Von: Dieter Schiller
Festvortrag von Prof. Dr. Dieter Schiller anlässlich seines 80. Geburtstages
---------------------------------------------------------------------------------------------------
Reihe "Pankower Vorträge", Heft 182, 2013, 40 S.
--------------------------------------------------------------------------------------------------------
LESEPROBE
Das Buch ist im Schweizer Verlag Oprecht und Helbling mit dem Erscheinungsjahr 1935 herausgekommen, tatsächlich wurde es schon Oktober/ November 1934 ausgeliefert. Vorangegangen waren monatelange zähe Bemühungen des Autors, bei Wieland Herzfelde vom Malik-Verlag oder Fritz Landshoff vom Amsterdamer Querido-Verlag Interesse zu erwecken. Beide zeigten sich zwar interessiert, eine verlegerische Entscheidung blieb jedoch aus. Zum Druck kam es erst, als es dem Züricher Verleger Oprecht, einem Sozialdemokraten, offenbar gelang, einen Geldgeber zu finden.[1] Aus dem Briefwechsel Blochs geht hervor, das Buch sei noch in Deutschland geschrieben worden und habe schon im Herbst 1932 fertig vorgelegen.[2] Einige Ergänzungen wurden zwar im Frühjahr 1933 noch vorgenommen, zumindest ein Abschnitt ist neu geschrieben worden. Aber die wichtigsten Texte sind in den Endzwanzigern und um 1932 entstanden, zum Teil auch in Zeitungen veröffentlicht worden. Im Wesentlichen bezieht sich die Frage nach der "Erbschaft dieser Zeit" also auf die Jahre vor Hitlers Machtantritt im Januar 1933. Besichtigt wird die gesellschaftliche Realität und geistige Entwicklung in der späten Weimarer Republik als Umfeld und Nährboden für den rasanten Aufschwung der faschistischen Hitler-Bewegung.
Mir scheint bemerkenswert, wie früh der Autor des schon damals berühmten Buches vom "Geist der Utopie"[3] auf die Gefahren dieser politischen Gruppierung aufmerksam gemacht hat. Ein Aufsatz über "Hitlers Gewalt" ist im Jahr 1924 in Stefan Grossmanns Zeitschrift "Tagebuch" erschienen. Bloch mahnt hier seine linksbürgerlichen Freunde, diesen Gegner nicht zu unterschätzen. Denn der rechtsradikale Tribun Hitler habe eine "aggressive Sekte" aus begeisterten jungen Menschen um sich geschart, sie zu einer "Truppe mit Mythos" geformt und damit "der abgematteten Ideologie des Vaterlands (d. h. dem Nationalismus – D.S.) ein fast rätselhaftes Feuer" gegeben. Bloch sieht in "Hitler, Hitlerismus, Fascismus" eine "durchaus unbürgerliche Bewegung", getragen von der "Ekstase bürgerlicher Jugend". Deren Ziele aber – heißt es weiter – seien "der völlig gegenrevolutionäre Willensausdruck versinkender Schichten", der zeitgenössischen Bourgeoisie also, die sich freilich durch diese scheinbar oppositionelle und revolutionäre Bewegung "geschützt und konserviert" fühle.[4] Diesen Text hat Bloch in gekürzter Form in seine Schrift zur "Erbschaft dieser Zeit" aufgenommen und weist damit auf die Kontinuität einer Fragestellung hin, die den eigentlichen Hintergrund seines Buches bildet. Es ist die Frage, wie der deutsche Faschismus zur Massenbewegung werden konnte, welche Bindungskräfte es waren, die große Teile der bürgerlichen Jugend, der Angestellten, der Bauern und der während der Inflation und in der großen Krise verelendenden, proletarisierten städtischen Mittelschichten zu Anhängern Hitlers werden ließen, obwohl doch ihre aktuellen sozialen Interessen sie eher zu einem Bündnis mit der revolutionären proletarischen Bewegung gegen Großbürgertum, Monopolkapital und Imperialismus hätten drängen müssen.
In seinem Buch von der "Erbschaft dieser Zeit" bekannte sich der damals schon namhafte Philosoph und Linksintellektuelle Bloch zum ersten Mal öffentlich zum Marxismus in seiner kommunistischen und revolutionären Variante.[5] Das heißt, er teilte die Vorstellung von einer Endkrise des Kapitalismus und akzeptierte die kommunistische Hegemonie in der Klassenauseinandersetzung zwischen Proletariat und Monopolbourgeoisie. Wie andere Intellektuelle aus seinem Freundeskreis auch sah er in der proletarischen Revolution den einzigen Weg zur Beseitigung der – wie er meinte – verfallenden kapitalistischen Ordnung und orientierte sich auf die Sowjetunion als gesellschaftliche Alternative zur imperialistischen Welt. Allerdings wurde er – anders als seine Frau Karola – nie ein Kommunist im parteipolitischen Sinne als Mitglied der Kommunistischen Partei. In den Augen der Parteiintellektuellen war er deshalb nie mehr als ein "Weggefährte", ein Mann von außerhalb der Partei, mit – wie sie meinten – recht anmaßenden Ratschlägen an sie als die kommunistischen Insider und marxistisch-leninistischen Experten. Bloch selber – man darf das nicht kleinreden – tat im Übrigen einiges, um sich bei ihnen unbeliebt zu machen. Sein Bekenntnis zum Marxismus war von vornherein verbunden mit einer heftigen und im Ton recht herablassenden Polemik gegen "Vulgärmarxismus" und "Vulgärmarxisten". Darunter verstand er nahezu sämtliche kommunistischen Politiker, Propagandisten und Intellektuellen, ohne da viel zu differenzieren. Gelten ließ er eigentlich nur die so genannten "Klassiker" von Marx bis Lenin – Stalin kam damals noch seltener vor – sowie seine eigene, recht eigenständige Adaption der Ideen von Marx. Er trat also mit dem Anspruch auf, den richtigen, den nicht dogmatisierten, den der dialektischen Realität aufgeschlossenen Marxismus zu vertreten.
Das musste als eine Herausforderung wirken,[6] und war auch genau so gemeint, jedenfalls rechnete Bloch mit heftigem Streit über sein Buch – ja, er suchte diesen Streit sogar. Als wichtigsten Kontrahenten betrachtete er sichtlich seinen ehemaligen Freund Georg Lukács, den damals führenden theoretischen Kopf der deutschen Partei in philosophischen und kulturtheoretischen Fragen. Der habe in den zwanziger Jahren eine paukerhafte, erstarrte und schematische Haltung eingenommen und schrecke damit die Intelligenz ab, meinte Bloch und erwog sogar ausdrücklich eine publizistische "Kriegserklärung" an Lukács,[7] um seine Sache voranzubringen. So verwundert es nicht, wenn ihm ein vertrauter Freund brieflich wissen ließ, seine "neue Anwesenheit im Marxismus" werde in Parteikreisen nicht als eine willkommene Bestätigung verstanden, dass die Kraft der Utopie künftig dem Marxismus zugute kommen soll, sondern man meine dort vielmehr, dass ein "Utopist sich des Marxismus anmaßt".[8] Die kritische Distanz Blochs zur politischen Praxis der Parteikommunisten ist unverkennbar. Zwar bemühte er sich, einen grundsätzlichen politischen Konflikt mit der Partei zu vermeiden und formulierte im Vorwort zu "Erbschaft dieser Zeit" sogar den – sachlich höchst fragwürdigen – Satz: "... was die Partei vor dem Hitlersieg getan hat, war vollkommen richtig, nur was sie nicht getan hat, das war falsch".[9] Als Bloch das schrieb, war an den VII. Weltkongress der Komintern noch nicht zu denken und Zweifel an der Richtigkeit der Parteilinie galt im Umkreis dieser Partei als ein Sakrileg. Mit seiner These demonstrierte Bloch also, an ihr nicht rütteln zu wollen. Diese Parteilinie aber schloss bis zum Sommer 1934 immer noch die verhängnisvolle Sozialfaschismusthese[10] ein, die Bloch in seinem Buch trotz mancher Kritik an der Sozialdemokratie ganz offensichtlich demonstrativ vermied. Nicht hinterm Berg hielt er jedoch mit seiner Überzeugung, es sei ein verhängnisvoller Fehler der kommunistischen Propaganda, vorwiegend mit Zahlen und ökonomischen Fakten zu argumentieren, statt die Leute auch emotional anzusprechen. Deren Verwurzeltsein in der Vergangenheit, meinte er, ihre Ängste in der Gegenwart und ihre Träume vom besseren Leben müssten beachtet und in der politischen Praxis besser genutzt werden. In einem seiner späten Interviews erinnert sich Bloch an eine Massenversammlung im Berliner Sportpalast, in der ein kommunistischer und ein Nazi-Propagandist aufeinandertrafen. Während der Kommunist vom Grundwiderspruch, von Kapital und Durchschnittsprofitrate sprach, konterte der Nazi vor der Masse der Zuhörer leider recht wirkungsvoll, in all den vorgebrachten Zahlen zeige sich, dass Kommunismus und Kapitalismus mit ihrer Fixierung auf Zahlen und Statistiken nur die Kehrseiten einer einzigen Medaille seien, der "Führer" Hitler aber handele in "höherem Auftrag".[11]
Tatsächlich sah Bloch in der vorwiegend rationalen, mit ökonomischen Fakten argumentierenden Agitationsweise der Kommunisten die Gefahr, von oppositionellen Jugendlichen, Angestellten, Bauern, Handwerkern und kleinen Geschäftsleuten missverstanden und abgelehnt zu werden, also von eben den Mittelschichten, ohne die doch eine erfolgreiche Umwälzung in Richtung einer sozialistischen Gesellschaft nicht möglich war. Ihre oft unklaren antikapitalistischen Stimmungen und Haltungen waren es aber gerade, die von antirepublikanischen und rechtsradikalen Gruppierungen, besonders aber von den Nazis ausgenutzt wurden, um diese Schichten an sich zu binden und sie zum Fußvolk ihres Kampfes für eine faschistische Diktatur zu machen.
[1] Ernst Bloch an Klaus Mann 13.6.1934. In: Ernst Bloch, Briefe 1903–1975, 2. Band, hg. von Karola Bloch u. a., Frankfurt am Main 1985, S. 629.
[2] Ernst Bloch an Walter Benjamin 30.4.1934. In: Ernst Bloch, Briefe, 2. Band, S. 652. – Bloch betont auch im Vorwort zu "Erbschaft dieser Zeit", das Buch sei in Deutschland geschrieben worden. (S. 14) Einige Formulierungen, die Datierung des Abschnitts "Mythos Deutschland" und der Verweis auf einen Aufsatz von Georg Lukács aus dem Jahr 1934 belegen, dass bis 1934 noch Änderungen und Ergänzungen eingearbeitet worden sind (siehe S. 15, S. 59 und S. 100).
[3] Ernst Bloch, Geist der Utopie. München und Leipzig 1918.
[4] Ernst Bloch, Hitlers Gewalt. In: Das Tagebuch, 5. Jg., H. 15 (April 1924).
[5] Bezüge auf Marx und den Marxismus finden sich dagegen schon in den vorangehenden Werken, z. B. in "Geist der Utopie" (1918), S. 391 ff., sowie in der zweiten Fassung (1923), S. 291 ff.
[6] Vgl. Hans Günther, Der Herren eigner Geist. Ausgewählte Schriften. Berlin und Weimar 1981, S. 86.
[7] Ernst Bloch an Joachim Schumacher 15.5.1936. In: Ernst Bloch, Briefe. 2. Band, S. 497.
[8] Joachim Schumacher an Ernst Bloch 16.1.1935. In: Ernst Bloch, Briefe. 2. Band, S. 484.
[9] Ernst Bloch, Erbschaft dieser Zeit. Zürich 1935, S. 15.
[10] Vgl. Siegfried Bahne, Sozialfaschismus in Deutschland. Zur Geschichte eines politischen Begriffs. In: International Review of Social Histrory X (1965); Hermann Weber, Hauptfeind Sozialdemokratie. Strategie und Taktik der KPD 1929–1933. Düsseldorf 1982.
[11] Gespräche mit Ernst Bloch. Hg. v. Rainer Traub und Harald Wieser. Frankfurt am Main 1977, S. 198.
_____
Das Heft wurde von Gerhard Zwerenz auf der Internetseite poetenladen.de besprochen. Den entsprechenden Textauszug finden Sie hier.