gespräche", Heft 18, 2010, 60 S., A5, 3 Euro plus Versand
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Reihe "Philosophische Gespräche", Heft 18, 2010, 60 S., A5, 3 Euro plus Versand
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Inhalt
Nietzsche und das Problem der Kritik
Existenzielle Wende der Kritik
Kritik als Lust an der Verneinung
Kritik als Philosophie der Zukunft
Kritik als Lebensführung
Kritik ist Revolutionierung der Lebensformen
Kritik ist Wille zur (Selbst-)Macht
Die Verleiblichung der Kritik
Kritik als Identität von Denken und Existenz
Kritik als Selbstregierung Kritische Philosophie, die Schule macht
Kritik als Existenzialutopie
Was könnte die Linke von Nietzsche lernen?
Vorbemerkung
I Vorurteile
II Positive Problematisierung von Macht
III Die Selbstperspektivierung der Macht Wie sich Hoffnung formiert oder: Wie aus Latenz Tendenz wird
IV Die Macht der Stimmungen
V Machtpotenzierung
VI Die Macht des Bösen
VII Gerechtsein und Lebenskunst
VIII Macht und Selbstregierung
IX Positiver Begriff der Avantgarde
X Menschliche Moral
XI Exemplarisch Leben
XII Neue Utopie
XIII Was die Linke nicht von Nietzsche lernen kann
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LESEPROBE
Nietzsche und das Problem der Kritik
Existenzielle Wende der Kritik
Für Nietzsche ist eine Kritik des getäuschten Bewusstseins selbst täuschend, wenn sie vergisst, dass ihre Wahrheit auf Illusionen beruht und immer konzeptive Ideologie ist: Auch die "Demission der Helden" ist eine ideologische Mission von Kammerdienern, die bekanntlich keinen Herren kennen und ihr Hinterzimmerwissen als Skeptizismus kultivieren.
Zur kritischen Wahrheit gehört für Nietzsche die Wahrhaftigkeit, sich einzugestehen, dass alle unsere Wahrheiten nützliche Selbsttäuschungen sind und dass die Behauptung eines wahren Bewusstseins gegenüber einem falschen nur die Behauptung einer Selbsttäuschung gegenüber einer anderen ist, die freilich existenzielle Bedeutung und dadurch Wahrheit hat.[1] Folglich heißt es in der "Fröhlichen Wissenschaft": "Jetzt erscheint dir Etwas als Irrthum, das du ehedem als eine Wahrheit oder Wahrscheinlichkeit geliebt hast: du stösst es von dir ab und wähnst, dass deine Vernunft darin einen Sieg erfochten habe. Aber vielleicht war jener Irrthum damals, als du noch ein Anderer warst du bist immer ein Anderer , dir ebenso nothwendig wie alle deine jetzigen 'Wahrheiten', gleichsam als eine Haut, die dir Vieles verhehlte und verhüllte, was du noch nicht sehen durftest. Dein neues Leben hat jene Meinung für dich getödtet, nicht deine Vernunft: du brauchst sie nicht mehr, und nun bricht sie in sich selbst zusammen, und die Unvernunft kriecht wie ein Gewürm aus ihr an's Licht. Wenn wir Kritik üben, so ist es nichts Willkürliches und Unpersönliches, es ist, wenigstens sehr oft, ein Beweis davon, dass lebendige treibende Kräfte in uns da sind, welche eine Rinde abstossen. Wir verneinen und müssen verneinen, weil Etwas in uns leben und sich bejahen will, Etwas, das wir vielleicht noch nicht kennen, noch nicht sehen! Diess zu Gunsten der Kritik."[2]
Das wahre Bewusstsein täuscht sich dadurch, dass es vergisst, dass es in seiner Durchsicht sich auch täuscht und etwas als wesenhaftes Sein ohne Schein behauptet, das aber als Sein immer auch Schein ist. Der Ideologiekritiker ist in diesem Sinne immer der sich selbst täuschende Enttäuscher, er klärt auf, indem er das Wesen des Seins zu einem Sein ohne Schein verklärt. Eine Illusion löst aber nur eine andere Illusion durch deren Aufklärung ab, indem etwas als unmittelbar wahr gesetzt wird, was immer nur vermittelt sein kann.
Gegen den abstrakten Gegensatz von "wahr" und "falsch" als Kriterium der abstrakt gnoseologischen Kritik entwickelt Nietzsche aber eine existenzielle Form von Kritik; er vollzieht eine existenzielle Wende im kritischen Philosophieren, indem er kritisches Philosophieren in die Existenz des Philosophierenden existenzialanalytisch reflektiert. Kritik ist für Nietzsche daher eine existenzielle Praktik, die sich in der Haltung des Philosophierenden und den damit verbundenen Erfahrungen gründet. Während Kants Idee der Kritik die Aufhebung der Unmündigkeit durch Wissen anstrebt, sieht Nietzsche klar, dass Aufgeklärtheit, Mündigkeit, Kritik nicht allein durch Wissen ermöglicht werden kann, sondern vor allem als existenzielle Praktik verstanden werden muss, durch die aus einer theoretischen Fähigkeit auch eine praktische Fertigkeit, durch die aus einem theoretischen Anspruch auch eine kritische Praxis werden kann.
Kritik als existenzielle Praktik ist Kritik der kulturellen Praxis auf der Basis der individuellen Praktiken. Als eine solche Form der Kulturkritik ist Kritik theoretische Reflexion dieser Praktiken der Praxis wie auch die existenzielle Fähigkeit eine andere Praxis in der eigenen Lebensform zu praktizieren.
Existenzielle Erfahrungen als Instanz der Kritik gelten zu lassen heißt nun aber für Nietzsche nicht, sich fatalistisch dem angeblich Tatsächlichen zu unterwerfen. Die "Niederwerfung vor den 'Facten'" betrachtet Nietzsche "als eine Art Cultus", die "die bestehenden Werthschätzungen" vernichtet.[3] Diesem Tatsachenfetischismus liegt der positivistische Aberglaube zugrunde, dass man sozusagen wertfrei "ohne die Werthmaaße schon zu haben" die Dinge erforschen könnte und "die Werthe in den Dingen steckten und man sie nur festzuhalten hätte", wenn man die Tatsache sachgerecht, d.h. wertfrei erforscht hat.[4] Kritik ist hier also Kritik an der positivistischen Wissenschaftsreligiosität, die gegebenen Werten eine unhinterfragte Gültigkeit verschafft, indem sie als nicht vorhanden oder, wenn vorhanden, als "rein" und "objektiv" behauptet werden.
Kritik meint in diesem Kontext aber auch Kritik an der Philosophieauffassung, die die wissenschaftliche Philosophie mit Philosophie gleichsetzt und demzufolge dem Aberglauben huldigt, den wissenschaftlichen Menschen mit dem kritischen Philosophen zu verwechseln.
Kritisches Philosophieren ist auch nach Nietzsche sicherlich nicht möglich ohne den Aspekt der wissenschaftlich-historischen Kritik. Aber das durch die historische Bildung bestimmte Bewusstsein der Aufklärung muss selbst als geschichtlich vermittelte Gestalt durchschaut werden, der Stachel des historischen Wissens muss gegen dieses selbst gekehrt werden, wenn es aufgeklärt sein will.
Wie die Religionskritik der Anfang aller Kritik ist, so beginnt nach Nietzsche Kritik der Aufklärung damit, dass die moralischen Wertschätzungen, die der Wissenschaft implizite zugrundeliegen, selbst einer Kritik unterzogen werden. Indem die Kritik zunächst die Moral kritisiert, bewegt sie sich in ihr. Jede Kritik, auch wenn sie bewusst amoralisch ist, ist Moralität, und diese ist ein notwendiges Moment jeder Kritik. Demzufolge fordert der Kritiker Nietzsche von uns, "daß ihr die moralischen Werthschätzungen selbst einer Kritik unterziehen sollt. Daß ihr dem moralischen Gefühls-Impuls, welcher hier Unterwerfung und nicht Kritik verlangt, mit der Frage: 'warum Unterwerfung?' Halt gebieten sollt. Daß ihr dies Verlangen nach einem 'Warum?' selbst ansehen sollt, als die sublimste Art von Rechtschaffenheit, die euch und eurer Zeit Ehre macht."[5] Die Moral soll nicht letztbegründend Recht behalten, aber es ist auch irrig anzunehmen, dass sie nun völlig ihr Existenzrecht verloren hat. Sie bleibt auch nach Nietzsche eine notwendige Form der Kritik, auch wenn über sie hinausgegangen werden kann. Die genealogische Kritik der Moral historisiert und existenzialisiert diese und räumt ihr damit eine eingeschränkte Gültigkeit ein. Die Kritik der Moral bleibt aber nicht nur bei der Historisierung der Moral und damit im Negativen stehen, wie im weiteren noch zu zeigen sein wird, sondern sie wird positiv, indem diese existenzielle Historisierung wiederum ästhetisiert wird, was dazu führt, dass die kritische Moralität in einem neuen Ethos der Kritik aufgehoben werden kann.
[1] Vgl. KSA 1, S. 880 ff.
[2] KSA 3, S. 544545.
[3] Vgl. KGW VII,3, S. 253.
[4] Vgl. KGW VII,3, S. 252253.
[5] Vgl. KGW VIII,1, S. 159160.