Von: Klaus Steinitz, Christa Bertag,, Karl Döring, Jörg Roesler
Reihe "hefte zur DDR-geschichte", Heft 148, 2018
-----------------------------------------------------------------------------------
Regelmäßig fanden im Zusammenhang mit den Frühjahrs- und Herbstmessen 1978 bis zum Jahr 1989 in Leipzig Seminare des ZK der SED mit den Generaldirektoren der Kombinate und anderen verantwortlichen staatlichen Leitern und Wirtschaftsfunktionären statt. Sie wurden vom ZK-Sekretär der SED für Wirtschaftsfragen Günter Mittag von Anfang an geleitet.
In der Veranstaltung der „Hellen Panke“ am 6. November 2018 berichteten zwei GeneraldirektorInnen (Kurzbiografien siehe S. 31/32 dieses Heftes) über ihre Erfahrungen und Sichten auf die Leipziger Seminare. Dabei standen die Wirkungen dieser Seminare im Vordergrund. Ergänzend wurde eine wirtschaftshistorische Rückschau des Strebens nach perfekter Wirtschaftsorganisation unter starren politischen Vorgaben vorgenommen und in diesem Zusammenhang analysiert, welche Lehren sich daraus ziehen lassen.
-------------------------------------------------------------------------------------------------------
INHALT
Vorbemerkungen
Klaus Steinitz
Christa Bertag
Meine Erkenntnisse aus den Leipziger Seminaren
Karl Döring
Meine Sichtweise auf die Seminare des ZK der SED mit den Generaldirektoren und Parteiorganisatoren der Kombinate
Jörg Roesler
Die „Mittag-Seminare“ – Streben nach perfekter Organisation auf instabil werdender ökonomischer Grundlage und unter starren politischen Vorgaben
Anhang:
Ziel der Kombinate im Jahr des XI. Parteitages
Kräftiges Wachstum unserer Wirtschaft für die Politik zum Wohl des Volkes
Brief der Teilnehmer des ZK-Seminars an Erich Honecker / Plan der Nettoproduktion wird um 5 Tagesleistungen überboten / Zusätzlich Konsumgüter /
Günter Mittag sprach zum Abschluß der Beratungen
ND-Artikel zum Abschluss des Leipziger Seminars vom März 1986.
ND, 15./16. März 1986
LESEPROBE
Vorbemerkungen
Klaus Steinitz
Regelmäßig fanden auf Beschluss des ZK der SED zu den Frühjahrs- und Herbstmessen seit 1978 bis zum Jahr 1989 in Leipzig Seminare des ZK mit den Generaldirektoren der Kombinate, den vom ZK in den Kombinaten eingesetzten Parteiorganisatoren und anderen verantwortlichen staatlichen Leitern und Wirtschaftsfunktionären der SED statt.
Sie wurden vom Sekretär des ZK für Wirtschaft, Günter Mittag, geleitet und dienten offiziell der Information der Teilnehmenden über die wirtschaftspolitischen Vorstellungen der Parteiführung sowie dem Erfahrungsaustausch unter den Anwesenden. Die Möglichkeiten für einen offenen, kritischen Meinungsaustausch waren jedoch kaum gegeben. Anweisungen von oben, Druck, zusätzliche Planaufgaben zu übernehmen, dominierten und waren für das Auftreten von Günter Mittag bestimmend.
In diesem Heft 148 der Reihe „hefte zur ddr-geschichte“ sind die auf dem Workshop am 6. November 2018 gehaltenen Referate von Christa Bertag, Generaldirektorin des Kombinats Berlin Kosmetik, Prof. Dr. Karl Döring, Generaldirektor des Bandstahlkombinats Eisenhüttenstadt, und Prof. Dr. Jörg Roesler, Wirtschaftshistoriker, enthalten.
Im Zusammenhang mit den Vorträgen zu den Leipziger Seminaren des ZK der SED können drei Aspekte besonders hervorgehoben werden, die in engem Zusammenhang mit der gesamten gesellschaftlichen Entwicklung der DDR stehen.
Erstens: Es war die größte Zusammenkunft führender Wirtschaftsfachleute, die an der Spitze der großen Unternehmen mit vielen Betrieben standen und eine hohe Verantwortung für die wirtschaftliche Entwicklung der DDR und die internationale Arbeitsteilung trugen. Damit bestand eine außerordentlich wichtige, ja man könnte sagen, einmalige Chance über die Wirtschaftsprobleme und mögliche Wege ihrer Bewältigung umfassend und lösungsorientiert zu beraten. Das Referat von Günter Mittag und sein gesamtes Auftreten waren jedoch keineswegs darauf gerichtet, diese Chance zu nutzen, sondern verhinderten eher einen offenen Erfahrungsaustausch. In der ersten Zeit der Leipziger Seminare gab es durchaus Elemente eines solchen Erfahrungsaustauschs. Zunehmend wurden diese jedoch mit den größeren wirtschaftlichen und politischen Problemen in den Hintergrund gedrängt. Im Vordergrund stand in den achtziger Jahren immer mehr, einen starken Druck auf die Übernahme hoher, teilweise unrealistischer Planaufgaben auszuüben und scharfe Kritik an den Generaldirektoren zu üben, die Planrückstände zuließen.
Zweitens: Eine kritische Wertung dieser Seminare, die ja wesentliche Seiten der zentralistischen Führung der Wirtschaft und der unbefriedigend demokratischen und offenen Diskussion der Wirtschaftsprobleme charakterisierten, reicht bisher bei der Analyse der in der DDR praktizierten Planung und Leitung der Wirtschaft nicht aus. Die Kenntnis dieser Seminare war und ist nach wie vor auf einen recht eingegrenzten Personenkreis beschränkt. Deshalb war es auch höchste Zeit eine Veranstaltung der Hellen Panke hierzu durchzuführen.
Drittens: Gilt es aus der Diskussion der hiermit verbundenen Fragen notwendige Schlussfolgerungen für die Art und Weise einer demokratischen, zukunftsorientierten Regulierung der wirtschaftlichen Entwicklung auf dem Wege der Transformation in Richtung einer nichtkapitalistischen Alternative zu ziehen. Die Vorträge und die Diskussion haben gezeigt, dass es hierfür Anregungen und Überlegungen gibt.
Dafür boten die Referentinnen gute Voraussetzungen. Christa Bertag und Karl Döring leisteten in der DDR über mehrere Jahrzehnte, darunter speziell als Generaldirektoren in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre, und auch in der Zeit des vereinigten Deutschlands im Rahmen ihrer Möglichkeiten wichtige Beiträge für die Lösung sowohl der damaligen Probleme in der DDR als auch der heutigen ungelösten Probleme. Für beide ist charakteristisch, dass sie ständig bemüht waren, ihre verantwortungsvolle Tätigkeit eng mit der eigenen Qualifizierung zu verbinden. Karl Döring hat sogar doppelt promoviert, zum Dr. Ing in Moskau und einige Jahre später zum Dr. oec. an der Hochschule für Ökonomie in Berlin. 2000 wurde er noch zum Professor h.c. an einer TU in Moskau berufen. Christa Bertag hat neben dem Abschluss als Dipl.-Chemiker die Parteihochschule als Dipl.-Gesellschaftswissenschaftler abgeschlossen.
Ergänzend nahm in der Veranstaltung der „Hellen Panke“ der Wirtschaftshistoriker Prof. Dr. Jörg Roesler, durch seine zahlreichen Publikationen und Vorträge zu wirtschaftshistorischen und aktuellen Problemen gut bekannt, eine wirtschaftshistorische Rückschau des Strebens nach perfekter Wirtschaftsorganisation unter starren politischen Vorgaben vor.
--------------------------------------------------------------------
Christa Bertag
Meine Erkenntnisse aus den Leipziger Seminaren
Liebe Anwesende,
wie bekannt, habe ich das Kosmetikkombinat Berlin von 1986 bis zu seiner Auflösung 1990 als Generaldirektor geleitet.
Das Kosmetikkombinat mit 8.500 Mitarbeitern produzierte rund 97% aller Mund-, Haar- und Körperpflegemittel, dekorativer und Theaterkosmetik. Darüber hinaus produzierten wir den größten Teil unserer Roh- und Zusatzstoffe sowie Verpackungsmittel aus Plaste und Aluminium innerhalb des Kombinates. So waren wir z.B. der größte Hersteller von Aluminium-Tuben in der DDR.
Das Kombinat hatte die Aufgabe, die Versorgung der Bevölkerung der DDR mit kosmetischen Erzeugnissen zu sichern und den Export, insbesondere in die Sowjetunion, zu garantieren.
Wenn man wie wir eine ganze Nation mit bestimmten Warengruppen, deren Verfügbarkeit täglich und von jedermann überprüfbar ist, versorgen mussten, war das nicht nur ein Wirtschaftsprozess, sondern es war vor allem ein gesellschaftlicher und politischer Auftrag, der der besonderen Kontrolle der Wirtschafts- und Parteiführung unterlag.
Als Alleinproduzent ohne Markt-Wettbewerb hatten wir wie fast alle Kombinate ein Monopol und damit sollte man meinen, auch eine ökonomische Macht.
Diese Macht hätte das Potential gehabt, einen größeren Einfluss auf die Wirtschaftspolitik des Staates ausüben zu können. Dafür wäre aber ein gemeinsames Vorgehen aller Generaldirektoren und anderer wirtschaftsleitender Akteure notwendig gewesen. Diese Gemeinsamkeit gab es nicht.
Ein sichtbares Beispiel dafür sind die Leipziger Seminare unter Leitung des Sekretärs des ZK der SED, Günter Mittag, ein Forum, in dem zweimal im Jahr alle Generaldirektoren sowie leitende Partei- und Staatsfunktionäre – ca. 800 Leute – zur Vollversammlung zusammenkamen.
Was waren die Leipziger Seminare?
Lassen wir den Hauptakteur Günter Mittag selbst zu Wort kommen. Ich möchte hier auszugsweise zitieren aus dem Buch "Der Plan als Befehl und Fiktion", von einem Forscherteam der Freien Universität Berlin 1995.
Auf die Frage von Prof. Lepsius zum persönlichen Verhältnis zu den Generaldirektoren, deren Vorgesetzter er nicht war, und sein punktuelles Einwirken auf die Generaldirektoren zur Erhöhung der Gesamtwirtschaftsleistung sagte er: "Der Sinn der Leipziger Seminare ist zu Beginn einmal gewesen, über den Erfahrungsaustausch Wissen zu vermitteln. Und später, als dann die ökonomischen Hebel des ökonomischen Systems außer Kraft gesetzt wurden, hatte das eine noch größere Bedeutung. Als es dann darum ging, in der Planerfüllung bestimmte Löcher auszugleichen, wurde das … gemacht, auch als Erfahrungsaustausch, aber mit dem Zweck, durch die Zusammenführung Lösungen untereinander zu finden."
Und weiter: "In Leipzig wurden viele gute Beispiele genannt, ... aber einige Minister und Generaldirektoren musste man auch anzählen – warum? Wenn der ökonomische Hebel nicht wirkt, kann nur das Wort wirken ... Aber ich muss sagen, die Mehrzahl (der Generaldirektoren) hat sich wirklich bemüht ...
In Leipzig bot sich die Gelegenheit doch mal einige Punkte deutlich herauszukristallisieren. Das Referat wurde vorher beschlossen; ich habe das auch manchmal noch mit ein paar Beispielen ein bisschen angereichert, aber das war schon eine wichtige Sache. Daraus ergeben sich, das war eben das Motiv, Verpflichtungen und Wettbewerb. Aber wenn man versucht, ökonomische Hebel mit Wettbewerb und Verpflichtungen zu ersetzen ... lieber Herr Professor, das wissen Sie besser als ich!"
Ich möchte hierzu noch ergänzend den persönlichen Mitarbeiter von Mittag, Claus Krömke, aus derselben Quelle zitieren. Frage von Lepsius: "Wir haben schon mehrfach von den Geschichten über Mittags diktatorische Ausbrüche gegenüber Einzelpersonen gehört, seine Einvernahmen der Generaldirektoren bei der Leipziger Herbstmesse usw. Was hat er in Leipzig mit den Generaldirektoren eigentlich gemacht?"
Antwort Krömke: "Als das 1978 anfing, war der ursprüngliche Sinn, die Generaldirektoren mit den politischen und vor allem den wirtschaftspolitischen Absichten der Parteiführung vertraut zu machen, zum anderen die Durchführung eines Erfahrungsaustauschs ... Und je weiter sich die wirtschaftlichen Schwierigkeiten zuspitzten, um so mehr wurden diese Generaldirektorentagungen zu einer Versammlung, um Druck auf mehr Leistung zu machen, während der Erfahrungsaustausch mehr und mehr in den Hintergrund geriet. ... Das war der Versuch, für nicht gelöste Planaufgaben und zusätzliche Dinge eine Zustimmung zu erhalten und sie dann abrechenbar dem Politbüro vorzulegen.
Es war ein Versuch, dieses ganze Unternehmen DDR-Industrie in irgendeiner Form zu beherrschen."
Eigentlich könnte ich an dieser Stelle meinen Beitrag beenden, aber ich möchte noch einige persönliche Erfahrungen und Schlussfolgerungen darlegen.
Für mich wie für die überwiegende Mehrzahl der Generaldirektoren waren die Leipziger Seminare mit einem sehr hohen Aufwand in der Vorbereitung verbunden, denn in den an das Forum anschließenden Arbeitsgruppen musste man in der Lage sein, über jede Plankennziffer – es waren einige Hundert – Auskunft zu erteilen.
Darüber hinaus wurden auf Kombinatsebene Vorschläge erarbeitet, was man zusätzlich zum Plan leisten konnte, denn wir wussten ja, dass eine Zusatzproduktion von uns erwartet wurde.
Ich weiß, dass fast jeder Generaldirektor mit sehr gemischten Gefühlen in das Plenum ging, immer in der Befürchtung, dass er oder sein Kombinat durch Mittag kritisiert würde.
Im Plenum wurden die Richtlinien der Wirtschaftspolitik der Partei dargelegt. Damit war jedem Teilnehmer klar, wer zukünftig Investitionen erhielt und sich des Beistandes aus der Parteiführung gewiss sein konnte. Desweiteren wurde unter dem Mantel der Loyalität zu den Beschlüssen der Partei an die persönliche Adresse der Generaldirektoren appelliert, ihre Arbeit besser zu machen und mehr Leistung zu organisieren. Das waren insbesondere die Planerfüllung und Übererfüllung.
Wenn ich zu Grunde lege, dass wir über Monate eine Plandiskussion als demokratische Form der Mitbestimmung geführt haben, kann ich diese Forderungen nach zusätzlichen Leistungen bei einem bis ins kleinste Detail bilanzierten Plan nur als Aushebelung der staatlichen Planung und als Misstrauen gegenüber den Generaldirektoren werten.
In den Arbeitsgruppen, die dem Forum folgten, wurde über die Möglichkeiten und Bedingungen zur Leistungserhöhung diskutiert. Hier hatte ich einmal das Glück, dass Alexander Schalck anwesend war. Er hörte meine Forderungen, um die kosmetische Industrie auf den wachsenden Bedarf im Inland und Export anzupassen. Von ihm bekam ich praktische Unterstützung im Hinblick auf längst notwendige Investitionen.
Aus den Aussagen von Mittag und Krömke geht hervor, dass bekannt war, dass die Leistungsfähigkeit der DDR-Wirtschaft eingeschränkt war. Dennoch tat man so, als wären bestimmte Mängel in der Wirtschaft auf die Unfähigkeit einzelner Wirtschaftslenker zurückzuführen.
Dieser Vertrauensmangel gegenüber Gleichgesinnten empört mich noch heute.
Was den Zusammenhalt der Generaldirektoren betrifft, habe ich selbst erlebt, dass es einige wenige gab, mit denen man in sehr kleinem Kreis, ja nahezu konspirativ, über die politische und wirtschaftliche Situation sprechen konnte. Jedoch sind diese Gespräche und Erkenntnisse nicht öffentlich geworden, auch aus Angst der Fraktionsbildung verdächtigt zu werden. Deshalb und auch aus Loyalität gegenüber der Partei und dem Staat blieb die Handlungsfähigkeit der Wirtschaftslenker auf ihren eigenen kleinen Bereich beschränkt.
Aus meiner Sicht haben die Leipziger Seminare keinen Beitrag zur strategischen Neuausrichtung der DDR-Wirtschaft geleistet. In dieser Hinsicht waren sie überflüssig.
Für Günter Mittag waren sie ein Instrument, die Macht der Partei und seiner eigenen zu demonstrieren, indem überhöhte Planziele und Aktionismus über die realen Entwicklungsmöglichkeiten der Wirtschaft hinwegtäuschen sollten.
Wenn ich je das Empfinden einer Diktatur gehabt hätte – das Leipziger Seminar wäre dafür ein Ausdruck gewesen.