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Heft 212: Das Echo der russischen Revolutionen (Teil 1)

Russland von innen und von außen (1917–1922)

Von: Stefan Bollinger, Karl-Heinz Gräfe, Mario Keßler

Heft 212: Das Echo der russischen Revolutionen (Teil 1)

Reihe "Pankower Vorträge", Heft 212, 2017, 60 S.

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Zum Thema Das Echo der russischen Revolutionen fanden 2017 eine Konferenz und Abendveranstaltungen der "Hellen Panke" e.V. – Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin statt, aus denen in 3 Heften von den Referenten und Diskussionsrednern bearbeitete Beiträge hier veröffentlicht werden.

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Autoren (Heft 212)
Stefan Bollinger
Dr. sc. phil., Politikwissenschaftler und Historiker, stellv. Vors. der "Hellen Panke" e.V., Berlin

Karl-Heinz Gräfe
Prof. Dr., Historiker, Freital

Mario Keßler
Prof. Dr., Historiker, Berlin/Potsdam/New York

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Weitere Hefte (in Vorbereitung)

Heft 213
Das Echo der russischen Revolutionen (Teil 2)
Von Deutschland bis Lateinamerika – Eine Welt im Umbruch 1917–1922
Beiträge: Marcel Bois, Stefan Bollinger, Hans Hautmann, Stefan Rinke, Reiner Tosstorff, Marga Voigt

Heft 214
Das Echo der russischen Revolutionen (Teil 3)
Russische Revolutionen – für Frieden, Demokratie und Sozialismus
Autor: Stefan Bollinger

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INHALT (Heft 212)

Stefan Bollinger
Für den Frieden, um jeden Preis
Zu Deutungen der russischen Revolutionen 1917 und ihren unmittelbaren Auswirkungen

Karl-Heinz Gräfe
Die Russländische Revolution und ihre Ausbreitung in den multiethnischen Randgebieten (1917–1922)

Mario Keßler
Intellektuelle zwischen den Welten
Vier Russland-Berichte aus dem Jahr 1920

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LESEPROBE

Stefan Bollinger

Für den Frieden, um jeden Preis
Zu Deutungen der russischen Revolutionen 1917 und ihren unmittelbaren Auswirkungen

I.

Ein gutes Vierteljahrhundert nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus bleibt die Verortung dieser Epoche des versuchten Übergangs vom Kapitalismus zu einer sozialistischen Gesellschaft immer noch eine offene Frage. Nachdem viel über das Ende des Ostblocks, der Sowjetunion, der DDR und der anderen Staaten diskutiert und geschrieben wurde und zumeist mit dem Wissen und dem apodiktischen Urteil aus der mehr oder minder kläglichen Endzeit die vorhergehende Geschichte be-, meist ver-urteilt wird, ist der genauere Blick auf die Anfänge, die Ausgangsbedingungen und die ererbten Lasten für ein Urteil hilfreich.

Dabei geht es nur bedingt um ein "gerechtes" Urteil der Nachgeborenen über das Vergangene. Es geht vielmehr um die nüchterne Sicht auf das, was war, warum es so war, wie es werden sollte und was daraus werden konnte. Schon in den russischen Auseinandersetzungen vor und vor allem im 1917er Jahr sorgten sich die gemäßigten Linken, genauso gute Marxisten wie Lenin und seine Bolschewiki, um die Chancen der Revolution in einem Land, das noch nicht einmal einen ausprägten Kapitalismus aufzuweisen schien. Schnell waren Friedrich Engels` warnende Worte von den zu früh gekommenen Revolutionären bei der Hand. "Es ist das Schlimmste, was dem Führer einer extremen Partei widerfahren kann, wenn er gezwungen wird, in einer Epoche die Regierung zu übernehmen, wo die Bewegung noch nicht reif ist für die Herrschaft der Klasse, die er vertritt, und für die Durchführung der Maßregeln, die die Herrschaft dieser Klasse erfordert ... Er findet sich so notwendigerweise in einem unlösbaren Dilemma: Was er tun kann, widerspricht seinem ganzen bisherigen Auftreten, seinen Prinzipien und den unmittelbaren Interessen seiner Partei; und was er tun soll, ist nicht durchzuführen. Er ist, mit einem Wort, gezwungen, nicht seine Partei, seine Klasse, sondern die Klasse zu vertreten, für deren Herrschaft die Bewegung gerade reif ist. Er muss im Interesse der Bewegung selbst die Interessen einer ihm fremden Klasse durchführen und seine eigne Klasse mit Phrasen und Versprechungen, mit der Beteuerung abfertigen, dass die Interessen jener fremden Klasse ihre eignen Interessen sind. Wer in diese schiefe Stellung gerät, ist unrettbar verloren."[1]

All diese Streite durchziehen die russischen Diskussionen seit Ausgang des 19. Jahrhunderts, begleiteten die gescheiterte Revolution von 1905/07 und erlebten in den angespannten Apriltagen 1917 ihre Neuauflage. Lenin und die Bolschewiki, letztere teilweise auch erst nach längerem Widerstand und notwendiger Überzeugungsarbeit, gingen an die politische Situation so heran, wie sie stand: Der Zar war gestürzt, es gab basisdemokratische Sowjets und eine Regierung bürgerlicher Politiker, die entgegen den Forderungen der Straße und entgegen den Zielen der Sowjets den Krieg an der Seite der Entente fortsetzen wollten und umfassende sozialökonomische Veränderungen auf die lange Bank schoben. Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit, Vereinigungsfreiheit machten Russland zum demokratischsten Land unter den kriegführenden Nationalen, aber brachten in den drängendsten Fragen keine Lösung.

Wohl nicht nur damals stellte sich die Frage, was Demokratie leisten kann, wenn sie zwar Wahlen, neue Regierungen, neue Politikergesichter ermöglicht, aber in den grundsätzlichen Fragen wenig oder nichts bewegt. Die Sowjets schienen damals für viele politisierte Arbeiter, Soldaten und Bauern ein neues demokratisches Instrument zu sein, das zumindest die unmittelbaren Interessen dieser Gruppen zu artikulieren vermochte und die unmittelbare Rückkopplung durch permanente Rechenschaftslegung, Rechtfertigung und die mögliche Abwahl der gewählten Deputierten anders zu lösen schien als parlamentarische Vertretungskörperschaften. Denn in denen waren die Abgeordneten vermeintlich ihrem Gewissen, meist eher ihrer Fraktion und nicht unbedingt dem Wähler gegenüber verpflichtet. Vor allem boten die Sowjets die Möglichkeit, auch jene Bereiche direkt – und nicht nur vermittelt über die staatlichen, regionalen oder kommunalen Entscheidungsebenen dort zu beeinflussen, wo die Arbeiter, Soldaten oder Bauern unmittelbar mit den lebensnotwendigen Fragen, den Klassenkonflikten konfrontiert waren: dem Betrieb, dem Regiment, der Dorfgemeinschaft.

In diesem Kontext ist es nicht verwunderlich, dass Lenin auf dem I. Gesamtrussischen Sowjetkongress im Juni 1917 ein Plädoyer für eine neue, sozialistische Demokratie hielt, dass er die Sowjets der parlamentaristischen Schimäre gegenüberstellte: "Denn vor dem Gesamtrussischen Kongress der Sowjets von revolutionärer Demokratie zu sprechen und das Wesen dieser Körperschaft, ihre klassenmäßige Zusammensetzung und ihre Bedeutung in der Revolution zu vertuschen, kein Sterbenswörtchen davon zu sagen, gleichzeitig aber auf die Bezeichnung Demokrat Anspruch zu erheben, das ist sonderbar." Für Lenin hat diese bürgerlich-demokratische Umwälzung keine ihrer Aufgaben erfüllt, so erfreulich die nun möglichen demokratischen Spielregeln, die Wahlmöglichkeiten, die Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit wohl auch von ihm anerkannt wurden und die er für die bolschewistische Politik auch zielgerichtet nutzte. Aber Veränderungen der Eigentumsverhältnisse, tatsächliche Machtausübung durch die Arbeiter und Bauern, die Verbesserung der Versorgungslage, vor allem aber ein sofortiger Frieden, gar ohne Annexionen und Kontributionen? All dies blieb uneingelöst.[2]

Bissig setzte er seine Kritik fort: "Man entwirft uns das Programm einer bürgerlichen parlamentarischen Republik, wie sie seit jeher in ganz Westeuropa anzutreffen ist, man malt uns ein Programm von Reformen aus, die jetzt von allen bürgerlichen Regierungen, auch von unserer, anerkannt werden, und gleichzeitig redet man von revolutionärer Demokratie. Wem wird das gesagt? Den Sowjets. Nun aber frage ich Sie, gibt es in Europa ein Land, ein bürgerliches, demokratisches, republikanisches Land, in dem etwas vorhanden wäre, was diesen Sowjets gleicht? Sie werden darauf mit Nein antworten müssen. Nirgends existiert, nirgends kann eine derartige Körperschaft existieren, denn eins von beiden: entweder eine bürgerliche Regierung mit jenen Reform'plänen', die man uns entwirft und die dutzendemal in allen Ländern vorgeschlagen wurden und auf dem Papier geblieben sind, oder jene Körperschaft, an die man jetzt appelliert, jene 'Regierung' neuen Typs, die von der Revolution geschaffen wurde und für die es in der Geschichte nur zu Zeiten des größten Aufschwungs der Revolutionen Beispiele gibt, wie 1792 und 1871 in Frankreich und 1905 in Russland."[3]

Letztlich ging es um die klassenmäßige Verankerung der jeweiligen Machtorgane, um die Möglichkeit und namentlich die Realität, Klasseninteressen zu artikulieren und umzusetzen. Hier sah Lenin in der Provisorischen Regierung und ihren parlamentarischen Empfehlungen hin zu einer Konstituierenden Versammlung die Kadetten, die bürgerlichen Kräfte in der Vorderhand, die mit den Sozialrevolutionären, letztlich auch den Menschewiki eine radikale Infragestellung des Kapitalismus in Russland mit allen Mitteln verhindern wollten. Die These von der "Unreife" Russlands lief auf die Bewahrung des Bestehenden hinaus, das längst durch Krieg und Misswirtschaft, durch Revolution, durch den permanenten Aufstand der Arbeiter, Soldaten und Bauern unterminiert war.

Logischerweise musste die ganze Auseinandersetzung zwischen März und Oktober 1917 um die konkreten Kräfteverhältnisse der Klassenkräfte und ihrer politischen Akteure gehen, musste das Ringen um Mehrheiten in den Sowjets, eventuell auch in einem parlamentarischen System entschieden werden.

Bereits in dieser relativ frühen Phase, im Juni 1917, hatte Lenin begriffen, dass die Chance für radikale gesellschaftliche Veränderung allein von den Sowjets ausgehen konnte, die an den Brennpunkten der sozialen und politischen Konflikte entstanden waren und wirkten. Dass dies kein Automatismus für die radikale Linke, wie sie die Bolschewiki verkörperten, sein konnte, sollten die nächsten Wochen beweisen. Sowohl das zeitweilige Einknicken der Sowjets in ihrer sozialrevolutionär-menschewistischen Mehrheit vor den Wünschen der Provisorischen Regierung, insbesondere hinsichtlich der Fortsetzung des Krieges. Aber eben auch im Aufgreifen der Unruhen im Lande, des Widerstandes gegen den Krieg, gegen die Einschränkung der demokratischen Freiheiten mit der Juli-Krise und dem Kornilow-Putsch, nicht zuletzt hinsichtlich des Verschleppens der sozialen Umwälzungen und der Neuverteilung des Eigentums der Großgrundbesitzer und Kapitalisten.[4]

Lenin aber wusste, "die Sowjets sind eine Körperschaft, wie sie in keinem der üblichen bürgerlich-parlamentarischen Staaten besteht und neben einer bürgerlichen Regierung auch nicht bestehen kann. Sie sind jener neue, demokratischere Staatstyp, den wir in unseren Parteiresolutionen als bäuerlich-proletarische demokratische Republik bezeichnet haben, in der die Macht allein den Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten gehören wird."[5]

Lenin verwahrte sich strikt gegen alle Versuche, "sozialistische Demokratie" zu einer Scheindemokratie unter bürgerlichen Vorzeichen verkommen zu lassen. Vielmehr war es ihm wichtig zu betonen: "Was man uns vorschlägt, ist der Übergang zur reformistischen Demokratie unter einer kapitalistischen Regierung. Das ist vielleicht großartig vom Standpunkt der üblichen westeuropäischen Vorbilder." Für die aktuellen russischen Verhältnisse wäre es ein Rückschritt, ein Festhalten an einem bereits teilweise überwundenen Status. Lenin setzte auf die Dynamik der revolutionären Veränderungen. Seine gemäßigte linke Konkurrenz erhoffte langfristige Veränderungen, die dauerhaft den Kapitalismus uniterminierten und schließlich transformierten.

Für den unmittelbaren Erfolg erwies sich Lenins Ansatz als effektiver. Allerdings sollte die weitere Entwicklung auch das Dilemma einer revolutionären Partei und ihres direktdemokratischen Politikverständnisses bestätigen. Wie konnte eine solche "sozialistische Demokratie" gesteuert werden, um geschlossen und konzentriert gesellschaftliche Veränderungen in die Wege zu leiten? Was musste die neue Macht unternehmen, um sich gegen den Widerstand des internationalen Kapitals, der nationalen Bourgeoise, aber auch vieler Bauern und Arbeiter zu behaupten, die unter den Folgen dieser Revolution litten?

Die Grundkonstellationen waren aber für einen marxistischen Blick durchaus klar, wenn auch nicht so, wie es die "reine Lehre" vielleicht erwarten ließ. Der durchaus noch nicht voll entwickelte russische Kapitalismus war seit zwei Jahrzehnten mehr und mehr in sein imperialistisches Stadium eingetreten. Die herrschende Klasse, wie die Großbourgeoisie, hatten klare imperialistische Gelüste in Richtung der Osmanischen und Habsburgischen Machtbereiche. Vor allem, seit Augst 1914 tobte ein brutaler Weltkrieg, in dem die russischen Armeen wenig erfolgreich agierten, trotz allem Heldentums und Patriotismus des einfachen Volkes. Das erlebte nicht grandiose Siege, sondern blutige Niederlagen, sah, wie die Versprechungen der russischen Industrie und der Ententeverbündeten hinsichtlich einer soliden Ausstattung der Truppe nur Makulatur blieben. Sie erlebten, dass die Versorgung im Hinterland von Jahr zu Jahr katastrophaler wurde und im Winter 1916/17 einen traurigen Tiefpunkt erreichte.

Es waren Arbeiter, zuallererst Arbeiterinnen, der kleinen, schlagkräftigen, gut organsierten und hochkonzentrierten Arbeiterklasse, die in diesen Monaten Streiks organisierten und trotz Ausnahmerecht auf die Straße gingen. Die Bourgeoise nahm ihre historischen Aufgaben nicht wahr, ihre Politiker standen bestenfalls für Palastrevolten mit Unterstützung der Duma bereit. Die Herrschenden begriffen vor allem nicht, dass es um Frieden, um Brot, nicht zuletzt auch um Boden für die Landlosen, Landarmen auf dem Dorfe ging. Und es standen ungelöste nationale Konflikte im Raume, die nichtrussischen Nationen und Nationalitäten wollten eigene Wege gehen. In all dem brodelte das Land, Arbeiter streikten, Soldaten desertierten zu Hauf, Bauern holten sich gewaltsam ihren Boden von den Gutsbesitzern.

Eine Partei, die etwas ändern wollte, musste handeln, nicht diskutieren, so die bolschewistische Linie. Ein Lehrbuch-Marxismus war hier kaum zu erwarten, eher eine "Revolution gegen das 'Kapital'"[6], wie es später Antonio Gramsci bewundernd äußern sollte. Russland passte nicht in das von Marx und Engels erwartete Schema einer Revolution in einem entwickelten kapitalistischen Land mit einer starken, kampfbereiten Arbeiterklasse und ihrer revolutionären Organisation. Dreieinhalb Millionen Angehörige der Kernarbeiterklasse gab es in einem Land, in dem vier Fünftel der Bewohner Bauern waren. Selbst die Bourgeoise war vergleichsweise zahlenmäßig gering und wenig politisch engagiert für einen Umsturz, der in Westeuropa meist ein halbes Jahrhundert zurücklag, wenn nicht länger und der den Adel, die feudalen Verhältnisse zurückgedrängt hatte.

Ja, die Russen preschten vor, griffen den seit Februar 1917 bürgerlich dominierten Staat an, suchten mit den Sowjets eigene Machtstrukturen und sie boten mit ihren Losungen und Dekreten für Frieden, Boden, Verbesserung der Lebenslage, Enteignung der Industrie und der Banken, Zugänge zu einer – wie sie erhofften – sozialistischen Gesellschaft. Rosa Luxemburg hat in ihrer ansonsten auch kritischen Schrift zur russischen Revolution angemerkt: "Die Bolschewiki haben gezeigt, dass sie alles können, was eine echte revolutionäre Partei in den Grenzen der historischen Möglichkeiten zu leisten imstande ist. Sie sollen nicht Wunder wirken wollen. Denn eine mustergültige und fehlerfreie proletarische Revolution in einem isolierten, vom Weltkrieg erschöpften, vom Imperialismus erdrosselten, vom internationalen Proletariat verratenen Lande wäre ein Wunder. Worauf es ankommt, ist, in der Politik der Bolschewiki das Wesentliche vom Unwesentlichen, den Kern von dem Zufälligen zu unterscheiden.[7] In diesem Zusammenhang zitiert Luxemburg einen anderen Revolutionär, Ulrich von Hutten, der vor vierhundert Jahren bekannte: "Ich hab’s gewagt!"[8]

Das hätte den alten Engels mit seiner Bauernkriegsstudie gefreut. Denn dessen Ausgangspunkt in seiner Schrift von 1850, auf den Trümmern einer gerade groß begonnenen, nun aber in den meisten Ländern mehr oder minder gescheiterten, unterdrückten, enteigneten Revolution war ein anderer. Was da vor dreihundert Jahren in deutschen Landen geschah – und auch niedergeworfen wurde – war für Engels Ansporn, historisches Material, nicht um es genauso und ein wenig besser zu machen, sondern um die Logik der Klassenkämpfe auch in der Zeit zu begreifen, wo es ums Ganze gehen konnte. Er wollte sich selbst und nicht weniger als dem "deutschen Volk" "seine revolutionäre Tradition" vergewissern. In Zeiten der Niederlagen, der Rückzüge, der Kniefälle und der Resignation wohl nicht nur 1850 eine lohnenswerte Aufgabe. "Es gab", so Engels, "eine Zeit, wo Deutschland Charaktere hervorbrachte, die sich den besten Leuten der Revolutionen anderer Länder an die Seite stellen können, wo das deutsche Volk eine Ausdauer und Energie entwickelte, die bei einer zentralisierteren Nation die großartigsten Resultate erzeugt hätte, wo deutsche Bauern und Plebejer mit Ideen und Plänen schwanger gingen, vor denen ihre Nachkommen oft genug zurückschaudern.

Es ist an der Zeit, gegenüber der augenblicklichen Erschlaffung, die sich nach zwei Jahren des Kampfes fast überall zeigt, die ungefügen, aber kräftigen und zähen Gestalten des großen Bauernkriegs dem deutschen Volke wieder vorzuführen. Drei Jahrhunderte sind seitdem verflossen, und manches hat sich geändert; und doch steht der Bauernkrieg unsern heutigen Kämpfen so überaus fern nicht, und die zu bekämpfenden Gegner sind großenteils noch dieselben. Die Klassen und Klassenfraktionen, die 1848 und 49 überall verraten haben, werden wir schon 1525, wenn auch auf einer niedrigeren Entwicklungsstufe, als Verräter vorfinden. Und wenn der robuste Vandalismus des Bauernkriegs in der Bewegung der letzten Jahre nur stellenweise, im Odenwald, im Schwarzwald, in Schlesien, zu seinem Rechte kam, so ist das jedenfalls kein Vorzug der modernen Insurrektion."[9]

Da sollen heute die Klassenkämpfe, die vor einem Jahrhundert das Antlitz der Welt veränderten, beerdigt, vergessen, bespien werden, nur weil es mit einer Niederlage endete. Allerdings eine Niederlage, die in Russland nach 74 Jahren, in Osteuropa nach 44 Jahren, in Deutschland nach 41 Jahren Wirklichkeit wurde.

II.

Einige dieser Dauerprobleme jeder sozialistischen Politik, die die Hinterstuben der Kneipen, die Studenten-WGs, die Diskussionszirkel von Vereinen und linken politischen Stiftungen verlässt, suchte die Helle Panke e.V. – Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin, nun ja, auch wieder in einer Konferenz und einigen Abendveranstaltungen zu diskutieren. Die beteiligten Wissenschaftler und interessierten Diskutanten wollten sich der Geschichte versichern, nach neuen Einsichten und Blickwinkeln Ausschau halten und Material für eine heutige linke Politik zusammentragen.

Das Konzept der Konferenz und der Veranstaltungen ging aus von einer Analyse der damaligen Verhältnisse: Ein Weltkrieg, gesellschaftliche Zusammenbrüche, massenhaftes Elend und Tod zerrütteten die alte Welt, egal, ob demokratisch-parlamentarisch oder autokratisch-totalitär organisiert. Den Krieg beenden, Frieden erkämpfen, gesellschaftliche Strukturen umstürzen, demokratische Verhältnisse schaffen stand oben auf den Forderungslisten von Sozialdemokraten, Sozialisten, bürgerlichen Kriegsgegnern, Demokraten. Allein, nur ein Land wurde Vorreiter dieses Umbruchs, schien die Chance auf Frieden, soziale Gerechtigkeit, Demokratie von unten her zu eröffnen – Russland.

Die russischen Revolutionen vom Februar und Oktober 1917 und die Umwälzungen des Jahres 1921 in Sowjetrussland zwischen Kronstädter Aufstand und NÖP sollten deshalb in ihrer gesellschaftspolitischen Rolle für Russland und die Welt näher untersucht werden. Das Desaster des Zusammenbruchs 1989/91 und das Verhängnis der stalinistischen Verirrung sind wohl bekannt, was aber waren die Intentionen und die Erwartungen im vierten Kriegsjahr 1917 angesichts der russischen Nachrichten?

Entsprechend den Möglichkeiten der Hellen Panke – RLS Berlin erfolgte dabei eine Konzentration auf einige wenige Momente. Hier ging es um die konzentrischen Kreise, die die revolutionären Vorgänge in Petrograd und Moskau im gesamten Russischen Reich, in Europa und in der Welt auslösten. Exemplarisch konnten hier nur einige wenige politische und geistige Knotenpunkte ausgemacht werden, die das Schicksal der Arbeiterbewegung, der organisierten Linken, aber auch der Staaten und Gesellschaften berührt haben. Das betraf Revolution und Konterrevolution im flächenmäßig größten Land der Welt, Fernwirkungen für revolutionäre Bewegungen gegen den Krieg und gegen die bestehende Ordnung zwischen Berlin, Wien und Budapest, die Auswirkungen auf die spätere 3. Welt, die geistigen Erschütterungen, Hoffnungen und Enttäuschungen der Intellektuellen.

Die Autorinnen und Autoren haben uns freundlicherweise ihre Texte – in sehr unterschiedlicher Form und in unterschiedlichem Umfang – zur Verfügung gestellt. Die Konferenz fand sehr frühzeitig, am 23. Februar 2017, statt.[10] Außerdem werden weitere Texte aus dem Umfeld dieser Konferenz einbezogen.[11] Hier werden die Konferenzbeiträge in drei Heften unserer Reihe "Pankower Vorträge" dokumentiert.

[1] Friedrich Engels: Der deutsche Bauernkrieg. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke. Bd. 7. Berlin 1960, S. 400, 401.

[2] Wladimir Iljitsch Lenin: Gesamtrussischer Kongreß der Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten, 3.–24. Juni (16. Juni–7. Juli) 1917. 1. Rede über die Stellung zur Provisorischen Regierung, 4. (17.) Juni. In: ders.: Werke. Bd. 25. Berlin 1963, S. 3/4.

[3] Ebenda, S. 3/4.

[4] Anschaulich beschrieben in: Alexander Rabinowitch: Die Sowjetmacht. Die Revolution der Bolschewiki 1917. Essen 2012; siehe auch: August H. Nimtz: Lenin’s Electoral Strategy from 1907 to the October Revolution of 1917. The Ballot, the Streets – or Both. New York 2014.

[5] Wladimir Iljitsch Lenin: Gesamtrussischer Kongreß der Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten. A.a.O., S. 4.

[6] Antonio Gramsci: Die Revolution gegen das "Kapital". In: Harald Neubert (Hrsg.): Antonio Gramsci – ein vergessener Humanist? Eine Anthologie. Berlin 1991, S. 31.

[7] Rosa Luxemburg: Zur russischen Revolution. In: dies.: Gesammelte Werke. Bd. 4. Berlin 1974, S. 365.

[8] Ebenda.

[9] Friedrich Engels: Der deutsche Bauernkrieg. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke. Bd. 7. Berlin 1960, S. 329.

[10] Über die Konferenz berichteten: Karlen Vesper: "Ich bin freudig erregt." Notizen von zwei Konferenzen in Berlin anlässlich des 100. Jahrestages der Russischen Revolution. In: Neues Deutschland. Berlin vom 27. Februar 2017, S. 16; Günter Benser: Echo der russischen Revolution. Berlin, 23. Februar 2017. In: Z – Zeitschrift für marxistische Erneuerung. Essen H. 110 (2017), S. 163–165.

[11] Karl-Heinz Gräfe musste gesundheitsbedingt seinen Beitrag schriftlich einreichen, die Ausführungen von Stefan Rinke waren Gegenstand einer eigenen Abendveranstaltung am 11.07.2017 und Stefan Bollinger hat seine auf der Konferenz vorgetragenen Positionen noch einmal deutlich erweitert.

  • Preis: 4.00 €