Reihe "Hefte zur DDR-geschichte", Heft 149, 2019, 76 S.
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Klaus Gysi (1912–1999) gehörte zu den interessantesten Persönlichkeiten der DDR. Er war Leiter des Aufbau-Verlages, Kulturminister, Botschafter in Italien und Staatssekretär für Kirchenfragen. Ein Kommunist und Kosmopolit – sein Leben führte durch die Gefahren des antifaschistischen Widerstandskampfes hin zu Kampf und Konflikten um ein neues, ein sozialistisches Deutschland. Sein Intellekt, seine Gewandtheit, sein Witz und seine Kultur des Dialogs führten ihn in komplizierten Situationen der DDR zu Positionen des Brückenbaus und der dringlichen Vertrauensbildung. In einem Essay skizziert der Journalist Hans-Dieter Schütt ein Leben in den weltgeschichtlichen Prüfungen des vergangenen Jahrhunderts. Äußerungen von Zeitgenossen (Paul Oestreicher, Emine Sevgi Özdamar, Horst Dohle, Ulrike Buchmann) sowie Interviews mit Hans Modrow, Gabriele und Gregor Gysi ergänzen das Porträt.
Die Broschüre entstand im Auftrag der Hans-Modrow-Stiftung und folgt deren Anliegen, die DDR – ihr Werden, Sein und Vergehen – vor allem auch als Geschichte von Biografien zu erzählen, deren Vielfalt, Farbigkeit und Widersprüchlichkeit sich einer vereinfachenden Geschichtsschreibung entgegenstellt.
Herausgeber und Autor Hans-Dieter Schütt, Jahrgang 1948, lebt als Publizist in Berlin. Er war von 1973 bis 1989 Redakteur und Chefredakteur der FDJ-Tageszeitung "Junge Welt", von 1992 bis 2012 Feuilleton-Redakteur und -Ressortchef der Tageszeitung "Neues Deutschland". Er veröffentliche zahlreiche Biographien und Interview-Bücher, u.a. mit Hans Modrow, Ger-hard Gundermann, Inge Keller, Alfred Hrdlicka, Regine Hildebrandt, Markus Wolf, Friedrich Schorlemmer, Andreas Dresen.
Wir danken der Eulenspiegel Verlagsgruppe und dem Verlag Kiepenheuer & Witsch für die Genehmigung zum Nachdruck der im Heft angeführten Textpassagen aus Publikationen dieser Verlage.
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INHALT
Hans-Dieter Schütt
Zuvor
Paul Oestreicher
Ein deutsches Leben?
Zum ersten Todestag von Klaus Gysi 2000 8
Hans-Dieter Schütt
Die Wahrheit und die Wirklichkeit
Versuch einer Annäherung
EMINE SEVGI ÖZDAMAR
Schnaps aus den Abruzzen
ULRIKE BUCHMANN
Das ewige Humanum
HORST DOHLE
Da fuhr er aus der Haut
GREGOR GYSI
"Nicht mehr als fünf Prozent"
Ein Gespräch über Casarolis Hand, Zehlendorfer Frauen und Tartar in Schönefeld
HANS MODROW
Als Erich Honecker nur nuschelte
Ein Gespräch über demokratische Ausflüge, Blitzreaktionen und italienische Gesprächskultur
GABRIELE GYSI
Schmerz und Schabernack
Ein Gespräch über Stecknadeln, einen römischen Bettelmönch und die Provinz Deutschland
KLAUS GYSI - Lebensdaten
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LESEPROBE
Zuvor
Das Folgende ist keine Biographie, eher ein Aufsatz. Er skizziert, er umkreist, er ist Schlaglicht-Bündelung, er ist Empfindung, die sich zu ihrer Bestätigung und Prüfung einige Tatsachen, Zeugenworte und ein paar Dokumente an die Seite holt. Klaus Gysi war beruflich ein studierter Volkswirtschaftler, er war Chefredakteur, Verlagsleiter, Herausgeber, Kulturminister, Botschafter, Staatssekretär; politisch entwickelte er sich zum Kommunisten, zum Antifaschisten, zum SED-Genossen, zum demokratischen Sozialisten. Alles gebunden durch gebildeten Geist. Gebunden also durch Leidenschaft – und Vorsicht. Vorsicht, erwachsend aus Skepsis, einem wichtigen Zeichen von Intelligenz.
Beschreibt man einen Menschen, erfindet man ihn immer auch. Trotz aller realen Details und verbürgter Zusammenhänge. Die Logik eines Lebens, dessen Nach-Erzählung zum Text wird, ist doch lediglich die Logik dieses einen Textes. Der Schreibende steht zwischen Archäologie und kleiner Weltgründung, er befragt das Wesen eines Anderen und muss gestehen, dass da auch Selbstsuche im Spiel ist. Was zum Ausdruck wird, ist Eindruck auch von sich selber – während der Erkundung. Ans Werk geht man mit dem Willen, hinter das zu Beschreibende, hinter den zu Beschreibenden zurückzutreten. Zwischendurch befällt einen die Ahnung, dass es gelingen könnte. Aber wäre das wirklich allumfassend gut? Das Objektivierende, das ganz wahr sein möchte, wäre doch eine wahrlich gelogene Fiktion – die leider Farben auswüsche. Geht es um Wahrheit? Wahrhaftigkeit wäre schon viel.
Über Klaus Gysi gerade heute nachzudenken, ist ein Geschichtsbetrachten unter besonderer Spannung. Drei Zitate als Beleg. Heiner Müller notiert 1993: "Das Niveau der Debatte um DDR-Vergangenheit ist so niedrig, dass man sie als in die DDR ,Verstrickter' nur auf allen Vieren führen kann. Ich gebe zu, dass der aufrechte Gang, er ist nicht umweltfreundlich, die Menschheit viel gekostet hat und vielleicht, wenn keine Revolution ihn aufhält, nur noch ein Ziel kennt, das Nichts ... Auch die Geschichte der DDR definiert sich unter anderem durch Biographien in einem historischen Kontext, für den die Protagonisten allein nicht haftbar gemacht werden können. Die Gnade der späten Geburt ist im Osten Deutschlands erst der dritten Generation zuteil geworden."
Der Leipziger Schriftsteller Horst Drescher schreibt 2013: "Ja, wir haben schon in interessanten Jahrzehnten gelebt, freilich auch gefährlichen, man konnte schnell unter die Räder kommen, und wo war hinten, und wo war vorn. Und nur die Starken der Sensiblen haben überlebt. Hochsensibel und Hufschmiedementalität. Und Kommunismus in unseren Jahren, was für ein Acker, na ja. Und sehen wir uns an, wie sich die Reihen gelichtet haben, die Reihen der Matadoren. Und was noch nicht unter der Erde ist, das ist am Ende seiner Kunst. Es war schon was los zwischen Kriegsende und Ende Kalter Krieg. Ich rede sehr optimistisch, vielleicht ist er noch nicht zu Ende."
Der Intendant der Berliner Festspiele, Thomas Oberender, stellt 2017 in der Hamburger "Zeit" fest: "Angesichts der friedlichen Selbstauflösung der DDR erscheint es heute geradezu unwirklich, dass in der Mitte Europas, auf deutschem Boden, mehr als vierzig Jahre lang ein Land existierte, das nach 1949 die Industrien verstaatlicht und die Landwirtschaft kollektiviert hat; es entstand ein System des sogenannten Volkseigentums, der politisch gelenkten Wirtschaft, einer künstlichen Währung und sozialistischen Staatsdoktrin. Niemand will dieses System zurück, jedenfalls ich nicht, aber seine Geschichte ist reich an alternativen Denkmustern und Produktionsformen, es schuf eine andere Art von Kultur, die durch Züge des ideologischen Konformismus ebenso geprägt war wie durch klassische Bildung und ästhetische Experimente. Sich daran zu erinnern, muss erlaubt sein – genauso wie man sich auch an seine Kindheit erinnert, ohne befürchten zu müssen, reflexartig für regressiv gehalten zu werden."
Das ist er, der Ausgangspunkt jedes produktiven Erinnerns: Frag bei dem, was war, nach dem – was ist. Eine tief lotende Biographie von Klaus Gysi ist noch nicht geschrieben. Wahrscheinlich wird sie auch so schnell nicht verfasst werden – in derart schnelllebigen Zeiten, die den Preis für Aufmerksamkeit hochgetrieben haben in das unbedingt Knallfarbige und Prominenzgesicherte. Jenseits dessen lag der Existenzraum, in dem sich Klaus Gysi bewegte. Auffällig, aber nicht spektakulär. Schillernd, aber nicht vordergründig glänzend. Sein Leben belegt: Es kommt tatsächlich sehr oft anders, als man denkt. Aber sehr oft kommt es auch anders, weil man denkt.
An jedem Menschen ist aufschlussreich und bezeichnend, welche Gemüts- und Gedankenwelten seine unmittelbare Umgebung bilden. Auch Nachbarschaft ist sozusagen biografieprägend, und Nachbarschaft meint: Geistesart. Wenn dieser Publikation also ein Redetext des Theologen Paul Oestreicher vorangestellt ist, so offenbart dies den Radius, den Gysi zu schlagen vermochte – was Oestreicher an diesem Freund festmacht, umfasst zweifelsfrei nicht nur die Sphäre des Kirchlichen. Was er ausbreitet, ist Charakterbild, von allen Lebens-Stationen Gysis geformt. Gespräche mit Hans Modrow sowie Gabriele und Gregor Gysi geben familiär grundierte Auskünfte über den Porträtierten, zugleich aber auch Einblicke in eigene Auffassungen der Interviewten von Zeit und Existenz.
Diesen essayistischen Versuch danke ich der Initiative von Hans Modrow. Für Unterstützung und redaktionelle Hilfe danke ich Torsten Hochmuth.
Hans-Dieter Schütt
Januar 2019