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Heft 46: Der utopische Imperativ

Herbert Marcuse, 1968 und die Neue Linke

Von: Alexander Neupert-Doppler

Heft 46: Der utopische Imperativ

Reihe "Philosophische Gespräche", Heft 46, 2017, 40 S.
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Der vorliegenden Publikation liegt die Textfassung des Vortrages von Dr. Alexander Neupert-Doppler zugrunde, den er in der Veranstaltungsreihe der „Hellen Panke“ e.V. „Utopia 500 – Utopie(n) gestern, heute, morgen“ am 12. Dezember 2016 gehalten hat.
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Autor:
Dr. Alexander Neupert-Doppler
geb. 1981, studierte Politik, Geschichte und Philosophie in Osnabrück, wo er 2013 mit einer Arbeit zur Kritik des „Staatsfetischismus“ promoviert wurde. Er verfasste mehrere Aufsätze zum Thema Utopiebewusstsein und veröffentlichte 2015 sein Buch "Utopie – Vom Roman zur Denkfigur", in dem er eine Konstellation zum Begriff des utopischen Bewusstseins entwirft. 2017 erscheint der Band „Kapitalismus und Opposition“, welcher Vorlesungen von Herbert Marcuse aus dem Jahre 1974 enthält, die Alexander Neupert-Doppler und Lisa Doppler übersetzt haben. Für 2018 ist die Herausgabe eines Sammelbandes „Konkrete Utopien 2018“ geplant.
Neupert-Doppler arbeitet als Bildungsreferent bei der Sozialistischen Jugend – Die Falken in Hannover.
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INHALT

Alexander Neupert-Doppler
Der utopische Imperativ.
Herbert Marcuse, 1968 und die Neue Linke


Einleitung
1. Das Utopische – ein historischer Imperativ
2. Die Versteinerung des Sozialismus
3. Wissenschaft und Technologie
4. Künstlerische Einbildungskraft
5. Entfremdung in der Arbeitswelt
6. Die Wurzeln der Herrschaft
7. Der subjektive Faktor: Sensibilität und emanzipierte Bedürfnisse
8. Utopie in Bewegung
Literatur
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LESEPROBE

Der utopische Imperativ:
Herbert Marcuse, 1968 und die Neue Linke


Einleitung

Herbert Marcuse (1898–1979), der heute als Philosoph der 68er gilt, war vom 10. bis 13. Juni 1967, zwei Wochen nach der Erschießung des Studenten Benno Ohnesorg am Rande einer Demonstration gegen den Besuch des iranischen Schahs, zu einer Vortragsreihe in Berlin. Eingeladen vom Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) hielt er zwei Vorträge, zum 'Ende der Utopie' und zum 'Problem der Gewalt', und beteiligte sich an zwei Podiumsdiskussionen über 'Macht und Politik in der Überflussgesellschaft' und Vietnam bzw. 'Die Opposition in den Metropolen'. Er besprach Themen und entwarf Thesen, die für die Konstitution der damaligen Neuen Linken in der Bundesrepublik Deutschland richtungsweisend waren. Für die heutige radikale Rest-Linke im deutschsprachigen Raum, die zwar noch in der Tradition der außerparlamentarischen Bewegungen der 1960er, 1970er und 1980er Jahre steht, aber in den 1990ern, 2000ern und 2010ern unter völlig anderen Bedingungen agiert, stehen Gewaltfrage und Überflussgesellschaft nicht mehr im Zentrum. Die nationalen Befreiungsbewegungen gegen den Kolonialismus und die bewaffnete Selbstverteidigung der Schwarzen in den USA, die Marcuse im Blick hatte, waren teilweise erfolgreich oder wurden zerschlagen. Das Verhältnis zwischen Metropolen und Peripherie, zwischen kapitalistischen Zentren und den Ländern des globalen Südens, beschäftigte die globalisierungskritischen Bewegungen der 2000er. Es handelt sich aber nicht mehr nur um Überflussgesellschaften hier und Ausbeutungsregime dort. Ging es bei dem von Marcuse so genannten Neo-Kolonialismus noch darum, dass die Industrieländer Rohstoffe importieren, um Waren zu exportieren, so hat sich die Globalisierung des Kapitals weiter entwickelt.
Mit dem Zusammenbruch des Staatssozialismus entsteht das Weltkapital, wie es der Theoretiker Robert Kurz (1943–2012) genannt hat. Die Produktion selbst wird transnational. „Insofern findet Kapitalexport jetzt (auf der realökonomischen Ebene) vor allem zu dem Zweck statt, die bereits vorhandenen Produktionskapazitäten von Kosten zu entlasten und immer billiger produzieren zu lassen.“ (Kurz 2005: 85). 90 Prozent aller Waren, die heute weltweit verbraucht werden, haben Seewege hinter sich, sagte Heide Gerstenberger am 1. Juni 2017 in Hannover. Zugleich wirkt der globale Konkurrenzdruck auch in den Industrieländern als Sozialabbau der 1990er und 2000er gegen Marcuses integrierte 'Überflussgesellschaft' der 1960er.
Im Juni 2017, in dem 50 Jahre nach Marcuses Vorträgen in Berlin diese Broschüre verfasst wird, schlägt sich die Rest-Linke, im sowohl parlamentarischen als auch außerparlamentarischen Sinne, nach der Krise des Neoliberalismus mit dem Erstarken eines neuen Rechtsautoritarismus herum. Das in den letzten Jahren häufig beklagte Fehlen einer wirklichen Alternative, einer sozial(istisch)en Utopie führt uns zurück zu Herbert Marcuse und seinen Überlegungen von 1967.
Was meint Marcuse 1967 mit dem Ende der Utopie? Zunächst bezeichnet er damit keinen Mangel im politischen Bewusstsein, sondern ein Potential im gesellschaftlichen Sein. „Wenn die materiellen und intellektuellen Kräfte für die Umwälzung technisch vorhanden sind, obwohl deren rationale Verwendung durch die bestehende Organisation der Produktivkräfte verhindert wird […] können wir heute in der Tat von einem Ende der Utopie reden.“ (Marcuse 1967/1980: 12) Einerseits benutzt Marcuse hier noch einen aus der Alltagssprache bekannten abwertenden Utopiebegriff. Dieser speist sich ideengeschichtlich aus der Abwertung der literarischen Roman-Utopie, wie sie nach Thomas Morus (1478–1535) für die Zeit zwischen Renaissance und Aufklärung typisch war, deren Traditionslinie aber bis heute anhält.
Für Karl Marx (1818–1883) und Friedrich Engels (1820–1895) bezeichnete Utopie in ihrem 'Manifest der Kommunistischen Partei' von 1848 nicht mehr nur ein literarisches Genre, bei ihnen steht der „kritisch-utopistische Sozialismus“ (MEW 4: 489) für die Theorien und Projekte ihrer Vorgänger, allen voran Robert Owen (1771–1858) und Charles Fourier (1772–1837), deren Siedlungssozialismus sie als unwissenschaftlich und unrevolutionär verwarfen. Bemerkenswerterweise stehen hier aber weniger deren Ziele als ihre friedlichen Mittel in der Kritik. Über diesen ideengeschichtlichen Umweg wird aus der Utopie als literarischem Gattungsbegriff zunächst eine Bezeichnung für frühsozialistische Siedlungsutopien, später die Gesellschaftsutopie. (vgl. ausführlich Neupert-Doppler 2015) Auch Marcuse steht 1967 noch in dieser Tradition. „Utopie ist ein historischer Begriff; er bezieht sich auf Projekte gesellschaftlicher Umgestaltung, die für unmöglich gehalten werden.“ (Marcuse 1967/1980: 10)
Allerdings deutet sich hier bereits die Verwendung eines anderen Utopiebegriffs an, wenn Marcuse mit Bezug auf „Automation“ und technischen Fortschritt nicht mehr von Unmöglichkeit spricht, sondern genau umgekehrt von entstehenden „'utopischen' Möglichkeiten“ (ebd.: 14). Diese Verwendung richtet sich nun genau gegen die Identifikation von Utopischem und Unmöglichem. „Dieses Ende der Utopie […] heißt die Widerlegung jener Ideen und Traditionen, denen der Begriff der Utopie zur Denunziation von geschichtlich-gesellschaftlichen Möglichkeiten gedient hat.“ (ebd.: 9) Marcuse selbst schwankt in seinem Beitrag von 1967 zwischen einem ideologischen Utopiebegriff als Bezeichnung für Unmögliches und einem kritischen Utopiebegriff für Mögliches. Wie Peter-Erwin Jansen gezeigt hat, stiftet Marcuse hier zwar „Verwirrung“ (Jansen 2006: 38), schlägt aber auch einen Weg ein, der in der Betonung der neuen, historischen Möglichkeiten liegt. „In 'Das Ende der Utopie' verwirft Marcuse zwei begriffliche Varianten des Utopiebegriffs und stellt mit dieser Kritik seinen Begriffsersatz für Utopie heraus, der sich ab Mitte der sechziger Jahre stark an Blochs Gedanken einer 'konkreten Utopie' anlehnt.“ (ebd.: 37) Konkrete Utopie, bei Bloch wie Marcuse, meint nun nichts anderes als die subjektive Erkenntnis objektiver Möglichkeiten.
Für die folgenden Überlegungen zu einer Kritischen Theorie des Utopischen bei Marcuse ist dieser Hinweis fruchtbar. Einen schönen Beleg für diese Perspektive bietet die Rede Marcuses, die er 1968 in Anwesenheit von Bloch beim Kongress der jugoslawischen Zeitschrift 'Praxis' in Korcula hielt. „Ich freue mich und bin stolz darauf, daß ich heute in der Gegenwart von Ernst Bloch sprechen kann, dessen Werk 'Geist der Utopie', das vor mehr als vierzig Jahren erschien, zumindest meine Generation beeinflußt und das gezeigt hat, wie realistisch utopische Konzepte sein können, wie eng verbunden mit dem Handeln, mit der Praxis.“ (Marcuse 1970: 12)
Lässt sich in diesen Jahren 1967/1968 noch keine eindeutige Verwendungsweise des Utopiebegriffs bei Marcuse nachweisen, so bestätigen vor allem seine Werke aus den späten 1960er und 1970er Jahren Jansens These. Dies ist sicherlich durch die Erfahrung der weltweiten Protestbewegung der späten 1960er Jahre und die Entstehung der Neuen Sozialen Bewegungen in den 1970ern geprägt, die Marcuse solidarisch begleitet. Seine Wertung, die teilweise im Kontrast zu seinen pessimistischeren Annahmen aus 'Der eindimensionale Mensch' von 1964 steht, zeigt sich besonders deutlich in seinem 'Versuch über die Befreiung' von 1969:
„Die Dynamik der Produktivkräfte beraubt die 'Utopie' ihres traditionellen unwirklichen Gehalts; was als 'utopisch' gebrandmarkt wird, ist nicht mehr das, was 'keinen Ort' hat und im historischen Universum auch keinen haben kann, sondern vielmehr das, was durch die Macht der etablierten Gesellschaften daran gehindert wird, zustande zu kommen.“ (Marcuse 1969, in GS 8: 244) Spätestens hier ist Marcuse ganz bei Blochs Utopiebegriff, der 1964 im Radiogespräch mit Theodor W. Adorno den Wandel des Utopiebegriffs pointiert nachzeichnet. „Die Utopisten, vor allem des 18. und 19. Jahrhunderts, Fourier und Saint-Simon, verlegen das Wunschland ja mehr in die Zukunft, ein Wandel also des Topos aus dem Raum in die Zeit. Bei Thomas Morus noch war das Wunschland fertig, auf einer fernen Insel, nur ich bin nicht dort. Im anderen Fall, wenn es in die Zukunft verlegt wird, bin nicht nur ich nicht dort, sondern es selbst ist nicht bei sich; es gibt diese Insel gar nicht. Aber sie ist nicht etwa Nonsens oder schlechthin Schwärmerei, sondern sie ist noch nicht im Sinne einer Möglichkeit, daß es sie geben könnte, wenn wir etwas dafür tun.“ (Bloch 1964, in TLU: 352) Theodor W. Adorno stimmt Bloch zu, es sei „die eine Gestalt der theoretischen Gestalten der Utopie, für die ich sicher nicht zuständig bin und du, soweit ich es übersehen kann, auch nicht, daß man konkret sagen würde, was bei dem gegenwärtigen Zustand der Produktivkräfte der Menschheit möglich wäre.“ (Adorno 1964, ebd.: 364) Marcuse hingegen sieht sich für diese Frage nach utopisch geleiteter Praxis als zuständig an.

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