Publikationen

Suchmaske
Suche schließen

Heft 204: Gegen den Krieg! Für den Sozialismus?

Arbeiterbewegung und linke Intellektuelle gegen den Ersten Weltkrieg. Materialien einer Konferenz

Von: Marcel Bois, Stefan Bollinger, Julian Nordhues, Gisela Notz, Marga Voigt

Heft 204: Gegen den Krieg! Für den Sozialismus?

Reihe "Pankower Vorträge", Heft 204, 2016, 58 S.

--------------------------------------------------------------------------

INHALT

Stefan Bollinger
Vorbemerkung

Stefan Bollinger
Krieg – Frieden – Sozialismus und das Ringen um eine neue Partei

Julian Nordhues
Kriegskritische Auseinandersetzung mit dem Ersten Weltkrieg. Themen und Motive

Marga Voigt
Frauen, worauf wartet ihr noch?

Marcel Bois
Netzwerke der Antikriegslinken. Einige Überlegungen zur Rolle von informellen Gruppen während des Ersten Weltkriegs

Gisela Notz
"Genug des Mordens!"
Linke Frauen gegen den Krieg – und für eine sozialistische Gesellschaft

--------------------------------------------------------------------------

LESEPROBE

Stefan Bollinger

Vorbemerkung

Vor einhundert Jahren, 1916, begann mit der 1. Mai-Kundgebung auf dem Potsdamer Platz in Berlin, der Verhaftung Karl Liebknechts und den folgenden politischen Streiks die gärende Unzufriedenheit mit dem Krieg in der deutschen Arbeiterbewegung offen auszubrechen. Gleichzeitig ging die Formierung einer linken politischen Opposition gegen die Kriegspolitik der Regierung und den Burgfrieden der SPD in eine neue Phase. Auch wenn viel zur politischen Auseinandersetzung mit dem Ersten Weltkrieg geleistet worden ist, sollte dieser zentrale Zusammenhang auf dem Weg zu den Revolutionen von 1917 und 1918/19 noch einmal auf dieser Konferenz nachdrücklich in den Mittelpunkt gerückt werden.

Diesen Fragen hatte sich bereits 100 Jahre nach Auslösung des Ersten Weltkriegs eine Konferenz unter dem Leitmotiv "Erster Weltkrieg, 'Urkatastrophe' und Widerstand"[1] zugewandt. Wir waren mit dieser Konferenz der Auffassung, dem Räsonieren über vermeintliche Kriegsanlässe, Versäumnisse, dem "Schlafwandeln" von Politikern und dem Ausblenden der sozialökonomischen Ursachen für Kriege den Widerstand gegen den Krieg entgegensetzen zu müssen.

Denn Antikriegspolitik ist nicht zuletzt zentral für linke Politik in der Gegenwart. Aber es stellt sich die Frage, wieweit Antikriegspolitik auch Politik für die Überwindung der kapitalistischen Ordnung sein musste (und muss). Daran schieden sich nicht nur zwischen 1914 und 1918 die Geister. Revolution als Ausweg: Gegen die eigene Regierung – so die Antwort der radikalen Linke um Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg, Clara Zetkin, Franz Mehring u.a. im Spartakus-Bund, erst recht der russischen Bolschewiki eines Wladimir Iljitsch Lenin. So die Antwort der Revolutionäre. Die reformorientierte Linie vieler Sozialdemokraten um Friedrich Ebert und Philipp Scheidemann, die des Kaisers Ruf "Ich kenne keine Parteien mehr, nur noch Deutsche!" ernst nahmen und demokratisch und links interpretierten: Die Chance des Kriegs nutzen für eine Demokratisierung des Kaiserreiches und den staatstragenden Weg in eine bessere Gesellschaft. Das war die Hoffnung der Mehrheitssozialdemokraten, die in Kauf nahmen, dass sich der Antikriegsflügel der Partei um Liebknecht und Luxemburg, später auch Hugo Haase, Georg Ledebour, Luise Zietz u.a., die sich ab 1917 in der USPD wiederfanden, die Traditionspartei verließen bzw. aus ihr verstoßen wurden. Diesem Konflikt, seinen subjektiven, aber vor allem objektiven Bedingungen suchte diese Konferenz nachzugehen.

In der Konferenz standen zentrale Lehren jenes ersten Großen Krieges, der ausgelöst wurde trotz einer klaren Antikriegsposition der europäischen Linken, trotz hochtrabender Beschlüsse etwa der Internationalen Sozialistischen Kongresse in Stuttgart 1907 und Basel 1912. Die Sozialdemokratie versprach, alles zu unternehmen, um den Krieg zu verhindern. Die Realität ist bekannt.[2] Zwar wurden die Friedensschwüre noch Stunden vor den ersten Kriegshandlungen in Berlin und Paris wiederholt, trafen sich dort linke Parteiführer. Aber rasch sahen loyale und staatstragende Sozialdemokraten – bis auf die der russischen Partei – ein, dass die wie auch immer manipulierten Argumentationen ihrer Regierungen auch linkes Handeln zu bestimmen hätten: "Vaterlandsverteidigung" war die Parole.

Allerdings, so übermächtig dieses Umschwenken auf die Linie von Großbourgeoisie und Großgrundbesitzer, von Politik und Militär war, so hartnäckig widerstanden Teile der Linken dieser Versuchung, Anerkennung von der falschen Seite zu bekommen und freudigen Herzens ihr Leben auf dem Altar des Vaterlandes in den Schützengräben zu opfern.

Die Referentinnen und Referenten wandten sich unterschiedlichen Fragestellungen zu, die in der Gesamtschau allerdings ein durchaus aussagefähiges Mosaik unter der gewählten Themenstellung der Konferenz ergaben.

Stefan Bollinger (Berlin) suchte in seinen Überlegungen einen übergreifenden Blick zu eröffnen, der ausgehend von Zimmerwald und Kienthal zu den Notwendigkeiten einer revolutionären Lösung der Frage Krieg oder Frieden führen konnte. Ein konsequenter Zusammenschluss dieser radikalen Linken war für ihn die einzige erfolgversprechende Strategie, die sich von der abwartend, angepassten Linie auch inzwischen nachdenklich gewordener Sozialdemokraten etwa in der deutschen SPD abhob, die aber nur die Spaltung der Partei in Kauf nahmen und letztlich vor der letzten Konsequenz zurückschreckten.

Ralf Hoffrogge (Berlin) entwickelte ausgehend von seinen gründlichen Studien zur Biografie von Werner Scholem[3] eine Auseinandersetzung um die Kriegserinnerungen dieses jüdischen Kommunisten und des kriegsbegeisterten Konservativen Ernst Jünger. Dabei zeigte er den scharfen Kontrast von Kriegsverherrlichung und strikter Antikriegsausrichtung, aber auch die unerwartet gemeinsamen Elemente, die mit ihrer Gewalterfahrung und ihrem "Fronterlebnis" verknüpft waren. Diese führten sie letztlich in gegnerische politische Lager.

Anregend war der Beitrag von Marcel Bois (Hamburg), der über Netzwerke der deutschen Linken während des Ersten Weltkriegs referierte. Mit den Verweis auf den methodischen Ansatz der Netzwerk-Theorie arbeitete er an drei Beispielen heraus, wie unterschiedliche linke, friedensorientierte künstlerische und politische Milieus zur Formierung einer Antikriegsbewegung beitrugen. Bei ihnen handelte es sich teils um Freundschaftsgeflechte, teils um rein politische Zusammenhänge. Sie unterschieden sich von Organisationen und Parteien vor allem dadurch, dass sie informell aufgebaut waren. Es gab keine offizielle Mitgliedschaft, kein Organisationsstatut und keine gewählte Führung. Dennoch agierten diese Zusammenhänge durchaus im politischen Feld, wie Bois erklärte. Er exemplifizierte dies an dem "Eisbrecher"-Kreis, einem linken Netzwerk in der (Berliner) SPD; dem Kreis um die von Franz Pfemfert aufgebaute Antikriegszeitschrift "Aktion" und dem Netzwerk in der Marine, das die Matrosenbewegung von 1917 initiierte und den gescheiterten Flottenaufstand vom Juli 1917 vorbereitet hatte.

Marga Voigt (Berlin) stellte in den Mittelpunkt ihrer Ausführungen die Berner Friedenskonferenz der Sozialistinnen gegen den Krieg und die aktive Rolle Clara Zetkins in diesem Ringen. Voigt spitzte zu: "Die Geschichte der Berner Friedenskonferenz der Sozialistinnen ist mindestens so spannend wie die Geschichte der Sozialisten-Internationalisten in Zimmerwald, Kiental und Stockholm. Sie gehört ausführlich erzählt: Wer sagt, dass Leidenschaft nur eine emotionale Seite hat. Hat sie nicht ebenso eine geistige, ethische und sittliche Seite? Sind Leidenschaft wie Wissenschaft nicht beide gleichermaßen unentbehrlich für gesellschaftlichen Zusammenhalt? Wenn auseinander driftet, was zusammengehört? – Mann und Frau, Heim und Straße, Stadt und Land, die Güter, Geschichten und Kulturen der Welt?"

In eine ähnliche Richtung argumentierte Gisela Notz (Berlin). Sie erinnerte an die handlungsorientierte Rolle von Frauen gegen den Krieg, als Betroffene und politisch bewusste Persönlichkeiten. Linke Frauen gegen den Krieg – und für eine sozialistische Gesellschaft wurden von ihr an den Beispielen unterschiedlicher Frauenpersönlichkeiten in der Linken exemplifiziert. Dabei zeigte sie, dass viele dieser Proteste gegen den Krieg aus frauenspezifischen Situationen heraus sich entwickelten und erst in der Konsequenz politisch wurden. Viele Frauen fanden den Weg in die Antikriegsparteien der Linken jenseits der MSPD. Trotzdem hatte die Spaltung der Linken Konsequenzen. Nach dem Krieg war die sozialistische Frauenbewegung trotz des errungen Frauenwahlrechts schwächer und zerstrittener als vor 1914.

In seinem Beitrag setzte Julian Nordhues (Berlin) einen Kontrapunkt zu Hoffrogges Ausführungen, in dem er an kriegskritische Auseinandersetzung mit dem Ersten Weltkrieg – Themen und Motive erinnert. Erich Mühsam, Theodor Wolff, Karl Kraus und seine "Fackel", Alfred Hermann Fried entwickelten eine pazifistische Kritik am Krieg, die bis weit in die Weimarer Republik hinwirkte.

Stefan Bollinger

Krieg – Frieden – Sozialismus – und das Ringen um eine neue Partei

25 Jahre "Helle Panke" sind Teil der neueren deutschen Geschichte. Entgegen der Erwartungen mancher beendete der Untergang der DDR und des Ostblocks nicht die Zeiten von Konfrontation und Krieg, verschob nur die Grenzen dieser Auseinandersetzungen. Es wurde keine erhoffte Friedensdividende eingefahren, das vermeintlich so friedvolle Europaversprechen erwies sich nur als eine neue – mit langen Wurzeln – Form der Hegemonie nicht zuletzt seitens des deutschen Imperialismus, der nun statt mit Panzern mit harter DM und nicht so hartem Euro als Partner der scheinbar unangefochtenen Hegemonialmacht USA in Europa sein Geschäft besorgte.

An die Stelle der Systemkonfrontation zwischen Realsozialismus und Realkapitalismus brachen nationalistische Konflikte auf und wurden jene Staaten versucht zu disziplinieren, die sich nicht völlig der westlichen "Wertegemeinschaft" unter US-Ägide unterwarfen.

Ihre ersten Schritte ging die "Helle Panke" zu Zeiten der Kriege im sich auflösenden Jugoslawien und des ersten Weltordnungskrieges nach dem Ende der Blockkonfrontation, dem 2. Golfkrieg 1990/91. Seither sind Krieg und Frieden, sind Friedensbewegung und linke Alternativsuche Dauerthemen geblieben, nur dass der linke Widerstand in einer mehr und mehr unübersichtlich scheinenden Zeit schwächer geworden ist. Immer waren die vermeintlich historischen Fragestellungen sehr praktisch-politisch. Denn einst wie heute dreht sich alles um die Frage, wie sich Linke zu den meist wohlbegründeten, "nur" im Interesse der Freiheit, der Demokratie und der Menschenrechte erfolgenden Kriegshandlungen positionieren. Gehen sie der herrschenden Klasse auf den Leim, übernehmen sie deren wohlfeile Argumente oder halten sie dagegen. Sind sie bereit, sich gegen die Kriegspolitik des eigenen Landes und seiner Verbündeten zu stellen, sind sie bereit, dafür auch die Konsequenzen zu tragen – derzeit noch weit weniger risikovoll als 1914 – oder passen sie sich staatstragend an. Letztlich bleibt die Haltung zu jedem dieser Kriege und zu den Militärblöcken, d.h. heute der NATO und der sich mittlerweile auch militärisch gerierenden EU. Das ist heute die Quintessenz aller Streitereien mit und in der Linken, zuallererst der Partei Die.Linke über Regierungsfähigkeit und mögliche Koalitionen auf Bundesebene.

***

Als vor zwei Jahren unsere Konferenz "Erster Weltkrieg, 'Urkatastrophe' und Widerstand"[4] sich mit dem Widerstand gegen die Kriegstreiberei vor dem Krieg und im Ersten Weltkrieg beschäftigte, waren wir in der damaligen Weltkriegsdiskussion ein durchaus früher Teil einer linken Interpretation dieses ersten der großen, der imperialistischen Kriege. Das Herausstellen, dass dieser Krieg nicht naturgesetzlich und gottgegeben war, dass viele Arbeiter, Linke, auch Bürgerliche ihn nicht akzeptierten, dass er Widerstandsaktionen auslöste und schließlich dieser Antikriegskampf die Politik der meisten Staaten entscheidend beeinflusste war ein bewusster Kontrapunkt zur großen Hype, die um diesen Krieg recht überraschend entfacht wurde.

Um Popularität hundert Jahre danach mussten sich die Könige, Präsidenten, Generale, Soldaten, auch die einfachen mitleidenden Zivilisten des Völkerringens, der "Urkatastrophe" des 20. Jahrhunderts, nicht sorgen. Eine Bücherflut überschwemmte den Markt, hunderte Stunden Filmdokumentationen bereicherten das Fernsehprogramm. Nur, kritische Fragen, geschweige denn Antworten gab es wenig. Es wurde von London bis Moskau der Beitrag der jeweiligen Armeen gewürdigt, Niederlagen, Verluste, verpasste Chancen für einen größeren Sieg beklagt.

Vor allem aber – und dies besonders auf dem deutschen Bücher- und Medienmarkt wirksam und mit Autoren der einstigen Feindstaaten untermauert – wurde der Krieg seiner sozialen Dimension, seiner sozioökonomischen Ursachen entkleidet als das "Schlafwandeln" der damaligen Führer und der ihnen willig Folgenden beschrieben. Bestenfalls wurde in einzelnen Publikationen daran erinnert, dass dieser Zivilisationsbruch nicht frei von Widerstand blieb, aber das waren Randthemen der breiteren medialen Geschichtsklitterung.

Kritische, linke historisch Interessierte arbeiteten sich vor allem an den Attacken Clarks und Münklers über den aus sich selbst erklärenden Krieg, die verpassten Siege und die Ablehnung der Fischerschen These von dem "Griff nach der Weltmacht" ab. (5) Und sie wandten sich in einer Reihe von Konferenzen wie der in der "Hellen Panke" und Publikationen im RLS-Stiftungsverbund[6] jener Seite des Krieges zu, die für die Linke wohl die entscheidende ist – dem Umgang mit dem Krieg durch die Arbeiterbewegung, ihren Parteien und Aktivisten, nicht zuletzt die einfachen Arbeiterinnen und Arbeiter. Sie leitete nicht nur historisches Interesse, sondern die Sorge um die aktuelle Politik der Gegenwart und die Rolle der Linken in ihr oder gegen sie.

Dies ist eigentlich folgerichtig, denn eine linke, kritische, gar marxistisch beeinflusste Geschichts- und Politikbetrachtung muss fragen, wer diesen Krieg verursacht hat, welche sozioökonomischen Mechanismen wirkten und welche Interessen seine Auslösung verantworteten. Das aber musste sich zumindest aus deutscher Sicht an dem Fischer-Kontroverse-Revival festmachen, denn Fritz Fischer hatte vor genau 50 Jahren erstmals wirksam im bürgerlichen Lager diese Frage aufgeworfen: Und er hatte das Deutsche Reich, seine Eliten, seine Grundbesitzer, seine Industrie dafür zu allererst, wenn auch nicht allein verantwortlich gemacht.[7]

Das mag auch für manche linken Diskutanten etwas platt sein, weil sie wissen, dass dieser Krieg in den Einsichten Lenins oder Luxemburgs oder Liebknechts ein allseits imperialistischer war. Sie entdecken, dass auch in der aktuellen Diskussion des Jahres 2014 die Kriegsziele und -interessen anderer Mächte, etwa Großbritanniens oder Russlands, näher untersucht worden sind. Und siehe da, die waren auch nicht unschuldig. Das hatten allerdings kritische Gesichtsuntersuchungen wohl auch in der Vergangenheit nicht bestritten. Hinsichtlich der Rolle Russlands mag man an keinen Zufall glauben, wenn die Auseinandersetzungen um das heutige Russland in den Blick geraten, aber sei es drum.

Imperialismus heißt mit Lenin so oder so, dass dem damaligen Kapitalismus das Ringen um die Neuaufteilung der Welt als Konsequenz des Übergangs zum Monopolkapitalismus, zur Profitmacherei, Expansion und Aggression in ihren vielfältigen Formen wesenseigen ist. Dass dies nicht nur vor 100 Jahren auch die militärische Komponente einschloss, gehört zu den Kerneinsichten hinsichtlich eines modernen Kapitalismus.

Deutschland blieb da der Zuspätkommende als Spätentwickler des 19. Jahrhunderts, aber die anderen wollten natürlich nicht abgeben und waren an Zugewinn jederzeit interessiert. Linke Geschichtsanalyse darf aber auch beachten, welche Rolle heute bestimmte Mächte spielen und sie ist sicher auch verpflichtet, zuallererst vor der eigenen Haustüre zu kehren, zumal dort gerade das Ganze als zerschlagen betrachtete Geschirr eines Fischers hingeworfen wurde – sicher nicht zum Wohle einer differenzierten Geschichtsschreibung, keineswegs zum Nutzen einer Antikriegspolitik.

Die andere Frage, der sich linke, kritische Historiker stellen müssen ist die nach den Trägern dieser Interessen nicht allein in den herrschenden Klassen, sondern nach den Interessenlagen derjenigen, die unmittelbar recht wenig von neuen Rittergütern und Erzgruben, ja nicht einmal von neuen Grenzen etwas haben. Wenn Reichskanzler Theobald von Bethmann-Hollweg in seinen Memoiren über die politisch herzustellende Grundkonstellation für eine erfolgreiche Kriegsführung aus Sicht der Herrschenden seine Folgerungen zieht, dann ist dem aus linker Sicht wenig hinzuzufügen: "Unmittelbar konnte der Krieg und die Kriegführung nur durch die unteren Schichten gefährdet werden. Wohl war die Entschlossenheit mit der sich bei Kriegsausbruch auch die Sozialdemokratie der Verteidigung des in feinen unendlichen Werten nun erkannten Heimatstaates gestellt hatte, ganz echt gewesen, von keinem Opportunismus und keiner Gefühlswallung des Momentes verfälscht. Viel zu systematisch und fest aber war ihren Massen der Klassenhass eingehämmert, als dass nicht ein Umschlag drohte, wenn unter dem Druck eines langen Krieges die trotz aller feindlichen Ablehnung ideologisch festgehaltenen Vorstellungen von internationaler Solidarität gegen die Erfüllung nationaler Pflichten ankämpften, gleichzeitig aber eine Politik der Reaktion alte Kränkung über erlittene Verfehmung neu reizte, Argwohn und Misstrauen gegen den Staat und die herrschenden Klassen frisch belebte. Die von sozialdemokratischen Partei- und Gewerkschaftsführern mir unausgesetzt betonte Notwendigkeit politischer Zugeständnisse entsprach gewiss auch parteipolitischen Zielen. In der Hauptsache aber war sie der Ausfluss der in den wirklichen Zuständen begründeten Besorgnis, sonst die Autorität über die Parteigefolgschaft zu verlieren. Mittel äußerer Gewalt konnten wohl in vereinzelten Ausnahmen missgeleitete Leidenschaften bändigen, niemals aber wankende Volksmassen bei Vaterlandsgeist erhalten. Offene und vertrauensvolle Heranziehung zum Staate versprach Erfolg."[8]

Das war 1914 erfolgreich geglückt in einem beispiellosen Coup, der die antirussischen, antizaristischen Ressentiments der Sozialdemokratie unter das Banner von Demokratie und Freiheit stellte und so ihren – nun wieder aus Sicht der westlichen Entente – despotischen Kaiser für diesen Krieg unterstützen ließ.

Mit Blick auf Deutschland, aber auch auf die anderen westlichen Staaten ist die Konstellation unmissverständlich: Der ganze Zeitraum von 1914–18 ist durch diesen politischen Kompromiss der SPD gekennzeichnet, durch ihre bedingungslose Bereitschaft für ein fernes Demokratieziel schon jetzt staatstragend Reformpolitik anzustreben und die Kriegspolitik massiv jetzt zu unterstützen. Entsprechend agierte die Mehrheitssozialdemokratie in allen Situationen gegen jeden Widerstand, schloss die immer größer werdende Schar von Kriegs- und zunächst Kriegskreditgegner aus der Fraktion aus, nahm die Bildung der Sozialdemokratischen Arbeitsgemeinschaft und dann der USPD hin und war sich mit den Staatsorganen in der Bekämpfung linker Aufrührer vor allem in Gestalt der Spartakisten und dann der russischen Maximalisten sehr wohl einig. Das verhängnisvolle Bündnis mit der Obersten Heeresleitung in den Novembertagen 1918 und die Bereitschaft, die Revolution der deutschen Arbeiter und Soldaten abzuwürgen in einer demokratisch verfassten Republik ohne Bruch der sozialen und Eigentumsstrukturen, ohne Abschied von der reaktionären politischen und militärischen Machtstruktur waren die Folge.

Es war sicher Zufall, dass die Jubiläen 2014 mit einer weltpolitischen Konstellation zusammenfielen, die für manche Beobachter mit der vor 100 Jahren am Vorabend des Kriegsbeginns erhebliche Ähnlichkeiten aufwiesen. Es waren ähnliche Konfliktherde wie damals – im südöstlichen und östlichen Europa sowie im Nahen Osten, zumal in Regionen, die erst im Gefolge des Ersten Weltkriegs jene staatlichen Strukturen erhielten, die Grundlage für die heutigen sind – gebrochen allerdings durch die Wenden von 1945 und 1989. Vor allem war und ist es eine Situation, in der nicht die eine ersehnte Supermacht – die USA mit ihren Gefolgsleuten – die Welt dominiert, sondern in einer wieder multipolaren Welt mit mehreren Großmächten wie zugleich kleineren Staaten, die ihre eigenen Rechte anmelden.

Krieg ist in der latenten Krise auf dem Balkan, in der Ukraine-Krise, im Kurdenkonflikt in der Türkei und in den durch Bürgerkriege und Terrorismus zerrissenen Staaten des Nahen Ostens zurückgekehrt. Selbst im Fernen Osten zündelt es – auf der koreanischen Halbinsel ebenso wie im Südchinesischen Meer. Hier müsste sich ähnlich wie ab 1914 eine Linke positionieren, die eine breite Antikriegsbewegung zumindest mittragen, zumal – hier wieder der Fokus auf die Bundesrepublik – dieses Land in all diesen Regionen in der einen oder anderen Weise engagiert ist. Allerdings in Gestalt der Truppenentsendung und der massiven Rüstungsexporte zunehmend auch militärisch – oftmals im Kontrast zu den wortreichen friedens- und verhandlungspolitischen Gesten und Aktivitäten.

Dabei waren und sind es offenbar immer wieder zumindest drei zentrale Aufgaben, um eine solche Bewegung zu finden, zu motivieren und zu organisieren. Erstens, das jeweilige Lügengespinst zu zerreißen, reale Zusammenhänge und Verantwortlichkeiten auch mit all ihren Widersprüchen aufzeigen und Rechtfertigungsideologien, egal, ob steifer Nationalismus oder vermeintlich supranationaler Europagedanke, entlarven. Das bedeutet zum zweiten, den Charakter des Krieges jenseits aller vermeintlichen Vaterlandsverteidigung aufzudecken, den Krieg als imperialistischen Krieg zur Durchsetzung eigener wirtschafts- und machtpolitischer Interessen herausarbeiten. Und es heißt zumindest drittens Gegenstrategien zu entwickeln und Bündnisse dafür zu schmieden. Das wird zuallererst die klare Trennung von jenen Parteien und Organisationen bedeuten müssen, die sich für diesen imperialistischen Krieg mit welch wohlfeilen Begründungen auch immer einfangen lassen.

Es fällt nach dem Untergang des Realsozialismus und der kommunistischen Linie der Weltpolitik vielen schwer, sich in die Konfrontationslogik einer Linken vor 100 Jahren zurückzuversetzen. Linke sind geschockt von den Fehlern und Verbrechen, die im Namen des Sozialismus in den stalinistisch oder maoistisch geprägten realsozialistischen Staaten verübt wurden, sie sehen vor allem die Staatsfixiertheit, die Demokratiedefizite, überzogenen Kollektivismus in den realsozialistischen Staaten, die auch nach Überwindung der terroristischen Phasen nicht abgeschüttelt werden konnten. Diese Deformationen widersprechen den Einsichten in eine durch Demokratie und die allseitige Akzeptanz der Menschenrechte sich verstehenden sozialistischen Gesellschaft. Einmal abgesehen davon, wie historisch konkret diese Fehlentwicklungen entstanden, warum diese Versuche einer alternativen Gesellschaft nicht in den westlichen Metropolen begannen, sondern in der rückständigen, halbasiatischen Peripherie Russlands – all diese Betrachtungen müssen offensichtlich auf die Grundkonstellationen des großen Schismas, des Bruchs, der Spaltung der Arbeiterbewegung zurückgeführt werden.

Und dieser stellte sich als Bruch mit den heiligen Versprechungen der internationalen Sozialistenkongresse von Stuttgart und Basel, ja selbst der Friedensschwüre noch in den letzten Julitagen 1914 dar. Bis auf die bolschewistische Partei in Russland und Bulgariens Engsozialisten mochte in der Stunde der Gefahr für das geliebte Vaterland sich kein "guter" sozialdemokratischer Führer der nationalen Verantwortung der Vaterlandsverteidigung entziehen. Kriegsgegner blieben zunächst auf Jahre Außenseiter, potentielle Verräter, wurden geschnitten und gemaßregelt von den eigenen Genossen.

Was scherte das Versprechen, mit allen Mittel gegen den Krieg vorzugehen, die politische Konfrontation zu suchen, wenn Sozialdemokraten als gute Patrioten mehr oder minder sich in eine staatstragende Rolle begeben konnten. Letztlich fielen sie alle um und begriffen dies keineswegs als Verrat an den eigenen Zielen, sondern als Fortsetzung ihrer kühnen Reformpolitik, die über die bestehende Ordnung hinauszuweisen sollte. Nun konnten sie noch im Kriege einige Punkte machen, setzten aber vor allem auf die Versprechungen des kommenden Friedens – möglichst in einem siegreichen Lande. Genau dieser Bruch war schwer zu verkraften, brachte radikalere Linke wie Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Franz Mehring, Clara Zetkin in der deutschen Partei ins politische Abseits, weil auch viele der einfachen Genossen und Arbeiter die Positionen ihrer burgfriedensfreundlichen Parteiführer und die Politik, den Krieg ihres Reiches mittrugen.

Es ist bezeichnend, dass die schrittweise anwachsende Unzufriedenheit, schließlich die erneute Politisierung der Arbeiter, oft beginnend in den Brotschlangen der Arbeiterfrauen, die zunehmende antimilitaristische, gar mehr und mehr revolutionäre Stimmung ihre Zeit brauchte, nach ersten Streiks und Kundgebungen erst ab 1916 und dann massiver ab 1917 wirksam wurde. Es waren keine Reaktionen auf Niederlagen und große Zusammenbrüche von Fronten. Der Krieg – außer im Osten – verlief an den meisten Fronten ausgewogen. Aus heutiger Sicht ist der Weltkrieg weder mit den Bewegungsschlachten des 19. Jahrhunderts noch mit dem Zweiten Weltkrieg vergleichbar. Nur das beständige Verbluten der eigenen Soldaten und die Verschlechterung der Lebenslage mit Kohlrüben, Hunger und Kälte, mit der Auspressung an der Heimatfront, nicht zuletzt der Frauen, schuf jenes Klima, das für Aufbegehren fruchtbar wurde.

Auf der politischen Ebene taten sich die Linken und Kriegsgegner schwer, mit der eigenen Partei zu brechen. Hier sei an den mühseligen Weg hin zur Ablehnung der Kriegskredite erinnert, für die zunächst nur ein aufrechter Abgeordneter stand – Karl Liebknecht. Kompliziert war vor allem die parteipolitische Trennung, gerade weil die uns besonders teuren Linken um Liebknecht und Luxemburg sich lange mit dem Spartakusbund schwer taten, eigene Wege zu gehen.

Hier ist auf die Katalysatorwirkung der internationalen sozialistischen Konferenzen von Zimmerwald 1915 und Kienthal 1916 zu verweisen, letztere zum Zeitpunkt unserer Konferenz genau vor 100 Jahren und zwei Wochen. Sie machten bei allen Differenzen deutlich, dass Antikriegskampf zwingend ist, dass es um einen imperialistischen Krieg geht, in dem die Vaterlandsverteidigung für Linke keine Option sein kann und es darauf ankommt, diesen Krieg letztlich revolutionär zu überwinden.

Auch wenn sich Lenin und die Bolschewiki nicht vollständig durchzusetzen vermochten waren sie doch die Weichensteller für die organisatorische Trennung von der verrotteten Sozialdemokratie, waren sie jene, die die revolutionäre Lokomotive anzuheizen vermochten. In den Konferenzen zum 100. Jahrestag von Zimmerwald wird betont, dass die radikale Linke um Lenin ja nicht allein und in erster Linie für diese Weichenstellung stehe, dass die Säuberung der Stalinära wichtige Akteure zu toten Unpersonen machte und dass die vielfältigen Positionen der Linken eine genauere Untersuchung verdienten.[9]

Nur, all dies ändert eben nichts daran, dass die Geschichte zunächst Lenin und seiner Bolschewiki recht gab: Eine radikale Antikriegspolitik heißt Überwindung des Kapitalismus. "Gibt es auf dem Boden der kapitalistischen Gesellschaft keine Möglichkeit, einen dauerhaften Frieden herzustellen, so werden dessen Voraussetzungen durch den Sozialismus geschaffen", betont die Kienthaler Resolution. "Der Sozialismus, der das kapitalistische Privateigentum aufhebt, beseitigt mit der Ausbeutung der Volksmassen durch die besitzenden Klassen und mit der nationalen Unterdrückung zugleich die Kriegsursachen. Der Kampf für den dauerhaften Frieden kann daher nur im Kampf für die Verwirklichung des Sozialismus bestehen."[10] Lenin, nebenbei bemerkt auch Liebknecht, hatten längst noch radikaler formuliert, dass der Hauptfeind im eigenen Land steht. Lenin trieb in dem Moment, da Palastrevolution und eine spontan begonnene bürgerlich-demokratische Revolution in Russland zumindest Demokratie versprach, aber nicht den Krieg beenden mochte, tatsächlich und praktisch wohlorganisiert zur Umwandlung des imperialistischen Krieges in eine sozialistische Revolution. Es war eine Revolution im Doppelsinn gegen "Das Kapital". Die Tür der Weltgeschichte wurde aufgestoßen, es gab Chancen, es gab Notwendigkeiten einer Verlagerung des revolutionären Schwerpunkte in zivilisiertere Gegenden, aber es gab auch über sieben Jahrzehnte eine widersprüchlich, aber keineswegs nur von den Intentionen abweichenden Weg zu einer gesellschaftlichen Alternative zum Kapitalismus und gegen den Krieg. Ein Weg, der nicht zu Ende gegangen wurde ...

[1] "Helle Panke" e.V. – Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin (Hrsg.): Erster Weltkrieg, "Urkatastrophe" und Widerstand. Materialien einer Konferenz mit Beiträgen von Stefan Bollinger, Ralf Hoffrogge, Simon Loidl, Helmut Meier, Gisela Notz, Michael Pesek, Axel Weipert. Hrsg. "Helle Panke" e.V. – Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin. Pankower Vorträge. H. 189. Berlin 2014.
[2] Ich habe das ausführlich beschrieben in: Stefan Bollinger: Weltbrand, "Urkatastrophe" und linke Scheidewege. Fragen an den "Großen Krieg". Berlin 2014.
[3] Siehe Ralf Hoffrogge: Werner Scholem. Eine politische Biographie. Konstanz 2014.
[4] Dokumentiert in: "Helle Panke" e.V. – Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin (Hrsg.): Erster Weltkrieg, "Urkatastrophe" und Widerstand. Materialien einer Konferenz mit Beiträgen von Stefan Bollinger, Ralf Hoffrogge, Simon Loidl, Helmut Meier, Gisela Notz, Michael Pesek, Axel Weipert. Hrsg. "Helle Panke" e.V. – Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin. Pankower Vorträge. H. 189. Berlin 2014.
[5] Siehe Christopher M. Clark: Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog. München 2013; Herfried Münkler: Der Große Krieg. Die Welt 1914 bis 1918. Berlin 2013.
[6] Siehe hier Bernd Hüttner (Hrsg.): Verzögerter Widerstand. Die Arbeiterbewegung und der Erste Weltkrieg (= Rosa-Luxemburg-Stiftung Manuskripte Neue Folge. Bd. 14). Berlin 2015.
[7] Das Schlüsselbuch: Fritz Fischer: Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/18. Königstein/Ts. 1979, 2. A. [1967, 1. A.].
[8] Th[eobald] von Bethmann-Hollweg: Betrachtungen zum Weltkriege. 2. Teil: Während des Krieges. Berlin 1921, S. 33/34.
[9] Siehe z.B. Christiane Reymann/Wolfgang Gehrcke (Hg.): Linke und die Friedensfrage. Beiträge der Tagung Linke und die Friedensfrage. 100 Jahre nach der Zimmerwalder Konferenz: Imperialismus heute – Differenzen verstehen, Spaltungen überwinden. In: Rote Blätter. Berlin. H. 1 (2016); Hans Hautmann: Zimmerwald 1915. Ausgangspunkt für die Umwandlung des Krieges in die Revolution. Mitteilungen der Alfred Klahr Gesellschaft. Wien. H. 3/2015, S. 11–17; ders.: Kienthal 1916 und Österreich. Ausgangspunkt für die Umwandlung des Krieges in die Revolution. In: ebd. H. 1/2016, S. 1-8.
[10] Ausgeführt in: Angelica Balabanoff: Die Zimmerwalder Bewegung 1914–1919. Frankfurt/M. 1969, S. 42.

  • Preis: 4.00 €