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Heft 186: Politische Konfrontationslinien in der frühen Bundesrepublik. Alte Feindschaften und neue Demokraten

Zwischen Bizone und EVG - Restauration und Neuanfang im Westen 1947–1952 (Teil 3)

Von: Stefan Bollinger, Ludwig Elm, Gisela Notz, Ulla Plener, Dominik Rigoll

Heft 186: Politische Konfrontationslinien in der frühen Bundesrepublik. Alte Feindschaften und neue Demokraten

Zum Thema Zwischen Bizone und EVG – Restauration und Neuanfang im Westen 1947–1952 fand 2012 eine Konferenzreihe der "Hellen Panke" e.V. – Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin statt. In 3 Heften der Schriftenreihe „Pankower Vorträge“ (Hefte 184, 185, 186) werden hiermit die von den Referenten zum Druck vorbereiteten Beiträge veröffentlicht.

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Autoren (Heft 186)

Stefan Bollinger

Dr. sc. phil., Politikwissenschaftler und Historiker, stellv. Vors. der "Hellen Panke" e.V., Berlin

Ludwig Elm

Prof. Dr., Historiker, Jena

Gisela Notz

Dr., Historikerin, Berlin

Ulla Plener

Dr. sc. phil., Historikerin, Berlin

Dominik Rigoll

Dr., Historiker, Berlin

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Heft 184 (Teil 1)

Besatzungsmächte, Westbindung und Konstituierung der Bundesrepublik

Zwischen Bizone und EVG. Restauration und Neuanfang im Westen 1947–1952

Beiträge: Rolf Badstübner, Stefan Bollinger, Georg Fülberth, Siegfried Prokop

Heft 185 (Teil 2)

Alte Feindbilder und neue Waffen

Wiederbewaffnung und Antikommunismus in der Blockkonfrontation

Zwischen Bizone und EVG. Restauration und Neuanfang im Westen 1947–1952

Beiträge: Stefan Bollinger, Jan Korte, Ulrich Sander, Lothar Schröter

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INHALT

Stefan Bollinger

Politische Konfrontationslinien in der frühen Bundesrepublik. Alte Feindschaften und neue Demokraten - Einleitende Bemerkungen

Ludwig Elm

Mitte-Rechts-Regierung im September 1949 in Bonn. Schlussstrichpolitik und antikommunistische Kontinuität

Ulla Plener

Die SPD im Westen 1945–1952. Keine Wege aus dem Kapitalismus

Gisela Notz

Trümmerfrauen, Heimchen am Herd oder der Neuanfang sozialer (Frauen)-Bewegung(en) 1945 bis 1955

Dominik Rigoll

Lehre aus der Geschichte? Die Erfindung der Extremismusdoktrin nach 1945

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LESEPROBE

Auszug aus dem Beitrag von Dominik Rigoll

Lehre aus der Geschichte?

Die Erfindung der Extremismusdoktrin nach 1945

In Publikationen der Bundeszentrale für politische Bildung und in Sozialkundelehrbüchern heißt es oft, die streitbare Demokratie, wie wir sie heute kennen, sei den "Vätern des Grundgesetzes" nach dem Krieg als die einzig logische Lehre aus dem Scheitern Weimars und dem Aufstieg des Nationalsozialismus erschienen.

Alle kennen die Geschichte: Als sich Ende der 1940er Jahre die Gründung eines westdeutschen Teilstaates abzeichnete, stand für alle Demokraten außer Frage, dass die Weimarer Republik dem Zangengriff von Kommunisten und Nationalsozialisten erlegen war. Gleichsam von den extremen Rändern her wurde die erste deutsche Demokratie so sehr geschwächt, dass sie 1933 wie ein Kartenhaus in sich zusammen fiel. Schuld hieran waren freilich nicht nur Nazis und Kommunisten, sondern auch die Weimarer Reichsverfassung, die den Republikanern nur wenige Mittel an die Hand gab, gegen ihre Todfeinde vorzugehen. Ganz anders das Bonner Grundgesetz. Dieses sieht seit 1949 eine ganze Palette von Schutzmechanismen vor, namentlich das Parteiverbot (gem. Art. 21) und die Arbeit der Ämter für Verfassungsschutz (Art. 73 Abs. 10).

Ich will diese oft erzählte, aber nur selten wirklich belegte Geschichte hinterfragen. Meine Quellen sind – neben der Forschungsliteratur – vor allem Archivbestände des Bundesinnenministeriums, die ich für meine Doktorarbeit über "Staatsschutz in Westdeutschland" eingesehen habe. Im Zentrum stehen allerdings nicht Parteiverbote oder gar Geheimdienstarbeit. Weder das Bundesverfassungsgericht noch der Verfassungsschutz haben bislang die hierfür einschlägigen Akten zugänglich gemacht. Als roter Faden dient vielmehr die Frage, wie sich der Staatsapparat mittels Berufsverboten vor wirklichen oder angeblichen Verfassungsfeinden schützte: zuerst in der Entnazifizierung, dann qua Adenauer- und Radikalenerlass.[1]

Ziel dieses Beitrags ist es, auf der Grundlage dieser Recherchen zu einer historischen Kritik der Extremismusdoktrin beizutragen. Für die aktuelle Debatte – namentlich um den NSU (d.h. die Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund) und die Reform des Verfassungsschutzes – scheint mir diese historische Kritik am Extremismusbegriff aus zwei Gründen relevant zu sein. Zum einen schärft sie den Blick dafür, dass es sich bei vielen der vermeintlichen Pannen, die seit dem Auffliegen des NSU-Netzwerks im November 2011 an die Öffentlichkeit gelangten, wohl nicht um Ausrutscher handelt, sondern um die Spätfolgen von Weichenstellungen, die von Politikern und Juristen in den 1950er Jahren getätigt wurden – mithin also um Systemfehler, die es seit 1949/50 ständig gab.

Zum anderen zeigt der Blick in die Vergangenheit, dass die streitbare Demokratie – also der Fokus des Staatsschutzes auf Kommunisten und (jedenfalls theoretisch) Neonazis – mitnichten so unumstritten war, wie Befürworter und Kritiker heute annehmen. In Wirklichkeit gab es nicht nur auf der Linken, sondern sogar in der SPD und den Unionsparteien politisch Verantwortliche, die mit "Verfassungsschutz" immer auch den Schutz der Menschenwürde und individuellen Freiheitsrechte meinten – Schutz vor Übergriffen eines starken Staates, aber auch vor Angriffen aus der Gesellschaft selbst, etwa durch gewalttätige und mordende Neonazis.

Besonders greifbar wird diese Kritik an der Extremismusdoktrin, wenn man ihre Geschichte nicht erst 1949 beginnt, sondern 1945. Zu dieser Zeit bereiteten den Alliierten und den demokratisch gesinnten Deutschen bekanntlich nicht etwa Neonazis oder gar Kommunisten die größte Sorge, sondern Hunderttausende von Belasteten und Mitläufern im Staatsapparat und in der Wehrmacht. Aus diesem Grund setze ich 1945 an.

Erst danach werde ich nachzeichnen, wie diese frühe Ausrichtung der inneren Sicherheitspolitik zwischen dem Auseinanderbrechen der Anti-Hitler-Koalition und dem Beginn des Korea-Krieges 1950 neu justiert wurde: einerseits durch die massenhafte Wiedereinstellung all derer, die 1945 als Sicherheitsrisiko entlassen worden waren; andererseits durch die zeitgleiche Fokussierung des Staatsschutzes weg von diesen Leuten, hin auf eine Handvoll Neonazis – vor allem aber natürlich auf die Kommunisten und ihr gesamtes Umfeld.

Zuletzt will ich von den Widerständen sprechen, die es gegen diese Neuausrichtung der inneren Sicherheitspolitik in den 1950er Jahren noch gab – und zwar nicht nur auf der radikalen Linken, sondern in den Institutionen der streitbaren Demokratie selbst: von Seiten des ersten Bundesinnenministers Gustav Heinemann (CDU); des hessischen Ministerpräsidenten Georg-August Zinn (SPD); des ersten Präsidenten des Bundesamts für Verfassungsschutz, Otto John (parteilos); ja sogar des Bundesverfassungsgerichts.

1.

Welche Rolle spielte nun die Extremismusdoktrin in der Zeit der Entnazifizierung? Keine besonders große: Bekanntlich traf das erste Parteiverbot in Nachkriegsdeutschland weder die KPD, deren Anhänger auf regionaler Ebene am Wiederaufbau mitwirkten und später auch im Parlamentarischen Rat saßen, noch die Sozialistische Reichspartei, deren Gründung erst nach dem Wegfall der alliierten Lizensierungsbestimmungen 1949 möglich wurde. Als erste Partei verboten wurde vielmehr die NSDAP. Aufgelöst wurden ferner ihre Vorfeldorganisationen sowie eine ganze Reihe "verbrecherischer Organisationen" wie die SA und die SS. Darüber hinaus wurden alle Deutschen über 18 Jahren mittels Fragebogen erfasst und neben 150.000 Militärs auch 55.000 Zivilbeamte mit Berufsverbot belegt.

Tatsächlich vergisst man heute oft, dass 1945 nicht in erster Linie aus moralischen Gründen entnazifiziert wurde oder um die Belasteten zu bestrafen, sondern aus sicherheitspolitischen Gründen: um den Neuanfang nicht zu gefährden und Platz zu schaffen für unbelastete Außenseiter. Dabei konnten die Alliierten und später auch die deutschen Aufbaupolitiker nicht schematisch vorgehen, sondern mussten sehr genau abwägen: zwischen der Notwendigkeit, die eigene Sicherheit zu gewährleisten – und dem Erfordernis, die Verwaltung nicht zum Erliegen kommen zu lassen.

Wegen des akuten Mangels an zugleich zuverlässigen und fachlich geeigneten Kräften gab es aus diesem Grund auch von Beginn an personelle Kontinuitäten zum Dritten Reich. Der 1946 einsetzende Kalte Krieg erleichtere die Wiederverwendung der "Ehemaligen" zusätzlich und führte außerdem dazu, dass die Kommunisten, die in den Monaten nach der Kapitulation rekrutiert worden waren, sukzessive wieder gehen mussten.

Halt machte diese Entwicklung jedoch vor Schlüsselpositionen. Diese blieben in der Regel sowohl von Kommunisten frei als auch von NS-Funktionseliten. Dies gilt erst Recht für Institutionen der inneren Sicherheit, die in den drei Westzonen natürlich nicht von deutschem Personal garantiert wurde, sondern von der alliierten Militärpräsenz bzw. den Militärpolizeien. Die Alliierten wachten nicht nur über die Internierung der NS-Funktionseliten, das Verbot der NSDAP und etwaiger Nachfolgeorganisationen, sondern später auch über die Repression von linken Streiks und Demonstrationen.

Einen Sonderfall stellten zu dieser Zeit noch jene ehemaligen Angehörigen der NS-Auslandsspionage um Reinhard Gehlen dar, die nach ihrer kurzzeitigen Verhaftung weiterhin "Ostaufklärung" betrieben. Da dies die Öffentlichkeit in den USA und Großbritannien, vor allem aber in Frankreich, niemals geduldet hätte, konnte die "Organisation Gehlen" jedoch nur unter größter Geheimhaltung tätig sein. Außerdem arbeiteten Gehlen und seine Kameraden unter strenger Anleitung und Kontrolle US-amerikanischer Geheimdienste. Diese konnten die Deutschen im Fall eines Vertrauensbruchs jederzeit wieder entlassen oder sogar an die Sowjetunion ausliefern, wo man sie wegen Spionage oder Kriegsverbrechen vor Gericht gestellt hätte. Offiziell blieb die Linie der Amerikaner: "We'd rather have the communists than the secret police." [Wir hätten lieber die Kommunisten als die Geheimpolizei.] – Dies soll jedenfalls der amerikanische Gouverneur Lucius D. Clay geantwortet haben, als sich die westdeutschen Ministerpräsidenten 1948 einen eigenen Geheimdienst wünschten.

Anders als man es vielleicht erwarten würde, änderte sich an dieser Grundkon-stellation mit Gründung der Bundesrepublik zunächst wenig. Noch als die Innenministerkonferenz im Mai 1950 – also ein Jahr nach Verabschiedung des Grundgesetzes – mit Nachdruck darum bat, auf eigene Regie gegen westdeutsche Teilnehmer am Pfingsttreffen der FDJ in Ostberlin vorgehen zu dürfen, zeigten die alliierten Hohen Kommissare den Innenminister die kalte Schulter. Auch Bundesjustizminister Thomas Dehler blitzte in den Monaten nach Gründung der Bundesrepublik mehrere Male ab, als er sich um die Wiedereinführung des 1945 von den Alliierten außer Kraft gesetzten politischen Strafrechts bemühte.

Der wohl wichtigste Grund für das alliierte Misstrauen: Nicht nur im östlichen, sondern auch im westlichen Ausland erschien es einem nicht unbeträchtlichen Teil der Öffentlichkeit auch Jahre nach dem Ende der Anti-Hitler-Koalition noch sehr unklar, in welche Richtung sich der westdeutsche Teilstaat nun eigentlich entwickeln würde. Neue Nahrung erhielten diese Zweifel durch Gerüchte, wonach die Entnazifizierung seit der Gründung der Bundesrepublik bis in die Ministerialbürokratien hinein rückgängig gemacht werde. Im US-Senat fand sich im Sommer 1950 sogar eine Mehrheit, die mittels einer Neuverteilung der Entnazifizierungs-Fragebögen überprüfen wollte, ob in Westdeutschland tatsächlich jene Renazifi-cation des Staatsapparates im Gange war, für die der Name Globkes nur als Chiffre stand. Von dieser "Renazifizierung" berichteten nämlich nicht nur Kommunisten und Neutrale, sondern auch liberale Beobachter und Vertreter jüdischer Organisationen.

Bereits im März 1950 hatte die SPD-Bundestagsfraktion ein heute fast vergessenes Demokratieschutzgesetz eingebracht, das nicht etwa gegen die KPD gerichtet war, sondern gegen die Gefahren, die von der personellen Restauration ausgingen. Konkret ging es unter anderem darum, die Entlassung von Richtern und hohen Beamten zu erleichtern, wenn sich herausstellte, dass diese die Werte der Demokratie nicht verinnerlicht hatten. Auslöser des Gesetzentwurfs war der Prozess gegen Wolfgang Hedler. Der rechtsradikale Agitator war zu diesem Zeitpunkt noch Abgeordneter der Deutschen Partei, die in Adenauers erstem Kabinett den Verkehrsminister stellte. Kurz zuvor war Hedler von zwei trotz ihrer einstigen NSDAP-Mitgliedschaft wieder eingestellten Richtern vom Vorwurf der Beleidigung freigesprochen worden, nachdem er die Angehörigen des Widerstands als Verräter bezeichnet und den nationalsozialistischen Staatsantisemitismus gerechtfertigt hatte. Was die SPD bei dem Urteil besonders beunruhigt und empört hatte, war der Umstand, dass die Richter ihren Freispruch mit einer unverblümten Warnung an alle NS-Verfolgten verbunden hatten: Wenn ihnen an der "friedlichen Weiterentwicklung" des Landes etwas liege, sollten sie auf Beleidigungsklagen in Zukunft besser verzichten.

Die Regierungsmehrheit lehnte das sozialdemokratische Gesetz zum Schutze der Demokratie[2] als "Schritt in den Polizeistaat" ab. Nach Überzeugung konservativer Aufbaupolitiker, die auf die Wahlstimmen und das Wohlwollen der "Ehemaligen" noch mehr angewiesen waren als die SPD, durfte das Verhalten der Richter keinesfalls als "Renazifizierung" angeprangert oder gar als Form der nationalsozialistischen Unterwanderung disziplinarisch belangt werden. Stattdessen pochten sie auf die Unabhängigkeit der Justiz, die in einer Demokratie nun einmal zu respektieren sei, und nannten die SPD-Initiative selbst "obrigkeitsstaatlich". Zugleich plädierten sie mit Inbrunst für eine Demokratie, die sich gegen ihre Feinde nicht mit Disziplinar- oder Strafprozessen zur Wehr setzt, sondern durch die politische Auseinandersetzung und soziale Maßnahmen. Tatsächlich kann ich nur empfehlen, sich einmal die Wortbeiträge in der Debatte zu diesem an der rechten Mehrheit gescheiterten Entwurf durchzulesen.[3] Der Leser wird überrascht sein, wie sehr die Argumente von Franz Josef Strauß und Kurt Georg Kiesinger auf einmal nach Christian Ströbele und Ulla Jelpke[4] klingen – sobald nämlich nicht über die Repression von Linken debattiert wird, sondern über den Schutz der demokratischen Grundordnung vor wild gewordenen NS-Funktionseliten in den Institutionen.

Das Misstrauen der Weltöffentlichkeit konnte Kanzler Adenauer freilich nicht per Mehrheitsbescheid beiseite wischen. Besonders peinlich war für den Kanzler in diesem Zusammenhang, dass ausgerechnet seine kommunistischen Widersacher in Ostberlin von den Sowjets bereits im Februar 1950 grünes Licht für die Gründung eines eigenen Ministeriums für Staatssicherheit bekommen hatten. Während das deutsche Personal des MfS binnen weniger Monate die 1.000er-Marke überschritt, war an die Gründung eines Bundesamts für Verfassungsschutz noch immer nicht zu denken.

Anders als man es vielleicht erwarten würde, schuf für Konrad Adenauer selbst der Ausbruch des Koreakriegs im Juli 1950 zunächst wenig Abhilfe. Denn dass eine rasche deutsche Wiederbewaffnung nun auch in den offiziellen Verlautbarungen der Westalliierten kein Tabu mehr war, bedeutete mitnichten, dass im Ausland weniger an der Zuverlässigkeit der Westdeutschen gezweifelt wurde – im Gegenteil: wäre die Bundeswehr wirklich schon zu Beginn der 1950er Jahre aufgebaut worden und nicht erst 1956, hätte sich die Frage nach der Loyalität der 200.000 Staatsdiener und Offiziere umso dringlicher gestellt, die man 1945 doch eigentlich dauerhaft entnazifiziert hatte.

2.

Allerdings erhöhte der Krieg in Korea den Entscheidungsdruck so stark, dass sich die westalliierten Außenminister zu einer öffentlichkeitswirksamen Neujustierung ihrer Sicherheitspolitik veranlasst sahen. Am 19. September 1950 schwenkten sie auf einer Konferenz in New York auf die sicherheitspolitische Linie des Bundeskanzlers ein. Diese Linie besagte, dass das den ehemaligen NS-Funktionseliten in Staat, Wirtschaft und Militär innewohnende Destabilisierungspotential für das neue Gemeinwesen am besten dadurch zu bannen sei, indem man sie mit Posten und Pensionen ruhig stelle, anstatt sie mit neugierigen Fragen nach ihrer Karriere im Dritten Reich in die Arme von Neonazis zu treiben.

Offen ausgesprochen werden durfte dieses Raisonnement freilich unter gar keinen Umständen. Da es streng genommen noch nicht einmal eine neonazistische Gefahr geben durfte, war im offiziellen Sprachgebrauch sogar nur vom Überlaufen unzufriedener Altnazis zu den Kommunisten die Rede. Und im Abschlusskommuniqué von New York hieß es lediglich, dass die Bundesrepublik als einziger legitimer deutscher Staat das volle Vertrauen des Westens genieße und deshalb über Fragen der inneren Sicherheit künftig ganz allein entscheiden könne. Das stimmte zwar nicht, wie der Historiker Joseph Foschepoth in seinem Buch über Postzensur und Telefonüberwachung gezeigt hat, aber für Adenauer war ohnehin anderes ausschlaggebend.[5]

Noch am Nachmittag des 19. September trat der Kanzler mit Innenminister Heinemann vor die Presse und stellte das erste Resultat der in New York garantierten Souveränität vor: den so genannten Adenauer-Erlass[6]. In diesem Erlass definierte die Bundesregierung zum ersten Mal in ihrer jungen Geschichte, wen sie in Zukunft als "Gegner der Bundesrepublik" erachten würde und wen nicht; bzw. was als "Bestrebung gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung" gelten würde und was nicht.[7]

Da die Alliierten den Westdeutschen zwar ein politisches Strafrecht in Aussicht gestellt hatten, der Bundestag aber noch immer keines hatte verabschieden können, beschränkte sich der Adenauer-Erlass auf die Frage der Freihaltung des Staatsdienstes von "Gegnern". Wie zu sehen ist, war in dem Erlass von wild gewordenen Nazi-Richtern oder belasteten Ministerialbeamten, denen die SPD noch im Frühjahr 1950 ein eigenes Demokratieschutzgesetz hatte widmen wollen, keine Rede mehr. Umso detaillierter legte der Erlass dar, dass die "Gegner der Bundesrepublik" vor allem im Umfeld der KPD zu finden seien, deren Vorfeldorganisationen allesamt aufgezählt wurden, inklusive der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN). Hinzu kamen zwei rechte Splittergruppen, darunter die Sozialistische Reichspartei (SRP).

Nur wer im Umfeld dieser Parteien und Organisationen aktiv war, sollte wegen "schwerer Pflichtverletzung" aus dem Staatsdienst ausscheiden – obwohl die im Adenauer-Erlass erwähnten Parteien und Organisationen im westdeutschen Staatsapparat zu diesem Zeitpunkt kaum präsent waren: Von einigen Leuten in den Ämtern für Wiedergutmachung abgesehen, gab es Kommunisten und KPD-Sympa-thisanten allenfalls noch auf den untersten Ebenen des Staatsdiensts, als Gemeindearbeiter etwa oder bei der Bahn. Die SRP sollte erst im Folgejahr richtig Zulauf bekommen.

Für den Moment bedeutender war denn auch die andere Botschaft des Erlasses: Frisch wieder eingestellte Nazi-Richter, die agitierende Neonazis wie Hedler freisprachen, sollten wenn überhaupt nur noch als moralisches oder als Image-Problem angesehen werden – und nicht als das sicherheitspolitisch bedenkliche Symptom einer Unterwanderung staatlicher Schlüsselstellungen durch Altnazis. Auch hochgradig belastete Ministerialbeamte wie Hans Globke im Bundeskanzleramt, Josef Schafheutle im Bundesjustizministerium, Kurt Behnke im Bundesinnenministerium – und mit ihnen viele andere in Bund und Ländern – fielen durch das Raster des Erlasses.

Profitieren konnten von dem neuen "antitotalitären Konsens" aber auch jene, die 1950 noch gar nicht im Staatsdienst standen, weil ihre Dienststellen erst in den Wochen und Monaten nach dem Erlass ins Leben gerufen wurden: der Bundesgerichtshof, das Bundesverfassungsgericht, die meisten Verfassungsschutz-Ämter, später auch die politischen Sonderstrafkammern.

Kurz: Die Extremismusdoktrin, wie sie der Adenauer-Erlass am 19. September 1950 erstmals regierungsamtlich definierte, diente nicht allein dem Kampf gegen kommunistische und neonazistische "Gegner der Bundesrepublik". Er diente auch der Integration der Belasteten und Mitläufer, deren Wiedereinstellung bzw. Beförderung anstand, in die Institutionen des bundesdeutschen Rechtsstaates.

Und weil dies so war, hatten die zurückgekehrten Belasteten und beförderten Mitläufer auch nicht nur ein ideologisches, sondern ein ganz persönliches materielles Interesse daran, dass möglichst all jene dauerhaft mundtot gemacht würden, die, wie die Kommunisten und ihre Sympathisanten, ohne Unterlass auf die Gefährlichkeit der personellen Restauration aufmerksam machten – und dabei nicht selten konkrete Namen und konkrete Karrierestationen nannten.

Aus diesem Blickwinkel betrachtet, wird auch deutlich, dass die Genese und radikale Durchsetzung der Extremismusdoktrin in den Jahren 1950/51 nicht in erster Linie darauf zurückzuführen war, dass die Kommunisten auf einen deutsch-deutschen Bruderkrieg hingearbeitet hätten wie in Korea. Dies behaupteten Adenauer und die Westalliierten nur – übrigens beide mit Verweis auf Lageberichte der "Organisation Gehlen". Wie spätestens der 17. Juni 1953 zeigen sollte, war die SED mit der Herrschaftssicherung nach innen viel zu sehr beschäftigt, als dass sie ernsthaft von einer Destabilisierung der Bundesrepublik von außen hätte träumen können.

Nein, das Bedrohungsszenario, das 1950 für Adenauer und die Alliierten gleichermaßen den Ausschlag gab, hatte weniger mit der DDR zu tun als mit dem Erbe des Faschismus. Es war die Furcht vor einer Destabilisierung der Bundesrepublik durch ein Heer von deklassierten und radikalisierten NS-Funktionseliten – in einem Kontext, da die Arbeitslosenquote auf 11 Prozent angestiegen war und niemand wissen konnte, dass es demnächst einen Korea-Boom und ein "Wirtschaftswunder" geben würde. In den Monaten davor hatte die Beamtenlobby ganz unverhohlen damit gedroht, dass der "innere Frieden" des Landes auf Dauer nur zu sichern sein würde, wenn man das bei der Entnazifizierung den Staatsdienern und ihren Familien angetane Unrecht zügig rückgängig mache. Nur wenn die Bundesrepublik auf diese Weise ihren "Treuepflichten" nachkomme, würde man ihr ihrerseits treu ergeben sein.

Rechtliche Grundlage dieses historischen Kompromisses zur dauerhaften Sicherung der politischen Stabilität sollte Artikel 33 des Grundgesetzes sein. Diesem Artikel zufolge stehen Staat und Bedienstete in einem "Dienst- und Treueverhältnis". Die politisch-strategische Voraussetzung für das Funktionieren der Übereinkunft war die amerikanische Militärpräsenz in Europa. Diese konnte im Konfliktfall nicht nur die Westeuropäer vor den Sowjets schützen, sondern auch vor den restaurierten Westdeutschen. Das soziale Fundament des Deals war die unterschiedslose Versorgung fast aller ehemaligen Bediensteten des Dritten Reiches – und zwar unabhängig davon, ob sie an NS-Unrecht beteiligt gewesen waren oder nicht.

Warum? Wer der Weltöffentlichkeit und der eigenen Bevölkerung weismachen wollte, dass es sich bei der personellen Restauration um eine beamtenrechtliche Selbstverständlichkeit handelte und nicht etwa um eine tickende Zeitbombe, für den war jede Personalie, die öffentlich diskutiert wurde, eine Personalie zu viel. Stattdessen musste alles, was den 200.000 Berufsverboten des Jahres 1945 auch nur einen Hauch von Legalität und historischer Legitimität verleihen konnte, für Unrecht erklärt oder ganz tabuisiert werden.

Ein Mittel zur Durchsetzung dieses Tabus war wiederum die Extremismusdoktrin – bzw. der angeblich so selbstverständliche "antitotalitäre Konsens", wonach die Hauptgefahr für das Land vor allem von Kommunisten und ein wenig auch von Neonazis ausgehe. Diese sicherheitspolitische Weichenstellung stellte nicht nur alte antidemokratische Ressentiments gegen Kommunisten in den Dienst der Demokratiegründung. Sie versetzte die Belasteten und Mitläufer auch in die Lage, in den Institutionen des Rechtsstaats selbst auszubuchstabieren, was sie an der demokratischen Grundordnung als schützenswert erachteten und was nicht – als Staatsanwalt, Richter, Verfassungsschützer oder Ministerialbeamter.

Besonders greifbar wird dieser Umstand auch auf dem Gebiet der Staatsrechtslehre. Hier waren es belastete Juristen wie Theodor Maunz und Ulrich Scheuner, die in den 1950er Jahren den von Karl Loewenstein und Karl Mannheim im Exil geprägten Begriff der "streitbaren Demokratie" aufgriffen und ihn im Sinne des Adenauer-Erlasses umdefinierten. Dass sich Loewenstein und Mannheim nicht nur für den Schutz des Staates interessiert hatten, sondern stets auch für den Schutz der Parteien und Bürger vor staatlichen Übergriffen, kommt in der von Maunz und Scheuner repräsentierten "herrschenden Meinung" mit keinem Wort vor. Noch nicht einmal die Namen der beiden werden genannt, geschweige denn deren Flucht aus demselben Deutschland, in dem Scheuner und Maunz eine steile Karriere hingelegt hatten.[8]

In der Tat konnte die Extremismusdoktrin in den 1950er und 1960er Jahren nur deshalb so erfolgreich sein, weil gewisse Informationen über die Vergangenheit und ihre Gegenwart kaum in Westdeutschland zirkulierten. Ermöglicht wurde dies erstens durch die halb freiwillige, halb erzwungene Selbstbeschränkung all derer, die alt und informiert genug waren, um es besser zu wissen; hierauf spielte Theodor Adorno an, als er schrieb, "im Hause des Henkers soll man nicht vom Strick reden; sonst hat man Ressentiment". Zweitens. gab es, wie wir Dank Foschepoth wissen, eine millionenfache Zensur von angeblich kommunistischen Schriften. Drittens schließlich wurde 1951 ein Strafrechtsänderungsgesetz verabschiedet, das es der politischen Justiz ermöglichte, jeden zu bestrafen, der oder die auch nur angeblich mit der KPD/SED zu tun hatte.

Das Resultat waren über 200.000 Strafverfahren, vor allem gegen Kommunisten – und eine demokratische Öffentlichkeit, der bei bestimmten Tabuthemen sehr, sehr enge Grenzen gesetzt waren.

[1] Siehe ausführlich Dominik Rigoll: Staatsschutz in Westdeutschland. Von der Entnazifizierung zur Extremistenabwehr. Göttingen 2013.

[2] Siehe Antrag der Fraktion der SPD: Entwurf eines Gesetzes gegen die Feinde der Demokratie vom 15.02.1950. Bundestags-Drucksache 01/563.

[3] Siehe den parlamentarischen Schlagabtausch zum Gesetzesentwurf: Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes gegen die Feinde der Demokratie (Drucksache Nr. 563) am 16. März 1950. In: Bundestag-Plenarprotokoll 01/47, S. 1592–1609.

[4] Letztere sind Bundestagsabgeordnete von Bündnis 90/Die Grünen bzw. PDS, dann der Partei Die Linke.

[5] Umfassend untersucht bei Josef Foschepoth: Überwachtes Deutschland. Post- und Telefonüberwachung in der alten Bundesrepublik. Göttingen 2012.

[6] Der Wortlaut u.a.: Dok. 54: Politische Betätigung von Angehörigen des öffentlichen Dienstes gegen die demokratische Grundordnung. Beschluss der Bundesregierung vom 19. September 1950. In: Georg Fülberth: Geschichte der Bundesrepublik in Quellen und Dokumenten. Köln 1983, 2., durchges. u. erw. A., S. 83/84.

[7] Zum Vorgang ausführlich: Dominik Rigoll: Staatsschutz in Westdeutschland. A.a.O., Kap. I.2.

[8] Siehe ausführlich Dominik Rigoll: Staatsschutz in Westdeutschland. A.a.O., Kap. I.3.

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