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Heft 192: Heran an die Massen! oder: Lesen ist Parteipflicht

Kritische Betrachtungen zum Feuilleton der "Roten Fahne" - Berlin 1920–1932

Von: Dieter Schiller

Heft 192: Heran an die Massen! oder: Lesen ist Parteipflicht

Reihe "Pankower Vorträge", Heft 192, 2014, 60 S.

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Der vorliegende Text ist die erweiterte Fassung eines Vortrags des Autors im Verein "Helle Panke" e.V. – Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin am 18. Februar 2014.

Autor: Prof. Dr. Dieter Schiller – Literaturwissenschaftler, lebt in Berlin

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INHALT

Einführende Überlegungen

Erste Jahre. Gertrud Alexander

Kampfkultur. Piscator

Durus, Agitprop und proletarische Kunst

Heran an die Massen

Arbeiterliteratur und anderes Literarisches

Über Zensur und neue Kultur

Ein Wort zum Schluss

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LESEPROBE

Erste Jahre. Gertrud Alexander

Ein Feuilleton bildete sich in der Gründungsphase der "Roten Fahne" erst um die Jahreswende 1919/20 heraus, verantwortlich für seinen Aufbau war Gertrud Alexander,[1] eine Kommunistin aus der Schule Franz Mehrings. Als Theaterkritikerin suchte sie ihren proletarischen Lesern einen kritischen Blick auf die bürgerliche Dramatik und Bühnenpraxis zu vermitteln und ihnen marxistische Kriterien der Wertung von Kunst und Literatur nahezubringen. Den pauschalen Anspruch moderner Kunstrichtungen, revolutionär zu sein, wies sie mit Vehemenz – und sicher auch mit einigem Recht – zurück.[2] Sie betrachtete allerdings Expressionismus, Kubismus, Futurismus, Dadaismus etc. lediglich als Verfallserscheinungen der bürgerlichen Welterfahrung, als eine Wirklichkeitsflucht.[3] Das Chaos – schrieb sie – werde hier als Revolutionsgeist ausgegeben, der in Form einer vorgeblich "neuen Dichtung" in Erscheinung trete, vor allem als "vergewaltigte Sprache". Die Wirklichkeit des blutigen Revolutionskampfes aber werde von den Schöpfern dieser Dichtungen kaum wahrgenommen, als ginge sie sie nichts an.[4] Für Gertrud Alexander ist das alles Kunstanarchismus, und sie setzt sich in ihrem Feuilleton zum Ziel, die Illusion von einer Literaturrevolution, einer revolutionären bürgerlichen Kunst gründlich zu zerstören.[5]

Damit geriet sie freilich in einen heftigen Konflikt mit der Künstlergruppe um Wieland Herzfelde, seinen Bruder John Heartfield, George Grosz und Erwin Piscator, die sich schon in der Gründungsnacht der KPD angeschlossen hatten.[6] Gertrud Alexanders Beitrag zur sogenannten "Kunstlump-Debatte", einer Polemik von John Heartfield und George Grosz gegen den Maler Oskar Kokoschka, zog den Streit ins Feuilleton der "Roten Fahne" hinein. Kokoschka hatte die Beschädigung eines Rubens-Bildes während revolutionärer Kämpfe beklagt und die beiden Künstler konterten, sie sähen mit Freude, wenn Kugeln nicht in die Häuser der Armen in den Arbeitervierteln, sondern in die Paläste der Reichen oder auch in Meisterbilder treffen.[7] Da steckte Freude an der Provokation dahinter, es war eine Attacke revolutionärer Künstler gegen bürgerliches Kunstgehabe. Gertrud Alexander jedoch sah das künstlerische Erbe bedroht und keilte zurück, ohne einem möglichen Sinn der radikal-linken dadaistischen Attitüde viel nachzufragen. Vandalismus warf sie ihren Kontrahenten vor und betonte, das Proletariat müsse das Erbe der Gesamtkultur antreten und habe Sorge zu tragen, dass es unangetastet bleibt.[8] Es versteht sich, dass die Dada-Ausstellung am Lützowufer – heute eine Ikone moderner Kunst – für sie bürgerliche Dekadenz, Größenwahn und pseudo-revolutionärer Unfug war, vor dem sie ihre Arbeiterleser ausdrücklich warnte.[9]

Worauf ihr Programm zielt, verrät ihre Besprechung von Kurt Pinthus' Anthologie "Menschheitsdämmerung".[10] Kritisch vermerkt sie die antibürgerliche Gebärde dieser Dichter, welche – wie sie meint – die verlorenen Bindungen der Menschen untereinander aus der Sphäre des Geistes heraus wiederherstellen wollten. Neue Bindung könne aber nur aus der Realität der revolutionären Kräfte, der Sphäre des Klassenkampfs und der revolutionären Tat heraus entstehen. In Johannes R. Bechers Wendung zur russischen Revolution sieht sie einen solchen Ansatz, vor allem aber im späten Schaffen des früh verstorbenen Ludwig Rubiner, der mit seiner Anthologie "Kameraden der Menschheit"[11] der proletarischen Weltrevolution am nächsten gestanden habe. Seine Auswahl betone den Mut der Dichter zu Bekenntnis und Verantwortung, den Willen, durch dichterische Schöpfung die Revolution voran zu treiben.[12] Das etwa gleichzeitig publik gewordene Projekt eines "Proletarischen Theaters" sieht Alexander dagegen skeptisch.

Das war der Versuch von Erwin Piscator und Hermann Schüller, eine Propagandabühne zu schaffen, die aktuelle Stoffe mit Mitteln der Typisierung, Symbolisierung und Vereinfachung darstellen wollte. Auf der Bühne stand da die Anklage eines Kriegskrüppels neben Szenen, welche die Bedrohung der Sowjetunion durch das Weltkapital und den internationalen weißen Terror thematisierten. "Russlands Tag" war das erste proletarisch-revolutionäre Agitpropspiel,[13] ein szenisches Experiment, mit dem – wie Piscator später schrieb – die Schöpfer "Aufklärung, Wissen, Erkenntnis" vermitteln wollten.[14] Dass diese Stücke Eindruck gemacht hatten, belegt eine rückblickende Erinnerung von Berta Lask aus dem Jahr 1925. Arbeiterzuschauer und Gäste – schreibt sie – seien "tief aufgerüttelt" gewesen durch diese "ungewohnt kühne revolutionäre Kunstdarbietung". Der oder die Kritisierende in der "Roten Fahne" – sehr wahrscheinlich Gertrud Alexander – sah darin jedoch nur "platte Elendsmalerei" und "revolutionäre Phrase". Weil die traditionellen Vorstellungen von Theater nicht bedient wurden, wurde die Darbietung nicht als tastender, aber innovativer Versuch in eine neue Richtung verstanden. In Wahrheit – heißt es in der Kritik weiter – habe eine solche von Intellektuellen betriebene Bühne nichts mit Arbeitern zu tun. Vielmehr mache sie ihnen – die zu selbständigem Urteil noch nicht reif seien – weiß, dies sei proletarische Kunst. Dieses "Proletarische Theater" setze sich Propaganda der kommunistischen Idee zum Ziel, heißt es in deutlicher Ablehnung, doch Theater verpflichte nun einmal zu Kunst, und Kunst sei eine zu heilige Sache, um ihren Namen für "Propagandamachwerke" herzugeben. "Was der Arbeiter heute braucht," – heißt die Folgerung – "ist starke Kunst, die den Geist löst und freimacht, sie kann auch bürgerlichen Ursprungs sein, aber Kunst."[15]

Gertrud Alexander hofft zwar auf künftige Dichter, auf Dramatiker aus den Reihen des Proletariats, doch solange das große revolutionäre Drama noch fehle, sieht sie einen Ansatz eigenständiger proletarischer Selbstaussprache und Selbstverwirklichung im proletarischen Sprechchor. Protest und revolutionärer Wille spreche sich hier aus. Als kollektive Leistung und kollektives Organ beruhe der Sprechchor auf Kräften, die aus der Masse selbst quellen und auch den Einzelnen emotional mitreißen.[16] Mit dem Sprechchor verweist sie auf ein damals charakteristisches und massenwirksames Genre, ein Genre, an dessen Realisierung Arbeiter tatsächlich aktiv beteiligt waren. Das Argument der Kritikerin, der politische Kampf absorbiere die revolutionäre Energie der Arbeiterklasse so stark, dass aus ihren Reihen große Kunst nicht vor ihrem politischen Sieg entstehn könne, wurde allerdings den realen kulturellen Entwicklungen im Umkreis der kommunistischen Partei nicht mehr gerecht.

Freilich erhalten im Feuilleton der "Roten Fahne" auch Kritiker das Wort, die mehr Gespür zeigen für Versuche, "zum Inhalt einer proletarischen Kunst die neue Form zu finden". Das belegt eine Besprechung der Uraufführung von Franz Jungs Stück "Die Kanaker" im Proletarischen Theater. Franz Jung war einer der bedeutendsten und produktivsten linkskommunistischen Autoren der zwanziger Jahre. Der Theaterkritiker betrachtet Jungs Drama als ein "Stück zwischen Theater und Wirklichkeit", er bejaht das Fehlen eines Helden in einer herkömmlichen Handlung. Ein Ausschnitt aus dem Leben werde modellhaft vorgeführt: eine Betriebsbesetzung, die in die Rebellion der Arbeiter und den weißen Terror der Kapitalisten und ihrer Büttel mündet. Ein eingeblendetes Gespräch zwischen dem Schriftsteller Wells und Lenin setze den Vorgang in den Kontext der welthistorischen Klassenauseinandersetzungen – die Dramaturgie des Stückes verfährt also sichtlich nach dem Montageprinzip. Als Charakteristikum des Stückes wie der Inszenierung betrachtet der Rezensent, dass Spiel und Wirklichkeit ineinander übergehen, die Zuschauer ins Spiel einbezogen werden, so dass Kunst und Propaganda im Miteinander von Bühne und Publikum verschmelzen. In alledem sieht er einen noch tastenden, unvollkommenen, doch zukunftsträchtigen Versuch, eine schöpferische Tat.[17] Der Kritiker verschweigt nicht, dass das Arbeiterpublikum Schwierigkeiten mit dem Stück hatte und erst lernen müsse, selbst eine Rolle im Spiel zu haben. Doch tritt er nachdrücklich für die Förderung des Proletarischen Theaters ein.

Interessierte Zeitgenossen wie er wussten freilich nur zu gut, dass nur eine revolutionäre proletarische Theaterbewegung solche Projekte würde tragen können. So stellte Paul Reimann in seinem Beitrag zur Bildungskonferenz der Kommunistischen Partei im August 1922 fest, im letzten Jahr sei "in den Reihen der Arbeiterschaft ein wachsendes Interesse am Theater zu beobachten". Die Partei werde sich mit diesen neuen Bestrebungen auseinandersetzen müssen. Vor allem müsse sie den verbreiteten Stimmungen entgegentreten, das Wirken in den reformistischen Arbeiter-Theaterbildungsvereinen sei sinnlos. Es gelte vielmehr, den "Bildungsbonzen", die dort den Ton angaben, mit einem revolutionären Theaterprogramm entgegenzutreten und auch die bestehenden, noch reformistisch geführten Vereine "zu Zentren des Klassenkampfes" umzugestalten.[18] Ein Artikel zur kulturellen Aufklärungsarbeit der Kommunistischen Partei machte auf Erfahrungen aufmerksam, die zeigten, wie die Bühne für die kommunistische Bildungsarbeit auf kulturellem Gebiet ausgenutzt werden konnte. Solche Aktivitäten hätten sich bereits vielfach als Gegengewicht zur sozialdemokratisch-bürgerlichen Bildungsarbeit erwiesen.[19]

Ganz in diesem Sinne war es ein Grundanliegen des frühen Feuilletons der "Roten Fahne", den Arbeiterlesern des Blattes bewusst zu machen, der heutige bourgeoise Umgang mit der großen Literatur der Vergangenheit stelle eine Verfälschung ihres historischen Inhalts dar. Aufgabe des Proletariats sei es, seinen eigenen Standpunkt zu finden, indem es nach der Verankerung der klassischen Werke in den Klassenkämpfen der Vergangenheit fragt und den Impulsen und Botschaften nachgeht, die darin für die Klassenkämpfe der Gegenwart zu finden wären. In einer Theaterkritik zum "Wallenstein" von Friedrich Schiller wendet sich Gertrud Alexander beispielsweise gegen eine Interpretation des Stücks als Parteinahme des Dichters für die "altheilige Macht". Keineswegs habe Schiller dem Rebellentum seiner Jugend abgeschworen, denn sein "revolutionärer Idealismus" – ob in den "Räubern" oder im "Wallenstein" – bedeute "geistige Emanzipation". Eine "Flucht aus der Wirklichkeit" sei das zwar gewesen, freilich eine Flucht, die nicht vermeidbar war, weil dem Autor in seiner Zeit politisch zu handeln versagt blieb. Doch habe er an der Gewissheit festgehalten, dass die Welt nur handelnd umgestaltet werden könne.[20] Diese Sicht knüpft an die Schiller-Verehrung in der Arbeiterbewegung an und eröffnet eine ganze Serie von Theaterkritiken zu Schillers Stücken im Feuilleton der "Roten Fahne", die bis in die dreißiger Jahre reicht.[21] Ich kann dem nicht im Einzelnen nachgehen, wichtig ist zu betonen, dass die Redaktion der Zeitung hartnäckig bemüht war, ihren Lesern Grundvorstellungen marxistischer Literaturbetrachtung und kritischen Zuschauens im Theater nahe zu bringen.

Überlegungen dazu hat am Ende der Gründungsphase des Feuilletons der "Roten Fahne" Georg Lukács beigetragen, damals schon ein bekannter Philosoph und Ästhetiker, der Volkskommissar der blutig niedergeschlagenen ungarischen Räterepublik gewesen war. Unter der Überschrift "Marxismus und Literaturgeschichte" erklärt er seinen Lesern im Jahr 1922, auch die bürgerliche Literatur sei als Tendenzkunst entstanden. Erst in der nachrevolutionären Phase, als ihre eigenen Klassenideale erschüttert waren, habe sie die Vorstellung von einer Kunst um der Kunst willen (l'art pour l'art) entwickelt. Vom Standpunkt des revolutionären Proletariats her gesehen, sei dies ein Zeichen ideologischer Auflösungsprozesse, eine reaktionäre Tendenz, der nun eine neue revolutionäre Tendenzkunst des Proletariats gegenübertrete, als Verkünderin seiner eigenen Klassenkampfziele. Auch Lukács bezieht sich übrigens auf Schillers künstlerische Entwicklung vom "Don Carlos" zum "Wallenstein" als charakteristischer literaturgeschichtlicher Umschlagspunkt. Diese Überlegung steht freilich nicht im Zeichen einer ungebrochenen Kontinuität, sondern eines Bruchs, der keine individuelle Angelegenheit des Dichters ist. Zwischen Marquis Posas revolutionären Forderungen und Wallensteins Rebellion gegen den Kaiser – meint Lukács – stehe der "Terreur" der französischen Jakobiner von 1793/94. Weil das Bürgertums vor den Konsequenzen seines eigenen Kampfes erschrak, habe es sich schließlich mit der Militärmonarchie Napoleons abgefunden,[22] und so erkläre sich die Wendung des Dichters aus den Vorgängen der realen Geschichte. Um Entstehung und Wirkung von Kunstwerken zu erklären, bedürfe es der ästhetischen Zergliederung der Dichtung vom Standpunkt des Marxismus. Das aber bedeute, sie von ihren konkreten geschichtlichen Ausgangsbedingungen her zu analysieren und jene Ausdrucksformen zu erfassen, die einen bestimmten "Lebensgehalt" am angemessensten und wirksamsten gestalten.[23] Der Schreiber mutet seinen Lesern also einiges zu, lässt sie aber auch nicht im Regen stehen, denn in Aufsätzen über den Nachruhm Honoré de Balzacs, die Entwicklung Gerhart Hauptmanns und zum Lebenswerk August Strindbergs[24] gibt er zugleich praktische Beispiele seiner zugleich zergliedernden und wertenden Verfahrensweise an damals vielgelesenen Schriftstellern. Bemerkenswert ist, dass hier der Ton sachlich-kritischer Erörterung vorherrscht, nicht vordergründig ideologische Konfrontation, wie sie in späteren Jahren oft – und oft recht ärgerlich – in der "Roten Fahne" zu lesen sein wird. Im Gegenteil schließt Lukács seine Aufsatzserie ab mit einer Würdigung des Monsterdramas "Die letzten Tage der Menschheit"[25] von Karl Kraus. Er wertet es als eine "Kampfschrift gegen den Krieg der Bourgeoisie". Statt abstraktem Pazifismus biete Kraus ein "wahrheitsgetreues Bild vom Krieg", zeige er den "Mechanismus des Krieges" und das "Gesicht der herrschenden Klasse" in monumentalen Bildern. Auch wenn die Stimme des revolutionären Proletariats fehle, sei dieses Buch "die beste Propagandaschrift gegen den imperialistischen Krieg".[26]

Der Aufsatz war eine Leseempfehlung, und solch ein didaktisch empfehlender Zug findet sich immer wieder im Feuilleton der "Roten Fahne". Die Beziehung der proletarischen Leser zur bürgerlichen Literatur ist dabei ein Dauerthema, aber naturgemäß in den früheren Jahren weit ausgeprägter als in den späteren, die sich eher den proletarisch-revolutionären Neuanfängen widmen. Das hieß gegen Vorurteile anzuschreiben. So wendet sich Paul Reimann gegen die allzu strikt vertretene Behauptung, alle Literatur in der bürgerlichen Gesellschaft sei nichts anderes als ein Instrument der herrschenden Klasse und deshalb zu verwerfen. Abzulehnen – setzt er dagegen – sei vielmehr eine Literatur, die im Sinne der Bourgeoisie geschrieben wurde und wirkt, nicht etwa die Literatur schlechthin. Denn die Literatur der unterdrückten Klassen werde ja totgeschwiegen, um der Öffentlichkeit Glauben zu machen, es gäbe sie nicht. Eine soziale Literaturgeschichte müsse deshalb an die Stelle der individuellen treten, eine Sicht auf die Literatur entwickelt werden, welche die Schriftsteller als "Sprachrohr gesellschaftlicher Klassen" begreift und die Klasse selbst als ein "kunstschöpferisches Gebilde" versteht.[27] Diese Formulierung mag uns heute befremden, in der Sache zielt sie darauf, Aufmerksamkeit für die oppositionelle Literatur der Vergangenheit und für die Anfänge einer proletarischen Literatur in der Gegenwart einzufordern, die im bürgerlichen Literaturbetrieb ausgeblendet blieben. Sache der revolutionären Arbeiterpresse sei es, hier Abhilfe zu schaffen.

"Was soll der Proletarier lesen?" fragt ein anonymer Artikel aus dem Jahr 1922 und verweist als Antwort auf den bereits erwähnten Franz Jung, der damals ein ebenso bekannter wie umstrittener Gegenwartsautor war. Der Verfasser des Artikels erkennt das Bedürfnis einer proletarischen Leserschaft an, nicht nur politische Agitationsbücher oder Anklageschriften zu lesen. Als Alternative zur bürgerlichen Unterhaltung – meint er – schreibe Jung vom proletarischen Leben hier und heute. Er spreche nicht von individuellen Helden, sondern von Proletariern, die gemeinsam revolutionär handeln und ihr Leben der sozialen Revolution widmen.[28] Vorausgesetzt wird damit freilich ein recht idealer proletarischer Leser, ein Leser, den weniger die Schilderung individueller Schicksale, Liebesabenteuer oder fremder Welten, sondern die Entfaltung des Menschen zu Gemeinschaft und Solidarität fesselt. Neben diesem linkskommunistischen Gegenwartsautor Franz Jung werden dann allerdings unter dem gleichen Obertitel noch Georg Büchner, Emile Zola, Gerhart Hauptmann und Heinrich Heine zur Lektüre empfohlen – ein linker Kanon also ohne ein spezifisch kommunistisches Profil.

Am Rande sei noch vermerkt, dass sich die Redakteurin Gertrud Alexander der Empfehlung für Franz Jung keineswegs angeschlossen hätte. Denn ein Jahr später wendet sie – in einer Rezension von Jungs "Die Eroberung der Maschinen"[29] – gegen diesen Roman ein, der Autor schalte bewusst alles aus, was an Einzelschicksal erinnern könne. Er wolle einen unpersönlichen, nicht von Individuen handelnden proletarischen Roman schaffen, weil er nur noch mit dem Gemeinschaftsmenschen rechne. Solche Angst vor der Individualisierung werde ein revolutionärer Arbeiter jedoch kaum verstehen. Vielleicht – verallgemeinert sie ihre kritische Reflexion – zeige sich hier, dass das Experiment eines proletarischen Romans in eine Sackgasse führe. Denn als eine spezifisch bürgerliche Kunstgattung sei der Roman eine "Widerspiegelung bürgerlich individueller Lebenskomplexe" und habe sich deshalb wohl als Kunstform überlebt. Die revolutionäre Aktion, in der die Masse Mittelpunkt und Aktionszentrum bilde, müsse – möglicherweise – ein neues proletarisches Epos schaffen, das dem Rhythmus und der Bewegung großer sozialer Massenkämpfe mehr entspreche als der Roman.[30] Überlegungen dieser Art blieben bis in die endzwanziger Jahre virulent, wie unter anderem bei Johannes R. Becher nachzulesen ist.[31]

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[1] Gertrud Alexander: An der Kulturfront. In: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung (BzG) 1981/5, S. 714 ff. (Gertrud Alexander, im Folgenden abgekürzt: G.G.L).

[2] G.G.L.: Juli-Ausstellung "Der Sturm". Die Rote Fahne (im Folgenden: RF) 12.6.1923 (Brauneck, S. 191).

[3] G.G.L.: Kunst, Vandalismus und Proletariat. Die Rote Fahne 23./24.6.1920.

[4] G.G.L.: Literaturbesprechung: Kurt Pinthus: Menschheitsdämmerung. RF 13.6./14.6.1921 (Brauneck, S. 129).

[5] G.G.L.: Zur Frage der Kritik bürgerlicher Kunst. RF 4.1.1921 (Brauneck, S. 109).

[6] Vgl. Wieland Herzfelde: George Grosz, John Heartfield, Erwin Piscator, Dada und die Folgen oder Die Macht der Freundschaft. In: W. Herzfelde: Zur Sache geschrieben und gesprochen zwischen 18 und 80. Berlin und Weimar 1976, S. 450. – Siehe auch Otto Steinicke: Bemerkungen über eine Dichtergeneration. RF 1.1.1928, Nr. 1 (Zit. nach: Zur Tradition der deutschen sozialistischen Literatur. Eine Auswahl von Dokumenten 1926–1935, Band 1, Auswahl und Gesamtredaktion Alfred Klein unter Mitarbeit von Thomas Rietzschel. Berlin und Weimar 1979, S. 97.

[7] Der Kunstlump. In: Der Gegner, Erstes Jahr, Heft zehn bis zwölf, S. 55.

[8] G.G.L.: Kunst, Vandalismus und Proletariat. RF 23./24.6.1920 (Br. 63–65).

[9] G.G.L.: Dada. Ausstellung am Lützowufer 13. RF 25.7.1920 (Brauneck, S. 76 ff.)

[10] Kurt Pinthus (Hg.): Menschheitsdämmerung. Symphonie jüngster Lyrik. Berlin 1920.

[11] Ludwig Rubiner (Hg.): Kameraden der Menschheit. Dichtungen zur Weltrevolution. Eine Sammlung. Potsdam 1919.

[12] G.G.L.: Literaturbesprechung. RF 13./14.6.1921 (Br. 131/32).

[13] Ludwig Hoffmann/Daniel Hoffmann-Ostwald: Deutsches Arbeitertheater 1918–1933. Zweite, erweiterte Auflage 1. Band. (Im Folgenden: Arbeitertheater). Berlin 1972, S. 52. – Die genannten Stücke sind "Der Krüppel" von Karl August Wittfogel und "Russlands Tag" von Lajos Barta und dem Kollektiv des Proletarischen Theaters.

[14] Erwin Piscator: Das politische Theater. Berlin 1929, S. 41.

[15] Anonym (G.G.L.): Proletarischen Theater. RF 17.10.1920 (Brauneck, S. 92, 94, 95).

[16] G.G.L.: Proletarischer Sprechchor. RF 2.10.1922 (Brauneck, S. 171/73).

[17] r.n.: Proletarisches Theater. Die Kanaker. Schauspiel in 4 Akten von Franz Jung. RF 13.4.1921 (Brauneck, S. 117 ff.).

[18] Paul Reimann: Zur proletarischen Theaterbewegung. RF 2.8.1922 (Arbeitertheater 1. Band, S. 104 f.).

[19] L.: Die kulturelle Aufklärungsarbeit der Kommunistischen Partei. RF 5.8.1922 (Arbeitertheater 1. Band, S. 105 f.).

[20] G.G.L.: Wallensteins Tod. Erstaufführung in der "Volksbühne. RF 21.12.1920 (Brauneck, S. 105).

[21] Vgl. Der Menschheit Würde. Dokumente zum Schiller-Bild der deutschen Arbeiterklasse. Ausgewählt und eingeleitet von Günther Dahlke. Weimar 1959, S. 261–273.

[22] Georg Lukács: Marxismus und Literaturgeschichte. RF 13.10.1922, S. 178 ff. (Brauneck, S. 177–181).

[23] G.G.L.: Entstehung und Wert der Dichtung. RF 17.10.1922 (Brauneck, S. 184–187).

[24] Georg Lukács: Der Nachruhm Balzacs. RF 26.4.1922 (Brauneck, S.. 143–146); Georg Lukács: Über Hauptmanns Entwicklung. RF 15.6.1922 (Brauneck, S. 154–157); Georg Lukács: Zum zehnten Todestag August Strindbergs. RF 25.6.1922 (Brauneck, S. 157–160).

[25] Karl Kraus: Die letzten Tage der Menschheit. Tragödie in fünf Akten mit Vorspiel und Epilog. Wien, Leipzig 1922 (entstanden 1915–1917, Erstveröffentlichung in der "Fackel" 1918 und 1919, Buchausgabe 1922).

[26] Georg Lukács: Eine Kampfschrift gegen den Krieg der Bourgeoisie. RF 30.3.1923 (Brauneck, S. 187–191).

[27] Paul Reimann: Bürgerliche Literatur und das Proletariat (Rezension zu Max Herrmann-Neiße): Die bürgerliche Literaturgeschichte und das Proletariat. Berlin 1922). RF 22.7.1922 (Brauneck, S. 161–162).

[28] Anonym: Was soll der Proletarier lesen? Franz Jung. RF 23.7.1922 (Brauneck, S. 162–65).

[29] Franz Jung: Die Eroberung der Maschinen. Rote Roman-Serie, Band 9. 1923.

[30] Gertrud Alexander: Die Eroberung der Maschinen. RF 2.6.1923 (Zit. nach Kritik in der Zeit. Fortschrittliche deutsche Literaturkritik 1918–1933. Hg. v. Thomas Rietzschel. Halle Leipzig 1983, S. 302 ff.). – Zur kritischen Sicht auf Franz Jung zu Beginn der dreißiger Jahre siehe P. Br. (Paul Brand): Kleiner Abenteuerfilm. RF 15.6.1932, Nr. 130, S. 10.

[31] Vgl. Johannes R. Becher: Ein Mensch unserer Zeit. In: Neue Bücherschau 6/1929, S. 300 ff.; Johannes R. Becher: Publizistik I 1912–1938 (Gesammelte Werke, Band 15). Berlin und Weimar 1977, S. 210.

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