Von: Christa Luft
Pankower Vorträge, Heft 183, 2013, 40 S.
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Autorin:
Christa Luft
Prof. (i.R.) Dr., 1938, Wirtschaftswissenschaftlerin, Diplom 1960, Promotion 1964, Habilitation 1968, 1971 Professur für Außenwirtschaftsökonomik/Osteuropawirtschaft an der HfÖ, von 1972 bis 1977 Direktorin der dortigen Sektion Außenwirtschaft, von 1978 bis 1981 Stellvertretende Direktorin am Internationalen Ökonomischen Forschungsinstitut des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) in Moskau, von 1988 bis 1990 Rektorin der HfÖ, vom 17. November 1989 bis 18. März 1990 Stellvertretende Ministerpräsidentin der DDR, vom 18.03.1990 bis 02.10.1990 Abgeordnete der Volkskammer der DDR, von 1991 bis 1994 Dozentin am Institut für Internationale Bildung Berlin e.V., von 1994 bis 2002 im Wahlbezirk Berlin-Lichtenberg/Friedrichshain direkt gewählte Abgeordnete des Deutschen Bundestages, dort stellvertretende Vorsitzende der PDS-Gruppe bzw. der -Fraktion und deren haushaltspolitische Sprecherin, danach freischaffende Publizistin, Vorstandsmitglied der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Mitglied der Leibniz-Sozietät.
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INHALT
Vorbemerkung: Wozu Beschäftigung mit einem fast 200 Jahre alten Theorem?
Biographische Daten Ricardos
Außenhandel und Reichtum der Nationen
Das Freihandelstheorem
Ricardos Annahmen und die Gegebenheiten der Gegenwart.
Befunde in der Euro-Zone
Missbrauch des Lehrsatzes durch neoliberale Politik
Deutsches Außenhandelsmodell nicht verallgemeinerbar
Gesamtwirtschaftliche Wirkungen von Freihandel
Einige Schlussfolgerungen
Bibliografischer Anhang
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LESEPROBE
Wozu Beschäftigung mit einem fast 200 Jahre alten Theorem?
Erstens: Nicht nur in Volkswirtschaftslehrbüchern hat die Freihandelslehre nach wie vor ihren Platz. Sie hat in der Politik westlicher Industriestaaten sowie in internationalen Organisationen ihre glühenden Verfechter. Ja, sie ist in der Handelspolitik en vogue. Ich erinnere zum Beispiel an das Anfang 2013 von der EU-Kommission gegen chinesische Hersteller von Solarpaneelen und deren Komponenten eingeleitete Anti-Subventionsverfahren. Oder: Auf dem jüngsten EU-Lateinamerika-Gipfel in Santiago forderte die deutsche Bundeskanzlerin namens ihrer Amtskollegen, endlich grünes Licht zu geben für ein Freihandelsabkommen. Jetzt soll ein Jahrhundertprojekt in Angriff genommen werden: eine „Transatlantische Freihandels- und Investitionspartnerschaft“ (TTIP) USA – Europäische Union, von Journalisten schon mal als „Wirtschafts-NATO“ apostrophiert.
Parallel dazu wird auf globaler Ebene ein Abkommen über Handelserleichterungen vorbereitet, das Ende 2013 auf der 9. Ministerkonferenz der Welt-handelsorganisation (WTO) verabschiedet werden soll. Dabei geht es um nicht-monetäre Maßnahmen, also um alles außer Zölle und Abgaben. Im Vordergrund steht der sogenannte Bürokratieabbau mit dem Ziel, die beim internationalen Handel anfallenden Kosten zu senken. Das ist eine Schlüsselforderung der Industrieländer im Interesse ihrer Konzerne. Viele arme Entwicklungsländer fürchten, mit einem multilateralen Vertrag Verpflichtungen z.B. zur Privatisierung von Infrastruktureinrichtungen und auch für die weitere Öffnung ihrer Agrarmärkte usw. einzugehen, die sie später nicht so einfach erfüllen könnten.
Zweitens: Generell ist die Ökonomenzunft gut beraten, von Zeit zu Zeit als ehern geltende Lehrsätze auf den Prüfstand zu stellen, die Annahmen mit den Gegebenheiten der Gegenwart und mit Herausforderungen der Zukunft abzugleichen. Das soll hier anhand des Ricardo’schen Freihandels-Theorems geschehen, das Generationen von Wirtschaftsstudentinnen und -studenten in der westlichen Welt wie ein Bibelsatz eingehämmert wurde und das bis heute als religiöse Wahrheit gilt. In meinem Außenhandelsstudium in der DDR hatte der Lehrsatz in den Fächern „Geschichte ökonomischer Lehrmeinungen“ und „Außenhandelstheorie“ ebenfalls seinen Platz, verbunden damit, was daran bereits von Karl Marx kritisch beurteilt worden war. So die Unterstellung, dass nur "Produkte gegen Produkte ausgetauscht werden" und es daher keine Überproduktion geben kann. Zudem hatte Marx auf die einseitige Bereicherung der „Mutterländer“ zulasten der abhängigen Länder bzw. Kolonien verwiesen.
Drittens: Ernst zu nehmen gilt es, dass sich mit zunehmender, durch die Freihandelslehre befeuerter internationaler Wirtschaftsverflechtung neue, von der profitgesteuerten Ökonomie ausgehende politische Konfliktherde entwickeln können.
Das gewählte Thema birgt also auch Aufklärungspotenzial, ja, Potenzial für die „ökonomische Alphabetisierung der Massen“, um eine Metapher des französischen Soziologen Pierre Bourdieu zu bemühen. Fragen des Handels sind, wie ich finde, bisher viel zu wenig Gegenstand politischer Bildung.
Auf längere theoretische Erörterungen wird an dieser Stelle verzichtet. Dazu gibt es umfangreiche Literatur. Das Hauptaugenmerk gilt dem aktuell-praktischen Umgang mit dem Freihandelsdogma, dem uneingelösten Wohlstandsversprechen für alle sowie dem Spannungsverhältnis zwischen einzel-wirtschaftlichem Nutzen und gesamtwirtschaftlichem Effekt des auswärtigen Handels.