Von: Guntolf Herzberg
Reihe "hefte zur ddr-geschichte", Heft 146, 2017, 40 S.
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Aus Anlass der weit fortgeschrittenen Wolfgang-Harich-Gesamtausgabe seiner Werke hat der Autor die in ungeahntem Ausmaß vorliegenden, zumeist bislang unveröffentlichten Texte einer würdigenden und kritischen Sicht unterzogen, um das bisher bekannte Werk Harichs nach vielen Seiten zu ergänzen. Er ist der Auffassung, dass mit dieser hier vorgestellten Edition Wolfgang Harich einen ihm bisher verwehrten Platz in der inzwischen untergegangenen DDR-Philosophie auf Dauer bekommen hat.
Im politisch aufregenden Jahr 1956 XX. Parteitag der KPdSU mit der sogen. Geheimrede Chruschtschows, den Veränderungen in Polen, dem Volksaufstand in Ungarn hat es auch in der DDR Diskussionen und Forderungen nach politischen und kulturellen Veränderungen gegeben. Die wohl am stärksten in der Erinnerung gebliebenen Ereignisse sind die Publizierung der Plattform für einen besonderen deutschen Weg zum Sozialismus von Wolfgang Harich und die anschließenden Prozesse.
Am 29. November 1956 ist Wolfgang Harich verhaftet worden, am 6. Dezember Walter Janka. Ihre unterschiedlichen Biographien, ihre politischen Vorstellungen und Ziele, ihr Zusammentreffen im Aufbau-Verlag, die angespannte politische Lage nach der Geheimrede Chruschtschows, die Pläne und Handlungen von Janka und Harich, ihre Festnahme usw., schließlich ihr Leben nach der Haftentlassung bis zu ihrem Tode das alles wird neben den Fakten in einen konsistenten Zusammenhang gebracht.
Die in diesem Heft veröffentlichten Texte basieren auf durchgesehenen und ergänzten Manuskripten mehrerer Vorträge des Autors, u.a. im Berliner Brecht-Haus, in Bützow und in einer Veranstaltung der Hellen Panke e.V. vom 19. Januar 2017.
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Autor: Dr. Guntolf Herzberg, geb. 1940, Philosoph, zahlreiche Veröffentlichungen zur DDR-Philosophie
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INHALT
Wolfgang Harich eine philosophische Wiederentdeckung
Schwierigkeiten mit der Wahrheit
Walter Janka und die Gruppe Harich
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LESEPROBE
Guntolf Herzberg
Wolfgang Harich eine philosophische Wiederentdeckung
In diesem Vortrag geht es um die Vorstellung eines Lebenswerkes. Zur Person sage ich nur das nötigste, aus dem einfachen Grunde, weil es bereits drei Biographien gibt von ihm selbst den Ahnenpaß (1999), von Prokop Ich bin zu früh geboren (1997) und von Anne Harich die geradezu liebenswerten Erinnerungen Wenn ich das gewußt hätte ... (2007). Im Folgenden steht das Werk in seiner ungeahnten Ausdehnung und mit ihm auch ein Mann im Mittelpunkt: Andreas Heyer, der sich dieser Riesenaufgabe unterzogen hat, in etwa 11 Bänden den Nachlass und die heute kaum auffindbaren frühen Veröffentlichungen uns bestens erläutert geradezu zu schenken und damit der im ganzen mittelmäßigen DDR-Philosophie einen unverhofften nachträglichen Höhepunkt an Geistigkeit zu geben.
Es gab einige wirkliche Denker in der vierzigjährigen Existenz der Philosophie jenes Staates als Gast von außen Georg Lukács in Budapest, dessen Bücher bis 1956 die kulturell interessierte und bedürftige Nachkriegsgeneration gebildet und erzogen haben (mich allerdings fehlleiteten), in Leipzig war es Ernst Bloch, der auch nur bis 1956 die dortige philosophische Jugend in Vortrag und kultischen Büchern faszinierte (parteiamtlich gesprochen: verdarb), Georg Klaus in Berlin mit seinen den marxistisch-leninistischen Trott und Schlendrian aufmischenden Werken zur Erkenntnistheorie, Logik, Sprachphilosophie und Kybernetik, Wolfgang Heise mit seinem durchdringenden kritischen Verstand und der nie recht bekanntgewordene Friedrich Bassenge, der auf vielen Gebieten philosophisch genau durchdachte Thesen und Theoreme entwickelte. Doch der erste, der im Nachkriegs-Berlin die vertriebenen Geister des freien Denkens, der Aufklärung, der Humanität zurück in die zerstörte Stadt holte und seit Anfang der fünfziger Jahre damit die erste Berliner Studentengeneration aufklärte, humanisierte und begeisterte, war eben Wolfgang Harich und dieses Wirken oder Werk soll jetzt vorgestellt werden.
Beginnen möchte ich aber mit ein paar aufhellenden früheren Beobachtungen, die auf mich sehr irritierend wirkten:
Am 2. Januar 1965 begann ich im Dekanat der Philosophischen Fakultät der Humboldt-Universität mit meiner ersten Anstellung nach dem Studium als wissenschaftlicher Sekretär des Dekans, meines Vorbildes Wolfgang Heise. Doch der Dekan kam nicht, weder an diesem ersten Arbeitstag noch überhaupt, er trat das Amt nicht an. So saß ich an einem riesigen leeren Schreibtisch und wusste nicht, was meine Aufgabe sei, was ich tun könnte. So öffnete ich die Schreibtischtüren, um zu sehen, was mein Vorgänger mir hinterlassen hatte. Es war überraschend: in der untersten und hintersten Ecke fand ich ein Paket es war die Dissertation von Harich und der Beschluss der Fakultät, ihm seinen 1951 verliehenen Doktortitel abzuerkennen. (Und es war kein Plagiatsfall!) Zweite Beobachtung: Harichs Edition der zweibändigen Herder-Biographie von Rudolf Haym erschien noch in der ersten Auflage 1954 mit seiner großen Einleitung, doch in meinem Exemplar von 1958 (dieselbe Auflage) war sie komplett entfernt. Dritte Beobachtung: Das Doppelheft 5/6 der Deutschen Zeitschrift für Philosophie (DZfPh) von 1956 Chefredakteur war Harich erschien erst im Februar des darauffolgenden Jahres, mit einem neuen Chefredakteur, und es fehlten einige Artikel: von Bloch, von Bassenge, und auch von Harich nämlich Über das Verhältnis des Marxismus zur Philosophie Hegels, und sein weiterer Beitrag für diese Zeitschrift (Heft 4) Zur Frage der Weiterentwicklung des Marxismus kam über einen unveröffentlichten Fahnenabzug nicht hinaus. Grund: Harich saß in der Haft für acht Jahre. Doch auch nach 1989 wurde ein weiterer Harich-Text unterdrückt: Ich traute meinen Augen kaum, als ich Prokops Harich-Biografie las und darin auf 29 geschwärzte Seiten stieß wieder ein Text zu Hegel von 1952. Diesmal war es nicht die SED oder das MfS, die das unterdrückten, sondern horribile dictu jemand, die alle Rechte besaß, auch dazu. (Ich gebe zu, dass es auch Exemplare davon ohne Schwärzungen gibt.)
Wozu diese Beobachtungen? Nicht nur bei mir gab es Erwartungen und Gründe, diese unterdrückten, versteckten oder geschwärzten Texte endlich kennenzulernen und so sind wir bei den jetzt vorliegenden Bänden angelangt, die ich nun vorstellen möchte.
I.
Niemand von Ihnen wird hoffentlich den Wunsch haben, dass ich alle bisher erschienenen sieben Bände und den bereits fertigen Band 8 hier Text für Text vorstelle das wären bis jetzt etwa 5200 Seiten einschließlich der sehr reichlichen und ausführlichen Vor-, Nach- und Zwischenworte des Herausgebers. Gelesen habe ich fast alles, doch ich werde nicht den ganzen Abend über Harichs Logikauffassung, über seine umfangreichen Texte zu Hegel, zu Kant
oder Herder sprechen alles kluge Texte, die Sie trotzdem in ihrer Masse langweilen könnten.
Was ich vorstellen möchte:
Einen von zwei Texten des Gymnasiasten aus den frühen vierziger Jahren,
einen Blick auf die in der Gesamtausgabe bisher veröffentlichten philosophischen Texte, ohne ins Detail zu gehen,
einen Eindruck, was er in seinen Vorlesungen an der Humboldt-Universität den Studenten mitgab,
etwas Besonderes: seine Gefängnisschriften,
seine Texte zur Logik,
schließlich seine hier vorliegenden politischen und ökologienahen Schriften der siebziger und achtziger Jahre.
Das scheint mir eine gute Verteilung zu sein. Man könnte noch ein Kapitelchen einfügen: Harich als Plagiator und wen er da abschreibt oder plündert in seinen Logik-Beiträgen: Nicolai Hartmann, in den Vorlesungen zur Antike: Karl Vorländer, zur deutschen Aufklärung: Herrmann Hettner, zu Hegel: Georg Lukács doch das lasse ich mal weg.
Weglassen muss ich zwei außerhalb der Gesamtausgabe erschienene engagierte wie hoffnungslose Versuche Harichs, die marxistische Philosophie wissenschaftlich zu modernisieren durch die kritische Implementierung der Ontologie seines ersten Lehrers Nicolai Hartmann.