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Heft 26: Moralphilosophie im Stande der Unfreiheit

Adornos negative Moralphilosophie - Veranstaltung am 10. Mai 2012

Von: Paul Mentz

Heft 26: Moralphilosophie im Stande der Unfreiheit

Reihe "Philosophische Gespräche", Heft 26, 2012, A5, 60 S., 3 Euro plus Versand

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Reihe "Philosophische Gespräche", Heft 26, 2012, A5, 60 S., 4 Euro plus Versand

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LESEPROBE

I.

Angesichts dessen, dass Horkheimer und Adorno in der Dialektik der Aufklärung davon sprechen, dass „die reale Geschichte aus dem realen Leiden gewoben ist“,[1] läge es nahe zu vermuten, dass Adornos moralphilosophische Überlegungen für die Argumente einer Mitleidsethik offen wären. In Bezug auf Schopenhauer ist dies jedoch gerade nicht der Fall, denn dieser geht nicht davon aus, „dass die Welt durch mitleidiges Handeln in ihrem negativen Grundgefüge[2]“ verändert werden kann. Mitleid ist für Schopenhauer kein ethisches Prinzip, sondern wird nur in Bezug auf die individuelle Weltentsagung thematisiert, d.h. ob ein Mensch aus Mitleid mit anderen entsprechend handelt, liegt im Charakter des jeweiligen Menschen begründet. „Für die universalisierbare Geltung, welche die Mitleidsmoral mit ihrem Prinzip der Leidensvermeidung beansprucht, stellt der Exkurs über den angeborenen Charakter eine tiefe Einschränkung dar: ob eine Person Rücksicht auf den Anderen nehmen wird, so dass sie nicht an dessen Leiden schuldhaft beteiligt wird, hängt jeweils davon ab, ob ihr Charakter den Verzicht auf eigene, den Anderen mögli-cherweise in seiner Suche nach dem für ihn guten Leben behindernde Interessen als Zumutung oder als berechtigte Forderung wertet.“[3]

Für Adorno wäre eine Mitleidsethik nur dann von Interesse, wenn diese den Anspruch erheben würde, dass durch mitleidiges Handeln die Welt grundlegend verändert werden könnte. Eine Mitleidsethik, die die Frage nach dem moralisch richtigen Handeln allein dem individuellen Charakter überantwortet, trägt nicht dazu bei die Welt zu verändern, denn das individuelle moralische Selbstbewusstsein ist „noch die verinnerlichte Bestätigung des Unterschieds von arm und reich“[4]. Das Mitleid ist selbst Teil des Unrechts, da sich in ihm psychologisch das Herrschaftsverhältnis ausdrückt,[5] indem sich der Mitleidige über den Bemitleideten erhebt, wobei unter Umständen dessen Wohlstand auf dem Elend und Leiden desjenigen gründet, dem sein Mitleid gilt. Außerdem muss das Mitleid notwendigerweise partikular bleiben, denn das Leid aller zu stillen, was einer Universalisierung des Mitleids gleichkäme, widerspricht der Beschränktheit, Zufälligkeit und Partikularität des Mitleids.[6] „Es bestätigt die Regel der Unmenschlichkeit durch die Ausnahme, die es praktiziert. Indem Mitleid die Aufhebung des Unrechts der Nächstenliebe in ihrer Zufälligkeit vorbehält, nimmt es das Gesetz der universalen Entfremdung, die es mildern möchte, als unabänderlich hin. Wohl vertritt der Mitleidige als Einzelner den Anspruch des Allgemeinen, nämlich den zu leben, gegen das Allgemeine, gegen Natur und Gesellschaft, die ihn verweigern. Aber die Einheit mit dem Allgemeinen, als dem Inneren, die der Einzelne betätigt, erweist an seiner eigenen Schwäche sich als trügerisch. Nicht die Weichheit sondern das Beschränkende am Mitleid macht es fragwürdig, es ist immer zu wenig.“[7]

Eine Mitleidsethik, die Mitleid – anstatt es zum moralischen Prinzip zu erheben – in die private Gesinnung verlegt, bleibt konservativ, denn sie verzichtet damit „auf die Verwirklichung des im moralischen Prinzip mitgesetzten menschenwürdigen Zustands“[8]. Das Mitleid ist aus Adornos Sicht dahingehend zu kritisieren, dass es unzulänglich bleibt. Begriffe wie allgemeine Menschenliebe und Mitleid müssen notwendigerweise abstrakt bleiben, denn der Mensch, der alle Menschen liebt, liebt letztlich keinen wirklich, während die konkrete spezifische Liebe immer zugleich die Abwendung von denen, die jemand weniger liebt, zur Folge hat. „Die dem Individuum erst gerecht werdende, sich an seine Besonderheit heftende Liebe ist daher notwendig stets gerechte Inhumanität.“[9] Liebe und Mitleid, die Universalität beanspruchen und sich an keine Besonderheit heften, sind letztlich begrifflich nicht mehr zu fassen. Gegen diese Kritik des Mitleids ließe sich einwenden, dass Mitleid nicht qualitativ sondern quantitativ gefasst, als Maßregel für universales Handeln seine Beschränkung auf zufällige karitative Handlungen überwinden könnte. Schon Nietzsche hat bezweifelt, dass ein nicht auf individuelle Einzelhandlungen beschränkter qualitativer Mitleidsbegriff zum ethischen Prinzip erhoben werden kann, denn schließlich mangelt es dem Menschen „an Phantasie, so daß er sich nicht in andre Wesen hineindenken kann. Wer das kann und ein liebevolles Herz hat, muß am Werth des Lebens verzweifeln; es sei denn, daß er sich eine mystische Bedeutung des ganzen Treibens ausdenkt. Vermöchte jemand gar ein Gesammtbewußtsein der Menschheit in sich zu fassen, er bräche unter einem Fluche gegen das Dasein zusammen.“[10] Darin, dass die Psyche des einzelnen Subjekts nicht in der Lage ist, sich das gesamte vorhandene Leid zu vergegenwärtigen, will es nicht psychisch unter der Last des Daseins zusammenbrechen, ist Nietzsche zuzustimmen. Allerdings ließe sich gegen Nietzsche einwenden, dass der Mangel an Phantasie nicht ahistorisch ist, sondern vielmehr, wie es Adorno ausdrückt, das Resultat der „bürgerlichen Kälte“[11]. Für Adorno sind die spezifischen gesellschaftlichen Bedingungen, denen die Subjekte ausgeliefert sind, verantwortlich dafür, dass sie sich keinen Begriff vom universalen Leid machen können.

Darin, dass Adorno die Möglichkeit der Vergegenwärtigung des allgemeinen Leids als kontingent bestimmt, unterscheidet sich seine Kritik des Mitleids von der ahistorisch-ontologisierenden Mitleidskritik Nietzsches. Identifikation mit dem Leid anderer wird unwahrscheinlicher, je mehr das Selbsterhaltungsinteresse des Einzelnen im Widerspruch zum Leid der Anderen gerät. Mitleid wird unter den spezifischen gesellschaftlichen Bedingungen zum psychologischen Ventil, das Entlastung verspricht, solange es die Ausnahme von der Regel bleibt. Mitleid im emphatischen Sinn wäre nach Adorno erst dann möglich, wenn die Menschen sich vom gesellschaftlichen Zwang emanzipieren und als freie Individuen sich aufeinander beziehen können.[12]

In der Negativen Dialektik entwickelt Adorno einen weiteren Aspekt seiner Mitleidskritik, wenn er davon spricht, dass es für die Weiterlebenden nach Auschwitz „der Kälte, des Grundprinzips der bürgerlichen Subjektivität“ bedarf, „ohne das Auschwitz nicht möglich gewesen wäre“[13]. Es stellt sich die Frage, was Adorno unter bürgerlicher Subjektivität und Kälte versteht. In der Dialektik der Aufklärung führen Horkheimer und Adorno an, dass die neuzeitlich Autonomie des Subjekts darauf verwiesen ist, dass dieses sich seine unmittelbare Triebbefriedigung versagt. Indem das Subjekt Triebverzicht übt, erhebt es sich über die Natur und sichert sein Überleben. Die gewonnene Autonomie des Subjekts beruht auf einem Opfer, nämlich der Herrschaft über die eigene innere Natur, welche zugleich die Voraussetzung für die Emanzipation von der äußeren Natur ist. Die eigene psychologische Triebstruktur wird dem Subjekt zum Objekt seiner Herrschaft und diese Herrschaft beruht auf Distanz. Unmittelbares gewährtes Glück, schreiben Horkheimer und Adorno, „zerstört die Autonomie des Beglückten“[14].

„In der Welt des Tausches hat der unrecht, der mehr gibt; der Liebende aber ist allemal der mehr Liebende. Während das Opfer, das er bringt, glorifiziert wird, wacht man eifersüchtig darüber, daß dem Liebenden das Opfer nicht erspart bleibe. Gerade in der Liebe selber wird der Liebende ins Unrecht gesetzt und bestraft. Die Unfähigkeit zur Herrschaft über sich und andere, die seine Liebe bezeugt, ist Grund genug, ihm die Erfüllung zu verweigern. Mit der Gesellschaft reproduziert sich erweitert die Einsamkeit. Noch in den zartesten Verzweigungen des Gefühls setzt der Mechanismus sich durch, bis Liebe selber, um überhaupt noch zum andern finden zu können, so sehr zur Kälte getrieben wird, daß sie über der eigenen Verwirklichung zerfällt.“[15] Horkheimer und Adorno verweisen auf die „Welt des Tausches“[16] als Ursache für die Kälte, und dieser Verweis lässt darauf schließen, dass der Begriff der bürgerlichen Kälte nicht als ahistorische Bestimmung verstanden werden darf. Der Begriff des Tausches bezieht sich bei Adorno auf eine spezifische Gesellschaftsform, in der nicht nur Waren getauscht, sondern als Äquivalente aufeinander bezogen werden. Das Wesen des Äquivalententauschs besteht darin, „dass in seinem Namen Ungleiches getauscht“[17] wird, d.h. sinnlich verschieden Waren werden aufeinander bezogen, indem von ihrem spezifischen Material abgesehen wird und sie auf ihren Wert hin getauscht werden. Der Wert einer Ware drückt sich dabei im Wert einer anderen Ware aus. Was dabei verglichen wird, sind zwei gleich große Quanten verausgabter abstrakter menschlicher Arbeit. Dabei wird der „Gebrauchswert zur Erscheinungsform seines Gegenteils, des Werts.“[18] Die im Gebrauchswert erscheinende konkrete Arbeit wird zur Erscheinungsform von abstrakter Arbeit, und Privatarbeit wird zu „Arbeit in unmittelbar gesellschaftlicher Form“[19]. Im Äquivalententausch wird von den individuellen Bedürfnissen der Tauschenden ab-strahiert, was aber historisch nicht auf jede Form von Tausch zutrifft, woraus folgt, dass es sich beim Begriff des Äquivalententauschs im Sinne von Adorno um einen historisch spezifischen Begriff handelt. Die bürgerliche Kälte kann als das Resultat der skizzierten Abstraktheit der bürgerlichen Verkehrsformen angesehen werden, die „im Wesen der Warenform“[20] begründet liegt. „Ferner hat diese Abstraktheit eine höchst charakteristische Eigenschaft: sie täuscht die Warenbesitzer über den historischen Charakter der Warenform und prägt ihrem Denken einen zeitlos absoluten, jeden zeitlichen Ursprung und jede örtliche Bedingtheit verleugnenden Geltungsanspruch auf.“[21] Die bürgerliche Kälte kann als „mangelnde Fähigkeit, sich in die spezifischen Bedürfnisse anderer umfassend hineinzuversetzen“[22], verstanden werden, und diese mangelnde Fähigkeit resultiert aus der Warenform, die ihrem Schein nach überhistorisch ist, was zur Folge hat, dass es den Anschein hat, dass die bürgerliche Kälte naturnotwendig ist.

„Allgemein ist das Individuum nicht bloß das biologische Substrat, sondern zugleich die Reflexionsform des gesellschaftlichen Prozesses, und sein Bewußtsein von sich selbst als einem an sich Seienden jener Schein, dessen es zur Steigerung der Leistungsfähigkeit bedarf, während der Individuierte in der modernen Wirtschaft als bloßer Agent des Wertgesetzes fungiert. Die innere Komposition des Individuums an sich, nicht bloß dessen gesellschaftliche Rolle wäre daraus abzuleiten.“[23] Adorno folgt in seiner Argumentation der Marx'schen Kritik der politischen Ökonomie insofern, als auch er annimmt, dass die Struktur der Gesellschaft im Denken der Individuen Spuren hinterlässt. Angesichts dieser Einsicht Adornos muss „Mitleid, das dem universellen und übermächtigen Eigennutz ‚entgegengesetzt wird’“[24], eher zur Rationalisierung des Leidens beitragen, als zu dessen Aufhebung.

Um den Begriff derbürgerlichen Kälte in Adornos Philosophie zu bestimmen, ist es notwendig, zwei verschiedene Begriffsebenen zu unterscheiden, zum einen den Versuch von Horkheimer und Adorno in der Dialektik der Aufklärung, den gesamten Prozess der Subjektwerdung im Zusammenhang mit der Entstehung der Zivilisation zu untersuchen. Der Begriff der Kälte wird hierbei als notwendiges Resultat der Naturbeherrschung angeführt, und eine derart verstandene Kälteließe sich nicht vollständig im Denken aufheben, da sie jeglicher Form von Naturbeherrschung inhärent wäre. Zum anderen versteht Adorno in den Minima Moralia den Begriff der Kälte als Resultat eines spezifischen historischen Verhältnisses, das nicht nur auf der für den Prozess der Zivilisation notwendigen Naturbeherrschung beruht, sondern vielmehr noch auf der kapitalistischen Produktionsweise. Wird bürgerliche Kälte in diesem Sinne verstanden, dann besteht die Möglichkeit, dass sich die Menschheit von dieser bürgerlichen Kälte emanzipiert, und dann wäre auch die objektive Grenze der Identifikation mit dem Leiden aufhebbar. „Wenn irgend etwas helfen kann gegen Kälte als Bedingung des Unheils, dann die Einsicht in ihre eigenen Bedingungen und der Versuch, vorwegnehmend im individuellen Bereich diesen ihren Bedingungen entgegenzuarbeiten.“[25]

Zusammenfassend kann konstatiert werden, dass nach Adorno eine Mitleidsethik, aufgrund der Vergesellschaftung unter dem Wertgesetz im Kapitalismus, an ihre Grenzen stößt. Mitleid kann aus diesem Grund nur als ein „ethisches Ausnahmeprinzip“[26] verstanden werden, welches „als Prinzip moralischer Handlungen unzulänglich ist“[27].

[1] Ebd., 58.

[2] Kohlmann, Dialektik der Moral, 54.

[3] Wischke, Die Geburt der Ethik, 31 f.

[4] Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, 123.

[5] Vgl. Schmid Noerr, Adornos Verhältnis zur Mitleidsethik Schopenhauers, 17.

[6] Es wird deutlich, wie sehr sich das Mitleid psychologisch auf das Besondere bezieht, wenn man sich die Frage stellt, wem das Mitleid gilt. Es dürfte den Menschen leicht fallen mit hungernden Kindern, erschlagenen Robbenbabies und am Flügel verletzten Dohlen Mitleid zu empfinden. Nur in den wenigsten Fällen werden die Menschen Mitleid mit den von der Gesellschaft deformierten Alkoholikern haben.

[7] Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, 123.

[8] Adorno, Minima Moralia, 105.

[9] Kohlmann, Dialektik der Moral, 59.

[10] Nietzsche, Nachgelassene Fragmente von Anfang 1875 bis Frühling 1876, 255.

[11] Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, 123.

[12] Vgl. Kohlmann, Dialektik der Moral, 61.

[13] Adorno, Negative Dialektik, 356.

[14] Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, 88.

[15] Ebd., 92.

[16] Ebd., 91.

[17] Adorno, Negative Dialektik, 150.

[18] Marx, Das Kapital Bd. 1, 70.

[19] Ebd., 73

[20] Sohn-Rethel, Warenform und Denkform, 108.

[21] Ebd.

[22] Kohlmann, Dialektik der Moral, 65.

[23] Adorno, Minima Moralia, 261.

[24] Schmid Noerr, Moralischer Impuls und gesellschaftliche Reflexion, 167.

[25] Adorno, Erziehung nach Auschwitz, 688.

[26] Kohlmann, Dialektik der Moral, 66.

[27] Ebd., 67.

  • Preis: 4.00 €