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Heft 139: 1989 und 1949 - Versuche für ein anderes Deutschland

Mit Beiträgen von Stefan Bollinger, Thomas Falkner und Siegfried Prokop

Heft 139: 1989 und 1949 - Versuche für ein anderes Deutschland

Reihe "hefte zur ddr-geschichte", Heft 139, 2015, 52 S.

Zum Thema 1989 und 1949 – Versuche für ein anderes Deutschland führte die "Helle Panke" e.V. – Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin im Herbst 2014 eine Veranstaltungsreihe durch. Wir bedanken uns bei den Referenten der Veranstaltungen vom 2. Oktober und 2. Dezember 2014 für die Bereitstellung ihrer teilweise deutlich erweiterten Beiträge für den Druck.

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Autoren:

Stefan Bollinger, Dr. sc. phil., Politikwissenschaftler und Historiker, Stellv. Vors. der "Hellen Panke" e.V., Berlin

Thomas Falkner, Dr. rer. pol., Journalist, Politikberater

Siegfried Prokop, Prof. Dr., Historiker, Bernau

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INHALT

Stefan Bollinger
Anmerkungen zu DDR-Geschichte, Hoffnungen, Illusionen und Deutungen

Siegfried Prokop
Die Gründung der DDR – unabdingbare Antwort auf die BRD-Gründung

Thomas Falkner
25 Jahre danach: "In ihrem gegenwärtigen Zustand ist unsere Partei eine Gefahr für das Land" – "Plattform WF" in der SED, November 1989

Stefan Bollinger
Abschied von den Illusionen?
Ein Vierteljahrhundert nach einer gescheiterten Revolutionund einer geglückten Kapitulation

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LESEPROBE

Stefan Bollinger
Anmerkungen zu DDR-Geschichte, Hoffnungen, Illusionen und Deutungen

Kampffeld Geschichte

Geschichte und erst Geschichte des Realsozialismus bleibt Feld der politischen Auseinandersetzung – Identifikation oder Diskreditierung geben die Extrempunkte ab. Derartige Geschichtsschreibung muss nicht unbedingt etwas mit Fakten zu tun haben, Deutungen und Vorurteile, Feindschaften und Freundschaften bestimmen eine solche Betrachtung. Das Problem ist, dass dies nicht Probleme für den Stammtisch oder den Kaffeetisch sind, sondern Fragen, die die politische Auseinandersetzung bestimmen – Geschichte wird zum Argument oder Gegenargument für Zukunftsgestaltung. Während die seriöse Wissenschaft durchaus zu differenzierten und gründlichen Untersuchungen in der Lage ist, die dem Handeln aller Akteure in ihrer eigenen Logik, ihrer Widersprüchlichkeit, Härte und gelegentlichen ideologischen Verblendung gerecht werden will, ist der massenmedial transportierte Ansatz unverändert von einem Schwarz-Weiß-Denken geprägt. Hier die Guten, die Widerständler im Osten, die wohlwollenden Westler, dort die bösen Kommunisten, Stasis, Politikaster. Dieses Bild prägt Dokumentationen wie künstlerische Aufarbeitung, wobei nicht die Abrechnung mit einzelnem Fehlverhalten oder Versagen oder Tyrannei das Problem ist, sondern die bestimmende Tendenz, die an dem zweifelsohne feindlichen System wie in den Hochzeiten kaum ein gutes Haar lässt, es sei denn der Stasi-Spitzel oder Vopo hat sich ein gutes Herz bewahrt.

Eine solche Sicht ist allerdings zwingend für eine Gesellschaft, die übriggeblieben ist aus der Systemauseinandersetzung und die endlich zu ihrer wahren Gestalt finden kann. Sie muss nicht mehr die durch Klassenkämpfe und Systemauseinandersetzung erzwungene Camouflage tragen, sondern kann ihrer Profitgier, ihrem Zwang zur Atomisierung der Gesellschaft, ihrem Expansionstrieb freien Lauf lassen. Es ist wahrlich so, dass nach der 130-jährigen "Episode" einer erfolgreich kämpfenden Arbeiterklasse und eines real existierenden Sozialismusversuchs die menschliche Gesellschaft wieder auf ihren frühkapitalistischen Ausgangspunkt zurückgeworfen ist – nur, dass die Dampfmaschine und der mechanische Webstuhl durch den Computer und das Internet abgelöst wurden. Wahrlich, nun ist "kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen, als das nackte Interesse, als die gefühllose 'bare Zahlung'. Sie hat die heiligen Schauer der frommen Schwärmerei, der ritterlichen Begeisterung, der spießbürgerlichen Wehmut in dem eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt. Sie hat die persönliche Würde in den Tauschwert aufgelöst und an die Stelle der zahllosen verbrieften und wohlerworbenen Freiheiten die eine gewissenlose Handelsfreiheit gesetzt. Sie hat, mit einem Wort", wie Karl Marx und Friedrich Engels zum Beginn jener "Episode" schreiben, "an die Stelle der mit religiösen und politischen Illusionen verhüllten Ausbeutung die offene, unverschämte, direkte, dürre Ausbeutung gesetzt. Die Bourgeoisie hat alle bisher ehrwürdigen und mit frommer Scheu betrachteten Tätigkeiten ihres Heiligenscheins entkleidet. Sie hat den Arzt, den Juristen, den Pfaffen, den Poeten, den Mann der Wissenschaft in ihre bezahlten Lohnarbeiter verwandelt … Alle festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können. Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen. Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel. Überall muss sie sich einnisten, überall anbauen, überall Verbindungen herstellen."(1)
Hier muss eine Gesellschaftsordnung, so unvollkommen, deformiert, missraten oder unglücklich sie war, in Schwierigkeiten gebracht werden, wenn sie diametral zum heutigen Zeitgeist, zu heutiger politisch-ideologischer Hegemonie steht. Der Realsozialismus mit seinem Anspruch auf soziale Gerechtigkeit, soziale Gleichheit, Abschied von Ausbeutung und Profit, seiner eher egalitären Sozialstruktur, seiner verwirklichten, zumindest versuchten Gleichstellung der Geschlechter, der Brechung des Bildungsprivilegs der besitzenden Klassen, seiner Friedenspolitik muss hier stören und bekämpft werden – so wie er einst selbst Produkt einer politischen, einer Klassenauseinandersetzung war.
Dass dabei die gemachten Fehler, Verbrechen, Irrtümer ihm besonders angelastet werden, sollte angesichts der eigenen hohen Ideale und ihres Verfehlens, vor allem aber der praktizierten Kontraposition zum kapitalistischen System nicht verwundern.

Von Neuanfängen und vom Scheitern

Vor jedem Ende steht in der Geschichte ein Anfang, oft verbunden mit den Traumata einer schweren, blutigen Geburt, mit dem Agieren fremder Mächte und übermächtiger Verhältnisse. Aber auch mit Hoffnungen, Erwartungen, der Bereitschaft, etwas Neues, Besseres, Friedlicheres, Gerechteres aufzubauen.
Denn die Deutschen in Ost und West zogen unterschiedliche Konsequenzen aus der Geschichte. 1949 gab es dann zwei deutsche Staaten. Im Osten suchten Provisorische DDR-Regierung und Provisorische Volkskammer nach Wegen für eine demokratische Wiedervereinigung. Zugleich war der neue Staat ein Staat im vom Stalinismus geprägten Ostblock, mit Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschieden zu den anderen Volksdemokratien. Seine Startbedingungen waren im Vergleich zum westdeutschen Pendent schwierig. Schwerwiegende Teilungs-Disproportionen und überproportionale Reparationsbelastung lasteten auf der DDR. Nicht zuletzt prägte die neue DDR der Widerspruch zwischen demokratischer Verfassung und führender Rolle der SED, die gegenüber allen anderen Parteien des Demokratischen Blocks durchgesetzt wurde. Siegfried Prokop zeigt einige dieser Facetten des Beginns auf.[2]

Allerdings: Heute wird Geschichte von ihrem Ende, vom Scheitern her erzählt. Das kann nicht verhindert werden, auch wenn die Suche nach den Anfängen, den Intentionen, eben den Hoffnungen so bedeutungsvoll für das Verständnis der Beweggründe der agierenden Kräfte sein musste.[3]

Im Jahre 2014 hat sich die "Helle Panke" erneut dieser Problematik gestellt. In einer losen Veranstaltungsreihe im Herbst 2014 unter der Überschrift "1989 und 1949 – Versuche für ein anderes Deutschland" haben wir renommierte Autoren und Sachkenner zur Thematik gebeten ihre Überlegungen darzulegen.

Dabei zeigte sich verständlicherweise, auch das Erzählen vom Ende der Geschichte her ist abhängig vom Blickwinkel auf diese Ereignisse, auf die Interessenlagen. Wenn es richtig ist, dass die Masse der DDR-Bürger keinen Kapitalismus wollte, die deutsche Einheit nicht als Tagesziel sah, eine reformierte, demokratisch-sozialistische DDR als erstrebenswert ansah, dann muss nach den Umschlagpunkten gefragt werden. Es ist der Streit um die Schlüsseldaten des Herbstes 1989 – den 4. und den 9. November – jenseits der wohlfeilen Legende vom "Mauerfall", der sich – Schabowski sei dank – eher staatsstreichartig als Maueröffnung gegen die politisierten DDR-Bürger auf der Straße vollzog.[4]

Und es ist zu fragen, ab wann ein anderer – der bundesdeutsche Akteur – in das politische und wirtschaftliche Geschehen in der DDR eingriff und dafür sorgte, dass die angestrebte antistalinistische Revolution für einen besseren Sozialismus nun in einen Umbruch in die Restauration einer, nun zweifellos moderneren, aber immer noch kapitalistischen Ordnung umschlug. Die dann binnen kurzem in einen effektiven Neoliberalismus entartete. Darauf suchte insbesondere Jörg Roesler nach Antworten.[5]

Es ist die Frage nach den Chancen und Grenzen des Reformansatzes für eine erneuerte DDR, nach den Erwartungen an Unterstützung aus dem Osten und Westen, nach der Blauäugigkeit aber auch Alternativlosigkeit des Schielens auf die Hilfe des Klassenfeindes für eine sozialistische Erneuerung. Und es ist der Blick auf die Möglichkeiten und Grenzen politischen Handelns jenseits von Programmen und Blaupausen, der Blick auf die Vergänglichkeit von einst fest gemauerten Positionen und der Fähigkeit zur flexiblen und entschlossenen Wahrnehmung neuer politischen Optionen. In der "Hellen Panke" war dies die Frage nach dem Agieren der oppositionellen Bürgerbewegungen in der DDR-Provinz, jenseits der Hauptstadt Berlin oder Leipzig oder Dresden. Hier traten Ungleichzeitigkeiten auf, war manches schwerer zu beginnen, leichter zu verwirklichen, bevor die autonome, selbstverwaltete Entwicklung im gesamtdeutschen Vereinnahmungsbrei unterging und nur wenige Nachwirkungen blieben.[6]

Im November 1989 scheiterte die realsozialistische Macht des Politbüros unter dem Druck der Bürgerbewegungen und der SED-Opposition. Es gab die kurze, wohl schon aussichtslose Chance des 41. Jahres der DDR für einen demokratisch-sozialistischen Neuanfang. Nicht die Deutsche Einheit, gar eine "Wiedervereinigung" unter bundesdeutscher Ägide, sondern die Verwirklichung eines Sozialismus neuer, demokratischer Art sollte erfolgen. Das war die Erwartung von nicht wenigen Bürgerbewegten, Reformern, vielen Bürgern. Das scheiterte an der Schwäche der linken Kräfte, am Zerfall des Ostblocks und der Sowjetunion und an der massiven Einflussnahme der BRD. Vor allem hatte die andere Seite die stärkeren Argumente – harte DM, funktionierende Wirtschaft, eine vermeintlich unantastbare Sozialpolitik. Der Sieg im Kalten Krieg war so leicht möglich.

Ein Versuch des Neuanfangs hat auf jeden Fall die letzten 25 Jahre überdauert, auch wenn viele ihrer Akteure – ihre Gegner sowieso – mit den Resultaten gerne hadern: Die Umwandlung, Erneuerung der SED zur einer SED/PDS, einer PDS, nun gar gesamtdeutsch einer Partei Die Linke. Thomas Falkner, damals einer der intellektuellen Basisakteure, heute einer, der an Konzepten für die Gegenwart und nahe Zukunft für diese Partei feilt, führt zurück in die bewegten Tage und Wochen, da Genossen begreifen mussten, dass es um ihr Land, um ihre Partei geht und ihnen dies die Politbüromitglieder nicht abnehmen werden.[7]

25 Jahre danach, eine Weltwirtschaftskrise weiter, Zeit der Kriege und Fluchten

Die Geschichte ist nach 1989/91 weitergelaufen, keineswegs an ihr Ende gekommen. Die Kapitulation Gorbatschows in Malta besiegelte scheinbar den Kalten Krieg. Die Enteignung der antistalinistischen Revolutionen in Osteuropa konnte vollendet werden. Gleichzeitig erinnerten sich die USA daran, dass sie der Weltpolizist sein wollten mit gelegentlich aufmüpfigen, aber doch willfährigen Vasallen in Westeuropa und bald auch im neuen Osteuropa jenseits von Oder und Moldau.

Damals, in den "Wende"-Monaten 1989/91 bildete sich ein Typ "friedlicher", "sanfter", "samtener Revolutionen" heraus – die mit dieser Begrifflichkeit und den ersten Resultaten die Methoden, nicht aber die Inhalte beschreiben. Die Veränderung von Eigentumsverhältnissen, die Schaffung entsprechender politisch-rechtlicher Rahmenbedingungen werden dabei zunehmend zu Nebenschauplätzen. Das unterscheidet sie von den einstigen bürgerlichen und dann den sozialistischen Revolutionen. Dabei ist dies eine Täuschung – in der Betrachtung und in der Realität. Nicht zuletzt dank der Veränderungen, die sich aus den gescheiterten und umfunktionierten, ursprünglich prosozialistischen, aber antistalinistischen Revolutionen ergaben. Denn der Systemwandel, der dabei herauskam, war immer ein Prozess der Enteignung der Gesellschaft zugunsten einstiger und neuer Privateigentümer, oft nicht einmal aus dem betreffenden Land, sondern aus jenen Staaten und Konzernen, die nun wesentlich die wirtschaftliche und gesellschaftspolitische Strategie überformen konnten. Heute finden diese "Revolutionen" sowieso nur noch in Ländern kapitalistischer Eigentumsform statt, vielleicht noch mit der besonderen Rolle eines politisch gesteuerten Staatskapitalismus.

Die auf Verstaatlichung verkürzte Vergesellschaftung der Produktion im Realsozialismus sollte aufgehoben werden. Alle Gesellschaftsmitglieder, nicht nur die Staatsbürokratie, sollten nun umfassend partizipieren. Aber die eingeleiteten Reformprozesse führten in Osteuropa nicht zum Entstehen einer sozialistischen Marktwirtschaft mit gemischter Wirtschafts- und Eigentumsstruktur bei Dominanz des gesellschaftlichen (nun allerdings keineswegs nur allein Staats-)Eigentums und einer garantierten politischen Lenkung dieser Wirtschaft. Sondern diese Reformen schlugen parallel mit den politischen Veränderungen – sich gegenseitig befruchtend und beschleunigend – in einen tatsächlichen Wechsel der Eigentumsverhältnisse zugunsten einer – sicher national unterschiedlich gestalteten – kapitalistischen Mischwirtschaft um.

In ganz Osteuropa (und unter etwas anderen Vorzeichen in Ostasien) stellte sich dies als ein Prozess der radikalen Privatisierung dar, der sich nur in der Anfangsphase als Prozess der Volksaktien, Kupons oder Anteilsscheine, also der Individualisierung des Gesellschafts-/Staatseigentums vollzog. In der Praxis wurden Eigentumsrechte an eine neue Klasse von Kapitalisten übertragen, oftmals aus der alten Funktionselite stammend, offenbar nicht selten auch von den alten Machtstrukturen im Interesse nicht des sozialistischen Gesellschaftsüberlebens, sondern des eigenen individuellen Überlebens organisiert. Aber auch sie blieben letztlich oft nur Marionetten eines größeren Spiels des Kapitals. Das Resultat war eine ursprüngliche Akkumulation im Geiste eines Francis Drakes, also eines Piratensystems. Die Privatisierung erfolgte hier oft verbunden mit einer zutiefst kriminellen Praxis und zu Lasten der eigentlichen Mehrheit des arbeitenden Volkes. Dessen nur formales Eigentum war weg und der Anteil am gesellschaftlichen Reichtum, auch nur an regulärer Arbeit und einer funktionierenden Sozialpolitik zerstob für viele.

Wohlgemerkt, die Krise von 1989/91 in den Ostblockstaaten war eine hausgemachte und ihr Abgleiten in eine mehr oder minder radikale kapitalistische Restauration und in Machtverhältnisse, die den bürgerlichen Kräften – unter welchen nationalistischen, populistischen, religiösen Losungen auch immer – Tür und Tor öffnete, waren nur bedingt erfolgreich von außen vorbereitete und gesteuerte Prozesse. Das leninsche Diktum von dem "Niemand und nichts kann uns zu Fall bringen außer unseren eigenen Fehlern"[8] ist für die Vorgeschichte dieser Krise wie für das Handeln der tatsächlichen und zunehmend auch eher vermeintlichen prosozialistischen Kräfte in diesen Auseinandersetzungen zutreffend, wobei das Spektrum der Handlungen, der teilweisen Machtbehauptungen und des Machtverlusts weit gefächert ist.

Aber dieser Blick auf die inneren Ursachen entkräftet die Vorstellung, dass eingeschleuste Agenten oder wütend hetzende Westmedien alleine solche Krisen und Massenbewegungen verursacht haben könnten. Diese Versuche waren während der ganzen Geschichte des Realsozialismus vorhanden.

Folgenschwerer waren das Versagen der jeweiligen Führungen und zumindest die Enttäuschung der einfachen Bürger wie der Funktionseliten, die für sich keinen anderen Ausweg mehr sahen. Aber natürlich bleibt diese Außeneinwirkung, die sich nicht allein auf Hetze und Manipulation beschränkte, die oft die materiellen Wertmaßstäbe vorzugeben in der Lage war und die auch für reale Bedrohungen und Einflussnahmen sorgte. Sie konnten trefflich Katalysatoren innerer Widersprüche abgeben.

Aber all diese Umbrüche haben wesentliche Gemeinsamkeiten – in der Bestimmung einer tatsächlich notwendigen gesellschaftlichen Veränderung weg von der Allmacht einer Partei, deren Macht- und Wahrheitsmonopol, der geringen demokratischen Ausgestaltung der Gesellschaft, der weitgehend unflexiblen Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, einer übersteigerten Sicherheitspolitik, einem generell paternalistischen Staats- und Gesellschaftsverständnis.

Es waren Umbrüche, die parteiinterne Reformer und Wendehälse, vorausschauende Intellektuelle und eben politisierte, sich organisierende Basisbewegungen, Bürgerbewegungen, hervorbrachten. Aus einer oftmaligen Doppelherrschaft dieser Bewegungen auf der Straße und der vermeintlich noch regierenden Kommunisten gingen letztere als Verlierer hervor. Dies nicht zuletzt, weil sie aus Angst, Einsicht oder eigenem Reformeifer Machtpositionen räumten in Erwartung eben jenes demokratischen, pluralen Sozialismus oder auch eines aufgeklärten Kapitalismus, welche die neue Ordnung verkörpern sollten. In dieser Gesellschaft erwarteten sie für sich einen politischen und persönlichen Gestaltungsspielraum zu behalten.

Allen Beteiligten war klar und sie hielten sich daran: Es sollte ein Wandlungsprozess sein – vielleicht mit Ausnahme Rumäniens und den Besonderheiten der nationalen Erhebungen auf dem Balkan, im Baltikum und im Kaukasus –, der jenseits der Schwelle eines großen Konflikt mit den Unwägbarkeiten der Blockkonfrontation und damit einer nuklearen Katastrophe friedlich und zivilisiert vollzogen sein sollte. Das Betonen des friedlichen, gewaltlosen Charakters dieser Umbrüche blendet allerdings aus, dass auch ökonomische Gewalt, mediale Verunglimpfungen und Attacken, dass rechtliche Strukturen Veränderungen erzwingen und Verlierer leiden lassen. Und dies jenseits aller anfänglichen Euphorie. Auch wenn in Osteuropa im Herbst 1989 zunächst kaum Blut floss, spätestens die Zerfalls- und Neuformierungsprozesse im Ex-Jugoslawien zeigten, welchen Sprengstoff solche Konflikte haben.

Eine Hoffnung

Dieses letzte Jahr der DDR mit seiner Basisdemokratie, einer politisierten Gesellschaft, einer sich reformierenden kommunistischen Partei schien jene Erwartungen und Hoffnungen wiederzubeleben, die nach der Befreiung vom Faschismus Antifaschisten unterschiedlicher politischer Herkunft für ein neues Deutschland motiviert hatten. Diese doppelte Erfahrung – und auch die Erfahrung ihrer Enteignung einst durch die Besatzungsmächte in Ost und West und eine stalinistisch geprägte SED – wie nun durch das bundesdeutsche Sendungsbewusstsein des "Nun regieren wir" gehört trotzdem der Linken, kann Kraftquell sein. Ohne den Blick auf die Anfänge vier Jahrzehnte zuvor werden allerdings schwerlich Antworten zu finden sein.

[1] Karl Marx/Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei. In: dies: Werke. Bd. 4. Berlin 1959, S. 464 f.
[2] Siehe seinen Beitrag im vorliegenden Heft.
[3] Ich habe mich als Autor und als Herausgeber wiederholt ausführlich zum Thema 1989/90 geäußert: Stefan Bollinger: 1989 – eine abgebrochene Revolution. Verbaute Wege nicht nur zu einer besseren DDR? Berlin 1999; ders. (Hrsg.): Das letzte Jahr der DDR. Zwischen Revolution und Selbstaufgabe. Berlin 2004; ders.: Als die Verhältnisse tanzen lernten. Kalenderblätter einer abgebrochenen Revolution zwischen Herbst 1989 und Frühjahr 1990. hefte zur ddr-geschichte. H. 89. Berlin 2004; ders.: Der missglückte Neuanfang 1989/90. Die DDR zwischen antistalinistischer Revolution und kapitalistischer Vereinnahmung. KONTROVERS – Beiträge zur politischen Bildung. H. 3/2009. Berlin 2009.
[4] Zum Nachvollziehen der politischen Stimmung in der "Opposition" in der DDR bis 1989 eignet sich besonders: Christian Sachse (Hrsg.): "Mündig werden zum Gebrauch der Freiheit". Politische Zuschriften an die Ökumenische Versammlung 1987–1989 in der DDR. Münster 2004. Zum Stimmungsbild in den entscheidenden Monaten siehe zeitgenössisch: Peter Förster/Günter Roski: DDR zwischen Wende und Wahl. Meinungsforscher analysieren den Umbruch. Berlin 1990. Zu den Stimmungswandlungen unter der Jugend siehe: Walter Friedrich/ Peter Förster/Starke, Kurt (Hrsg.): Das Zentralinstitut für Jugendforschung Leipzig 1966–1999. Geschichte, Methoden, Erkenntnisse. Berlin 1999.
[5] Siehe Jörg Roesler: Vom Partner zum Adoptivkind. Der Wandel in der Haltung der Bundesregierung zur DDR im Verlauf der Herbstrevolution (November 1989 bis Februar 1990). hefte zur ddr-geschichte. H. 133. Berlin 2014.
[6] Siehe "Helle Panke" e.V. – Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin (Hrsg.): Herbst 1989 in der DDR-Provinz. Fallbeispiele: Pritzwalk, Halberstadt und Gotha. hefte zur ddr-geschichte. H. 137. Berlin 2015. Mit Beiträgen von Alexander Amberger, Sebastian Stude, Renate Hürtgen und Matthias Wenzel.
[7] Siehe seinen Beitrag im vorliegenden Heft.
[8] Wladimir I. Lenin: II. Gesamtrussischer Verbandstag der Bergarbeiter. Referat über die Rolle und die Aufgaben der Gewerkschaften in der Sitzung der kommunistischen Fraktion des Verbandstages. 23. Januar [1921]. In: ders.: Werke. Bd. 32. Berlin 1982, S. 44.

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