Mit Beiträgen von
Günter Benser, Michael Brie, Holger Czitrich-Stahl, Gerhard Engel, Klaus Gietinger, Sonja Goldmann, Ursula Herrmann, Jürgen Hofmann, Rainer Holze, Volker Külow, Eckhard Müller, Manfred Neuhaus, Siegfried Prokop, Bärbel Schindler-Saefkow, Jörn Schütrumpf, Karlen Vesper, Marlene Vesper, Marga Voigt, Jörg Wollenberg
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Die vorliegende Publikation beruht auf einer Veranstaltung im Rahmen der Reihe „Rendezvous“ bei der Hellen Panke e.V. und wurde von Marlene und Karlen Vesper zusammengestellt.
Zum Geleit
„Sich treu bleiben ...“ ist unser Gedenken in memoriam für Prof. Dr. Annelies Laschitza überschrieben. Unser „Rendezvous“ ist jener Frau gewidmet, die uns großartige Seiten im Leben von Rosa Luxemburg und von deren Kampfgefährten und Wegbegleitern aufgeschlagen hat und der zuzuhören und gedanklich auszutauschen uns leider nicht mehr vergönnt ist. Unsere Hommage an die Forscherin erfolgt ganz im Sinne von Rosa Luxemburg: „So ist das Leben, und so muß man es nehmen – tapfer, unverzagt und lächelnd. Trotz alledem!“
Wir erinnern zugleich an eine bemerkenswerte Frau und Führungspersönlichkeit der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung: Rosa Luxemburg. Am 15. Januar jährte sich zum 100. Mal der an ihr und Karl Liebknecht verübte Meuchelmord. Beider Namen sind unauslöschlich mit der 1918er Revolution in Deutschland verbunden.
Die am 10. Dezember 2018 verstorbene Historikerin Annelies Laschitza hat maßgeblich die Edition der Gesammelten Werke und Briefe Rosa Luxemburgs bewerkstelligt und diese kurz vor ihrem Tod im Band 7 (1/2) „als reichlich bestücktes Gedankendepot“ (Klaus Gietinger) vollendet.
Dem „reichlich bestückten Gedankendepot“, den Erkenntnissen und Entdeckungen, dem Werk und Erbe der international anerkannten und geachteten Luxemburg-Expertin sind die hier versammelten persönlichen Erinnerungen und Debattenbeiträge von Kolleginnen und Kollegen, Freundinnen und Freunden gewidmet. Allen Autoren sei gedankt für ihre einfühlsame und erhellende Würdigung eines erfüllten Forscherlebens, das konsequent dem Bekenntnis folgte: „Sich treu bleiben und heiter sein“ – wie Annelies Laschitza ihre vorletzte Publikation titelte. Ihr Andenken bleibt bewahrt, indem wir ihre wissenschaftliche Hinterlassenschaft ausgiebig und ergiebig nutzen.
Marlene Vesper
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Marga Voigt
Ein letzter Brief
Liebe Annelies,
es drängt mich, dir diesen Brief zu schreiben. Eine verrückte Idee? Du würdest nachsichtig lächeln, bin ich überzeugt, denn vom Schreiben konntest du wohl auch nicht lassen: War das Forschen und Edieren der Schriften Rosa Luxemburgs nicht dein Leben? Du begannst es profund mit dem 100. Geburtstag von Rosa Luxemburg und hast es im 100. Jahr ihrer feigen Ermordung vollenden können – Chapeau! War ihre Lebenszeit nicht deine Forschungszeit? Mir scheint, du müsstest bis zuletzt an deinem Schreibtisch gesessen haben … Nichts schien mir im letzten Jahr unwirklicher, als die Nachricht, du seiest nicht mehr.
Erinnerst du dich an unser letztes Wiedersehen? Ende Oktober 2018 war’s; auf deiner Lesung „Sich treu bleiben und heiter sein …“ in der Galerie Olga Benario. Wie gut, dass wir beide nicht ahnten, dass es unsere letzte Begegnung sein würde. Ich hatte ein Exemplar deiner Schrift dabei und du hast sie mir lächelnd signiert.
Die Galerie war sehr gut besucht, Freundinnen holten noch Stühle herbei, damit auch jeder der Gäste einen bequemen Platz fände, dir und deinen Erinnerungen zuzuhören. Weißt du noch? Gina Pietsch, die Künstlerin, dankte dir ganz persönlich für dein wissenschaftliches Lebenswerk; denn erst durch deine außergewöhnliche Fleißarbeit sei es ihr, wie vielen anderen Menschen auch, möglich geworden, das Werk und die Briefe der Rosa Luxemburg zu lesen, zu verstehen – und zu erkennen, wie nahe sie uns ist; uns und all den anderen, die sie einfach nur Rosa nennen.
Weißt du noch? Du fragtest mich nach der Sendung, die Sigrid Hoff über Clara Zetkin im Rahmen der Reihe „100 Jahre Frauenwahlrecht“ für das Kulturradio vom RBB machte. Die Journalistin habe dich bei dir daheim besucht, um von Rosa Luxemburgs und Clara Zetkins Freundschaft und deren Kampfgemeinschaft für das Frauenrecht als Menschenrecht zu erfahren. Die Sendung „‘Der Tag wird kommen‘: Clara Zetkin und ihr Kampf für das Frauenwahlrecht“ sei schon auf dem Sender, habe dir eine Freundin erzählt. Tatsächlich – sie war es!
Ob du wohl noch Zeit und Muße gefunden hast, dir die Sendung anzuhören?
Nun ist meine letzte Begegnung mit dir, liebe Annelies, von besonderem Wert. Wir waren so heiter nach deiner Lesung – erinnerst du dich? Ich bot dir beim Verlassen der Galerie meinen Arm an und, untergehakt wie wir zwei waren, meinten die Veranstalterinnen beim Auf-Wiedersehen-Sagen lachend: Ja, nun gehen Rosa Luxemburg und Clara Zetkin gemeinsam heimwärts – nach Karlshorst.
Wie schön, dich und dein Werk kennen und schätzen gelernt zu haben; wie gut, deine Bücher in meinem Schrank zu wissen, sie jederzeit lesen und dir diesen Brief noch schreiben zu können.
Deine Marga
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Manfred Neuhaus
Ad fontes – zu den Quellen
In der von Männern dominierten Historikerzunft der DDR war Annelies Laschitza eine Ausnahmeerscheinung. Die vigilante Sächsin Annelies Wegert hatte zunächst den Beruf der Verwaltungsangestellten erlernt und bald selbst an sächsischen Verwaltungsschulen unterrichtet. Dabei verliebte sie sich im erzgebirgischen Bermsgrün in einen erfahreneren Berufskollegen – den künftigen Lebenspartner Horst Laschitza. Die im Jahr ihrer Eheschließung an der Leipziger Arbeiter- und Bauern-Fakultät (ABF) erworbene Reifeprüfung öffnete beiden den Weg zum Geschichtsstudium bei Ernst Engelberg und Walter Markov an der Karl-Marx-Universität. Wie ihre bewunderten Lehrer wurde Annelies Laschitza eine leidenschaftliche Forscherin. Beflügelt durch die Zusammenarbeit und Freundschaft mit Günter Radczun und Feliks Tych entfaltete sie ein verwegenes Editions- und Forschungsprogramm, trotzte retardierenden Umständen und fand, wenn es unumgänglich war, auch modifizierende Kompromisse.
Am Beginn steht der kategorische Imperativ der Historikerin: ad fontes – zu den Quellen. Er bewahrte sie wie ein innerer Kompass davor, auf dem schmalen Grat zwischen erwarteter Loyalität und intellektueller Selbstbehauptung die Balance zu verlieren. Ihre Rekonstruktion der Debatten, Gemeinsamkeiten und gravierenden Differenzen zwischen Rosa Luxemburg und Lenin lieferte die Argumente, um das Vollständigkeitspostulat der Editionsphilologie gegen die Zensur zu behaupten und das von Stalin, aber nicht nur von ihm, verteufelte Manuskript „Zur russischen Revolution“ 1974 im vierten Band der Gesammelten Schriften zu veröffentlichen.
Was Laschitza, Radczun und Tych leisteten, um das literarische Erbe von Rosa Luxemburg für künftige Generationen zu bewahren, ist bewunderungswürdig. Die Gesammelten Briefe und die Gesammelten Werke Rosa Luxemburgs (nunmehr insgesamt 16 Bände) gelten als internationaler Standard. Sie bieten die gesicherte Textgrundlage für moderne Ausgaben in aller Welt und gelten neben den blauen MEW-Bänden als Tafelsilber des Karl Dietz Verlages.
Große Resonanz fand daneben auch Annelies Laschitzas im Berliner Aufbau-Verlag veröffentlichte Rosa-Luxemburg-Biographie „Im Lebensrausch, trotz alledem“. Darin schildert die Autorin, sensibilisiert durch die gravierenden Veränderungen von 1989/1990, den Lebensgang ihrer Protagonistin, die zu Krieg und Frieden, Reform und Revolution, Gewalt und Terror, Demokratie und Diktatur geführten Jahrhundertdebatten, aber auch die alltäglichen Freuden, Sorgen und Liebesnöte auf eine neue Weise. Nicht jeder hat Annelies Laschitza die für ein solches Werk unabdingbare Lernbereitschaft und Gestaltungskraft zugebilligt. Wichtig war, dass Aufbau-Verleger Bernd F. Lunkewitz ihrer physischen und mentalen Konstitution vertraute. Wie hat sie 1996 während der Leipziger Buchmesse das begeisterte Publikum in überfüllten Sälen genossen!
Annelies Laschitza war mit einem großen Talent zur Freundschaft gesegnet. Ihr ungekünstelter Charme bewahrte sie vor Steifheit und Förmlichkeit. Sie zählte nie zu jenen, denen die Brust vor eigener Bedeutung schwillt. Große Erfolge, das hatte sie bald erfahren, sind selten, müssen hart erkämpft werden und kommen oft teuer zu stehen. Modischer Firlefanz und pseudogelehrtes Brimbamborium blieben ihr immer fremd.
Als 1991 zwei Leipziger Gelehrte, der bereits erwähnte Universalhistoriker Walter Markov (1909–1993) und der Philosoph Helmut Seidel (1929–2007), deren damals noch junger Historikerkollege Volker Külow und die Dresdner Bibliothekarin Juliane Krummsdorf (1930–2018) dazu aufriefen, „eine STIFTUNG ins Leben zu rufen, die sich in ihrem Wirken humanistischen Ideen und Werten – einschließlich der Ideen und Werte des demokratischen Sozialismus, der Erfahrungen der Arbeiterbewegung – verpflichtet weiß“, zögerte Annelies Laschitza keine Minute. Sie stand in der ersten Reihe, als am 23. März 1991 der Verein zur Förderung einer Rosa-Luxemburg-Stiftung gegründet wurde, hat dessen wissenschaftliches Profil wie nur wenige geprägt und die politische Bildungsarbeit viele Jahre mit Wort und Schrift beflügelt. „Rosa Luxemburg in der Verbannung? Gedanken zur gegenwärtigen und zukünftigen Rosa-Luxemburg-Rezeption“ lautete der Titel ihrer programmatischen Rede auf dem ersten Stiftungsfest am 28. März 1992. Wer den Text nach fast drei Jahrzehnten wieder zur Hand nimmt, wird staunen, wie kühn unsere Freundin vorausdachte.
Annelies Laschitza war die erste Frau im Wissenschaftlichen Beirat der Stiftung. Kühne Debatten mit damals jungen Enthusiasten wie Frank Andert, Sylva Fiedler, Carolyn Kühne und Peter Möbius über „Das Paradoxon von der ,Freiheit der Andersdenkenden‘ als editionsphilologische Aufgabe“ haben in den Annalen längst Spuren hinterlassen. Ohne den Beistand, die Inspiration und die engagierte Mitarbeit von Annelies Laschitza würde es die „Rosa-Luxemburg-Forschungsberichte“ wahrscheinlich nicht geben. Und so ist es nur folgerichtig, dass sie im Heft 14 dieser Publikationsreihe ihr Forscherinnenleben bilanziert hat: „Sich treu bleiben und heiter sein … Erfahrungen und Entdeckungen durch Rosa Luxemburg in mehr als 50 Jahren“.
Vielleicht vermag der Gedanke, dass Annelies Laschitza das Erscheinen von Heft 15 der „Rosa-Luxemburg-Forschungsberichte“ noch erlebt hat, ein wenig Trost spenden. Als die Signalexemplare am 16. November in der Tannhäuserstraße eintrafen, griff sie sichtlich angerührt, glücklich und dankbar zum Telefonhörer. Niemand konnte erahnen, dass es unser letztes Gespräch wurde. Nun werden die Hefte 14 und 15 der „Rosa-Luxemburg-Forschungsberichte“ als ihr Vermächtnis gelten.
Annelies Laschitza schuf ihr wissenschaftliches Werk als Mutter zweier Töchter und Ehefrau eines Historikers, den ein tückisches Leiden Jahrzehnte in den Rollstuhl bannte. Eigentlich ist es unmöglich über Annelies zu sprechen, ohne an Horst zu denken, die Liebe ihres Lebens, mit dem sie seit jenen fernen Tagen im idyllischen Bermsgrün fast sechs Jahrzehnte Freud und Leid geteilt hat. Von beiden können wir lernen, wie ein Leben auch unter extremen Bedingungen gelingen kann. Selten hat ein Text so angerührt wie „Leben mit Parkinson. Nicht verzagen, mutig wagen“.
Am 10. Januar 2019 nahmen Freundinnen und Freunde aus Nah und Fern, darunter auch Karl Liebknechts Enkeltochter Maja, mit den Angehörigen in Berlin Abschied von Rosas Biografin.