Publikationen

Suchmaske
Suche schließen

Heft 54: Die Russische Revolution als philosophisches Schlüsselereignis

Georg Lukács’ und Ernst Blochs politisch-philosophische Antworten auf Lenin(ismus) und die Oktoberrevolution (Konferenzbeiträge - Teil 2)

Von: Stefan Bollinger, Eric-John Russell (Engl.), Patrick Eiden-Offe, Micha Brumlik

Heft 54: Die Russische Revolution als philosophisches Schlüsselereignis

Zum 100. Jahrestag der Russischen Revolutionen lud die „Helle Panke“ gemeinsam mit Partnerorganisationen zu einer Reihe wissenschaftlicher Veranstaltungen ein, in deren Ergebnis mehrere Publikationen mit interessanten und erkenntnisreichen Beiträgen vorgelegt werden konnten.

So hatte die Konferenz am 11. März 2017 zum Ziel auszuloten, wie die beiden bedeutenden marxistischen Philosophen Georg Lukács und Ernst Bloch auf das Schlüsselereignis der Oktoberrevolution reagierten. Im Ergebnis der Beratung entstanden die beiden Hefte der Reihe Philosophische Gespräche Nr. 53 und 54.

Die Tagung bestritt die Helle Panke im Zusammenwirken mit der Internationalen Georg-Lukács-Gesellschaft (IGLG) und den beiden Bloch-Vereinigungen Ernst-Bloch-Assoziation (EBA) und Ernst-Bloch-Gesellschaft (EBG).

------------------------------------------------------------------------------------

AUTOREN

Stefan Bollinger, Dr. sc. phil., Politikwissenschaftler und Historiker, stellv. Vors. der "Hellen Panke" e.V., Berlin

Eric-John Russell, is a doctoral candidate at the Centre for Research in Modern Europe Philosophy in London. His dissertation examines the ways in which Hegel’s Wesenslogik and Begriffslogik together with Marx’s critique of political economy appear within Guy Debord’s The Society of the Spectacle. He is a founding editorial member of Cured Quail.

Patrick Eiden-Offe, Dr. habil., Literaturwissenschaftler, arbeitet am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung (ZfL) zu Georg Lukács

Micha Brumlik, emeritierter Professor der Erziehungswissenschaft, hat z.Z. eine Seniorprofessur am Selma Stern Zentrum für Jüdische Studien Berlin/Brandenburg inne

----------------------------------------------------------------------

INHALT

Stefan Bollinger
Lenin, Lukács und der unverzichtbare Sozialismus (S.5)

Eric-John Russell (Engl.)
Georg Lukács: An Actually Existing Antinomy (S.13)

Patrick Eiden-Offe
Georg Lukács: Auf dem Weg zu einer Biografie des Intellektuellen im 20. Jahrhundert (S.48)

Micha Brumlik
Geschichte und Klassenbewusstsein: Vom Ende des Proletariats in Pöbel und autoritärer Anarchie (S.53)

-------------------------------------------------------------------

LESEPROBE

Stefan Bollinger
Lenin, Lukács und der unverzichtbare Sozialismus

I.

"Der historische Materialismus ist die Theorie der proletarischen Revolution. Er ist es, weil sein Wesen die gedankliche Zusammenfassung jenes gesellschaftlichen Seins ist, das das Proletariat produziert, das das ganze Sein des Proletariats bestimmt; er ist es, weil in ihm das um Befreiung ringende Proletariat sein klares Selbstbewusstsein findet. Die Größe eines proletarischen Denkers, eines Vertreters des historischen Materialismus misst sich deshalb an der Tiefe und Weite, die sein Blick in diesen Problemen erfasst. Daran: mit welcher Intensität er imstande ist, hinter den Erscheinungen der bürgerlichen Gesellschaft jene Tendenzen zur proletarischen Revolution richtig zu erblicken, die in ihnen und durch sie sich zum wirksamen Sein und zu hellem Bewusstsein heraufarbeiten."[1]

Mit diesen markigen Worten, die uns heutigen so alt und vergessen und anmaßend anmuten, tritt der Intellektuelle und Politiker Georg Lukács 1924 in "Lenin. Studie über den Zusammenhang seiner Gedanken" als Theoretiker des Marxismus in die Fußstapfen seines Genius Lenin. Noch stärker als in "Geschichte und Klassenbewußtsein" spitzt er den politischen, den gesellschaftsverändernden Anspruch der radikalen, kommunistischen Linke zu. Der Intellektuelle aus gutbürgerlichem Hause hatte sich unter dem Eindruck des verheerenden Weltkriegs, des revolutionären Erwachens, seines eigenen Engagements in der Ungarischen Räteregierung und angesichts der verheerenden Niederlage zu einem solchen Theoretiker gemausert, der gleichzeitig weiß, dass er Kämpfer für die Sache des Sozialismus in sehr praktischer Weise sein muss.

Während der andere Protagonist unserer Konferenz, Ernst Bloch, zeitlebens dieser Theoretiker bleiben kann, ist Lukács in die politischen Kämpfe seiner Zeit gestellt und er stellt sich ihnen bewusst als Wissenschaftler wie als Politiker. Während Bloch die Wirren des kurzen 20. Jahrhunderts der Ex-treme in der Studierstube, im Exil, auf dem Katheder erleidet und es mit Hitler wie den Epigonen Stalins zu tun bekommt – glücklicherweise immer recht vermittelt, wenn auch unerfreulich, muss Lukács immer wieder um seine Freiheit und sein Leben bangen. Und es sind nicht nur die ungarischen Faschisten, die er zu fürchten hat, es sind selbst seine Genossen. Denn der große Denker kann und will nicht vom politischen Einmischen lassen, gerade auch in die eigene linke Politik.

Er hat seine Erfahrungen von 1919 und er hat seine Lektion von Lenin erhalten und verinnerlicht. Lenin hatte seine ersten marxistischen Gehversuche kurz, knapp, parteilich abgekanzelt: "Der Marxismus darin ist ein Marxismus der bloßen Worte ... Es fehlt eine konkrete Analyse ganz bestimmter historischer Situationen."[2] Das aber war für Lenin das "innerste Wesen, die lebendige Seele des Marxismus". Ohne eine solche Analyse musste "das Wesentlichste (die Notwendigkeit, alle Arbeitsgebiete und Einrichtungen, durch welche die Bourgeoisie ihren Einfluss auf die Massen ausübt usw., zu erobern und erobern zu lernen) unberücksichtigt" bleiben.[3]Lukács münzte auch die im Kontext des Artikels gegen Béla Kun vorgebrachte Kritik auf sich, dass linke Politik – mit heutigen Worten – die Arbeiter, die einfachen Menschen, für die Linke und mit denen die Linke Politik machen will, dort abholen muss, wo sie sind. In ihren Illusionen, ihren Erwartungen.

Und dass sich revolutionäre Politik auf deren Probleme einzulassen hat, sicher auch ihre Sprache sprechen und Kompromisse eingehen muss. Unter Bezug auf die revolutionäre Strategie und Taktik in den Russischen Revolutionen stellte Lenin rhetorisch die Frage und beantwortete sie zugleich: "Wir können die Provisorische Regierung (von Lwow, Miljukow, Kerenski u.a.) nicht einfach stürzen, denn hinter diesen Leuten stehen noch die Arbeiter in den Sowjets; wir müssen zuerst erreichen, dass die Mehrheit oder ein beträchtlicher Teil dieser Arbeiter ihre Ansichten ändert."[4] Genauso wenig mochte Lenin einer Alternative Sowjets oder Parlamentarismus das Wort reden. Nicht, weil er auf einmal seine Liebe zu den Parlamenten entdeckt hatte, sondern weil theoretische Einsichten nichts taugen, wenn sie in den Köpfen der Führer und Intellektuellen bleiben. "Massen von unaufgeklärten und halbaufgeklärten Arbeitern und Bauern nehmen allen Ernstes an den Wahlen teil, denn sie glauben noch an die bürgerlich-demokratischen Vorurteile, sie sind noch in diesen Vorurteilen befangen. Aber anstatt den unaufgeklärten (wenn auch mitunter 'kulturell hochstehenden') Spießern zu helfen, ihre Vorurteile auf Grund eigener Erfahrung zu überwinden, sollen wir vor der Teilnahme am Parlament zurückscheuen, sollen wir uns damit amüsieren, eine Taktik auszuhecken, die unberührt ist vom bürgerlichen Schmutz des Alltagslebens!!"[5]

Lenin kannte seine Kommunisten und wohl auch deren Nachfahren, die heute in postkommunistischen, linkssozialistischen und/oder demokratisch-sozialistischen Parteien ihr Parteiunwesen treibend von den Trumps dieser Welt überrascht sind.

II.

Heute sind wir besorgt, welche "proletarische" Revolution, welche Klasse soll das Werk verrichten. Wir sind enttäuscht, wissen um das Scheitern der Arbeiterbewegung, die gespalten in ihren Flügeln sich von der politischen Gestaltung einer Überwindung der Klassengesellschaft verabschiedet hat. Wir wissen, dass jene Revolution, die Lukács vor Augen hat in den "Mühen der Ebenen" verkam, dass die proletarische Diktatur in einer Diktatur einer neuen Klasse und ihres Vozds verkommen ist und millionenfach Opfer einforderte unter denen, die diese neue Ordnung errichten wollten. Dieser sich sozialistisch verstehende Realsozialismus ist mit einem whimper vor nunmehr fast drei Jahrzehnten nach langer Agonie untergegangen, ebenso wie seine sozialreformerischen Gegenentwürfe zwischen Schweden und der alten Bundesrepublik oder seine anarchistischen Kritiker.

Und doch wollen wir heute das hohe Lied auf Georg Lukács anstimmen, den einstigen Volkskommissar der kurzlebigen ungarischen Räterepublik, den Philosophen, Literatur- und Politiktheoretiker, den unduldsamen Sänger einer vermeintlich stalinistischen Realismustheorie, den unerbittlichen und manchmal zu wenig differenzierenden Antifaschismustheoretiker und den linken Dissidenten in einer vermeintlich prosozialistischen Erhebung der Ungarn für einen anderen Sozialismus, die in der Systemauseinandersetzung nur als zerschlagene "Konterrevolution" enden konnten. Eines Marxisten, der bis zum letzten Atemzug verfangen zwischen revolutionärem Optimismus, Selbstkritik und Hoffender auf eine antistalinistische Revolution agierte und doch um die Risiken dieser "Revolution" in der Systemauseinandersetzung wusste und warnte.

Das Rückbesinnen auf ihn, die Oktoberrevolution und Lenin sollten kein Selbstzweck, keine philosophische Bauchpinselei sein, sondern zwingend in einer Zeit des offenen kapitalistischen Rollbacks in nationalistischer, rechtskonservativer Gestalt.

Sicher ahnte Lukács, was wir mit unserer Konferenz vorhaben. Natürlich wird es ihn gefreut haben, dass seine alten, revolutionären Schriften der ersten Hälfte der 1920er Jahre wieder gelesen und die damaligen Diskussionen erneut Aufmerksamkeit besonders unter den jungen künftigen Intellektuellen im Westen fanden. Sein warnender Zeigefinger gilt auch für die heutige Renaissance der Beschäftigung mit den linken, antistalinistischen, eben nicht politikwirksamen Linken der damaligen Zeit. Sie verkörperten ein anderes Denken, aber gewannen nicht die Massen, was nicht nur der Allmacht stalinistischer Politik und Organisation anzulasten ist. Sie der Vergessenheit zu entreißen, sich ihrer Schicksale anzunehmen und ihre Einsichten wieder zugänglich zu machen ist wichtig. Aber wie meinte Lukács: "Seit die marxistische Kritik der Stalin-Periode eingesetzt hat, ist auch ein Interesse für die Oppositionstendenzen der zwanziger Jahre erwacht. Das ist verständlich, wenn auch – theoretisch-sachlich betrachtet – vielfach übertrieben. Denn so falsch die Lösung der damals sich entfaltenden Krise der Revolution durch Stalin und seine Anhänger war, so wenig kann davon die Rede sein, dass irgendwer in dieser Zeit eine Analyse, eine Perspektive gegeben hätte, die auch für die Probleme der späteren Phasen theoretisch richtungweisend hätte sein können. Wer heute an der Renaissance des Marxismus fruchtbar mitarbeiten will, muss die zwanziger Jahre rein historisch, als eine abgeschlossen vergangene Periode der revolutionären Arbeiterbewegung betrachten; nur so kann er ihre Erfahrungen und Lehren für die wesentlich neue gegenwärtige Phase richtig verwerten."[6]

Vor allem wusste Lukács auch um seine theoretischen Schwächen, die nicht nur die einer abgehobenen theoretischen Aneignung des Marxismus waren. Zu sehr überhöhte er die Rolle eines genialen Führers, zu sehr vergottete er die Organisation der Partei, zu wenig fragte er nach den demokratischen Gestaltungsmöglichkeiten in ihren Reihen und ihrer Führung. Er überbewertete die Möglichkeiten der Partei und auch Lenins, eine einmal gewonnene politische Linie umzusetzen – das war ja schon Lenins frühe Kritik an ihm. Auch wenn viele seiner Thesen – etwa die in "Geschichte und Klassenbewusstsein" vorgenommene kritische Auseinandersetzung mit Rosa Luxemburgs Vorstellungen zur Bauernfrage, zur nationalen Frage, zur Rolle der Konstituante sehr heutig und zumindest für mich sehr plausibel und marxistisch anmuten, so wusste Lukács vier Jahrzehnte später um die dunkle Seite der Geschichte. Manche seiner damaligen Überlegungen mussten mit der Last der Erfahrung der gelebten Geschichte jetzt in die Irre führen. Denn die stalinistische Gefahr – wenn hier vereinfacht auf die eine Person reduziert werden soll, die für ein System steht – die mehr und mehr undemokratischen Verwirklichung eines dann nicht mehr Sozialismus seienden Sozialismus belegte, dass es so euphorisch nicht weitergegeben werden konnte.

[1] Georg Lukács: Lenin. Studie über den Zusammenhang seiner Gedanken (1924). In: Detlev Claussen (Hrsg.): Blick zurück auf Lenin. Georg Lukács, die Oktoberrevolution und Pere-stroika. Frankfurt/M. 1990, S. 44.
[2] Wladimir Iljitsch Lenin: "Kommunismus". Zeitschrift der Kommunistischen Internationale. für die Länder Südosteuropas, Wien, Heft 1/2 vom 1. Februar 1920 bis Heft 18 vom 8. Mai 1920. In: Ders.: Werke. Berlin 1966 (Im Weiteren: LW), Bd. 31, S. 153/154.
[3] Ebd., S. 154.
[4] Ebd., S. 154.
[5] Ebd., S. 155.
[6] Georg Lukács: Nachwort (1967) [zu: Lenin. Studie über den Zusammenhang seiner Gedanken]. In: Detlev Claussen (Hrsg.): Blick zurück auf Lenin. A.a.O., S. 140.

  • Preis: 4.00 €
  • Erscheinungsjahr: 2018