Von: Helmut Müller-Enbergs
Reihe "hefte zur ddr-geschichte", Heft 147, 2017, 54 S.
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Zum Thema der vorliegenden Publikation referiert der Autor im Verein Helle Panke Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin am 10. Januar 2018 im Rahmen der Veranstaltungsreihe zur Geschichte.
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Autor: Dr. Helmut Müller-Enbergs
Adjungeretprofessor der Syddansk Universitet
Veröffentlichungen:
Die Stasi in Schleswig-Holstein, in: Aaron Jessen, Elmar Moldenhauer und Karsten Biermann (Hrsg.): Grenzen überwinden. Schleswig-Holstein, Dänemark & die DDR. Husum 2016, S. 133150;
DDR-Spionage in Rostocks geheimpolizeilicher Partnerstadt Hamburg, in: Helmut Stubbe da Luz (Hrsg.): Heldenhafte Tschekisten? Kundschafter des Friedens? Hamburger Politiker als DDR-Spionage im Kalten Krieg. Hamburg 2015, S. 2942;
Das Aquarium und die Schattenarmee der Stasi in Berlin-Schöneberg, in: Irene von Götz und Helmut Müller-Enbergs: Im Visier der Stasi. Spionage in Berlin-Schöneberg. Berlin 2014, S. 1378.
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INHALT
1. Schwerpunkte im Ruhrgebiet
2. Das inoffizielle Netz in drei kreisfreien Städten des Ruhrgebiets
3. Bochum
4. Dortmund
4.1 Abschöpfquellen
4.2 Ermittler
4.3 Führungs-IM
4.4 Kontaktpersonen
4.5 Objektquellen
4.6 Werber
4.7 Perspektiv-IM
5. Essen
5.1 Wissenschafts- und Technikspionage
Energie, Biologie und Chemie
Elektronik und Elektrotechnik
Maschinenbau und Embargofragen
Der Baron unter den Inoffiziellen im Ruhrgebiet
5.2 Militärspionage
5.3 Politische Spionage
CDU
SPD
5.4 Gegenspionage
5.5 Logistisches Netz
5.6 Inoffizielle im besonderen Einsatz
6. Analyse
6.1 Operative Schwerpunkte
7. Aussichten oder: Die Provinzfilialen der HV A erobern das Ruhrgebiet
8. Literaturverzeichnis
Einleitung
Das Ruhrgebiet zählte zu den operativen Metropolen der nachrichtendienstlichen Arbeit des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), wie das Schild und Schwert der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) bezeichnet wurde,1 das die innere und äußere Sicherheit des westlichsten Vorpostens der Sowjetunion namens Deutsche Demokratische Republik (DDR) zu schützen oder auszubauen hatte..2 Diese dichte Kette an großen Städten im Ruhrgebiet, die verschiedensten Landsmannschaften mit ihrer gemeinsamen deutsch-deutschen Sprache, die vielfachen familiären Verknotungen und eine beachtenswerte, wenn auch grau gewordene Arbeiterbewegung boten einen faszinierenden Humus, um der Sache des Sozialismus auch im Schatten einer bürgerlichen Gesellschaft und von ihr unbemerkt dienlich zu sein. Nahezu ein Viertel der Quellenressource des wichtigsten Auslandsnachrichtendienstes der DDR hatte ihre Hauptverwaltung A (HV A), eine von Dutzenden Diensteinheiten des MfS, in Nordrhein-Westfalen konzentriert.3
Darüber wollen wir mehr erfahren. Das Gestrüpp der unterschiedlichsten Organisationseinheiten des MfS und die unterschiedliche archivarische Überlieferungslage legen nicht nur einen differenzierenden Zugang und eingeschränkte Erkenntnismöglichkeiten nahe, sondern erzwingen angesichts der Fülle an Einzelaktivitäten auch eine Auswahl.4 Die besteht hier darin, eine Stichprobe vorzunehmen. Die Wahl fällt auf den Stand vom Dezember 1988, eine Momentaufnahme, weil mit Hilfe einer besonderen Überlieferung den so genannten Statistikbögen der HV A ein hilfreiches Instrument genutzt werden kann. Bei diesen Bögen handelt es sich jeweils um eine DIN-A-4-Seite, die wesentliche Angaben zu einer Quelle oder einer Kontaktperson der HV A enthalten, schon aus konspirativen Gründen aber nicht den bürgerlichen Namen. Immerhin enthalten sie Eintragungen zum Wohnort, zum beruflichen und nachrichtendienstlichen Tätigkeitsfeld sowie über die Art und Weise, wie Verbindung zur Normannenstraße in Ost-Berlin, dem Sitz des Ministeriums, unterhalten werden sollte.5 Damit ist das zentrale Auswahlkriterium für unsere Untersuchung benannt: Der Wohnort. Nur aus diesem erfolgt alles Weitere.
Die Anordnung erfolgt also keinesfalls nach den wesentlichen Arbeitsfeldern der HV A, also der politischen und der Militärspionage, der Wissenschafts- und Technik-Spionage oder der Gegenspionage, mithin dem Eindringen in den Verfassungsschutz, Militärischen Abschirmdienst oder in Filialen des Bundesnachrichtendienstes, die ihren Sitz in Nordrhein-Westfalen oder darin dem Ruhrgebiet haben.6
Das Spektrum an Biographien, Aktivitäten und Schwerpunkten bildet sich im unterschiedlichen Grade an den jeweiligen Orten ab. Und selbst da erscheint angesichts ihrer Anzahl eine Auswahl geboten, namentlich die wichtigsten unter den zehn kreisfreien Städten in ihrer alphabetischen Reihenfolge Bochum, Bottrop, Dortmund, Essen, Gelsenkirchen, Hagen, Hamm, Herne, Mülheim an der Ruhr und Oberhausen. Wie noch zu zeigen sein wird, handelt es sich dabei um Bochum, Dortmund und Essen und selbst dann verbleibt noch die beachtliche Größenordnung von sechsundvierzig Vorgängen, wie das in der Fachsprache heißt. Gemeint sind sechsundvierzig Biographien, also Lebenswege, die sich mit der Arbeit der HV A im Ruhrgebiet kreuzten. Dabei geht es in unserem Zusammenhang keinesfalls um Sensation, eine spektakuläre Enthüllung oder die bürgerliche Identität selbst, sondern im Wesen um die Vielfalt nachrichtendienstlicher Vorgehensweisen, wie sie im Ruhrgebiet praktiziert worden sind. Faktisch handelt es sich um Basismaterial für weiterführende Studien.
[1] Vgl. Siegfried Suckut und Walter Süß (Hrsg.): Staatspartei und Staatssicherheit. Zum Verhältnis von SED und MfS. Berlin 1997.
[2] Vgl. Karl Wilhelm Fricke: Die DDR-Staatssicherheit. Entwicklung, Strukturen, Aktionsfelder. Köln 1989; Jens Gieseke: Die Stasi. 19451990. München 2011.
[3] Vgl. Helmut Müller-Enbergs: Inoffizielle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit. Teil 2: Anleitungen für die Arbeit mit Agenten, Kundschaftern und Spionen in der Bundesrepublik Deutschland. Berlin 1998, S. 194.
[4] Vgl. Bodo Wegmann: Die Militäraufklärung der NVA. Die zentrale Organisation der Aufklärung der Streitkräfte der Deutschen Demokratischen Republik. Berlin 2005; Hubertus Knabe (Hrsg.): Westarbeit des MfS. Das Zusammenspiel von Aufklärung und Abwehr. Berlin 1999.
[5] Vgl. Helmut Müller-Enbergs: Rosenholz. Eine Quellenkritik. Berlin 2007, S. 93125.
[6] Vgl. Helmut Müller-Enbergs: Inoffizielle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit. Teil 3: Statistiken. Berlin 2008, S. 193215.