Von: Jörg Wollenberg
Zum Gegenstand der vorliegenden Publikation referiert der Autor am 23. September 2019 in der „Hellen Panke“ unter dem Titel
„Revolution und Erwachsenenbildung.
100 Jahre Volkshochschule – Ein Blick zurück nach vorn“.
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Autor:
Jörg Wollenberg
Prof. Dr., geb. 1937 in Ahrensbök (OH), Historiker, Erwachsenenbildner und Publizist. Er war Hochschullehrer für Weiterbildung mit dem Schwerpunkt politische Bildung an der Universität Bremen und Direktor der Volkshochschulen in Bielefeld und Nürnberg und Leiter von Arbeit und Leben in Göttingen und der HVHS Hörste/Lage.
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INHALT
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1. Zur Vorgeschichte und Ausgangslage mit dem Antagonismus von bürgerlicher Bildung und Arbeiterbildung „Wohlstand, Bildung, Freiheit für Alle“ (Westfälisches Dampfboot, 1844)
2. Ein vergessenes Kind der Novemberrevolution: Die Räteschule der Großberliner Arbeiterschaft
3. „Die Demokratie geistig unterbauen“: Die Nürnberger Volkshochschule als „Friedens- und Kulturwerk“ von 1918/19
Ein Blick auf die Gründungsgeschichte des kommunalen Bildungszentrums als Modell für heute: Nürnbergs „Freie Hochschule für Handel, Industrie und allgemeine Volksbildung“ als Gesamthochschule für Erwachsene
4. „Republik ist schon viel, Sozialismus unser Ziel“
Gustav Radbruch und die „republikanische Pflichtenlehre“ der Volkshochschule von 1919
5. „Nach innen gewinnen, was nach außen verloren war“: Der völkische Geist erobert schon 1919 die
Volkshochschulen
6. Der völkische Geist zieht 1919 in die Volkshochschule Bremen – und vom schwierigen Neubeginn nach 1945 mit
Fritz Borinski
7. Die Volkshochschule nach 1945 als Hochschule der Gesinnung und Stätte der Umerziehung – mit der nicht
eingeholten „doppelten Aufgabe, aufzuklären und mit den Folgen der Aufklärung fertig zu werden“.
(Hellmut Becker 1981)
8. Nicht Bonn wurde Weimar, aber wird Berlin Weimar?
Gustav Radbruch und die unvollendete Erneuerung nach 1945
9. „So viel Anfang war nie“ oder „Sind wir noch einmal durch die Nachkriegsteilung Deutschlands davon gekommen?“
Vom Scheitern der Neuordnung auch nach 1989/90
10. „Rückkehr unter Ruinen“ (Willy Brandt): Emigranten nach 1945 nicht immer erwünscht
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LESEPROBE
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1. Zur Vorgeschichte und Ausgangslage mit dem Antagonismus von bürgerlicher Bildung und Arbeiterbildung
„Wohlstand, Bildung, Freiheit für Alle“ (Westfälisches Dampfboot, 1844)
Im August 1844 verfasste der preußische Innenminister von Arnim einen Geheimbericht über die vormärzlichen demokratischen „Umtriebe“ im Lande Preußen an König Friedrich Wilhelm IV. Ostwestfalen fand darin besondere Aufmerksamkeit: „Zu den tätigsten und einflussreichsten Mitgliedern einer Partei in Westfalen, die durch Verbreitung der zügellosesten kommunistischen und sozialistischen Lehren die untersten Volksschichten aufzuregen versucht, gehört Dr. Otto Lüning aus Rheda.“ Lüning, der sich schon früh den Unmut des preußischen Obrigkeitsstaates zugezogen hatte, wurde 1818 als Sohn einer Bielefelder Pastorenfamilie geboren und ließ sich nach dem Studium in Rheda als Arzt nieder. Nebenher war er als Publizist tätig und redigierte die Zeitschrift „Westphälisches Dampfboot“. Das „Dampfboot“ ging davon aus, dass Bildung eine Voraussetzung für Demokratie sei. „Wohlstand, Bildung, Freiheit für Alle“ – so stand es in der Kopfleiste des Blattes. Ostwestfalen war damals ein Zentrum der Frühindustrialisierung in Rheinland-Westfalen, zugleich ein Gebiet, in dem sich früh der Konflikt zwischen Kapital und Arbeit entwickelte. 1845 kam es zur ersten großen Arbeitsniederlegung beim Bau der Bahnstrecke Hannover-Hamm; der Streik wurde von der Armee niedergeschlagen. Lüning beschrieb das politische Programm seiner Zeitschrift folgendermaßen: „Wir gehören nicht zu der Fraktion der Liberalen, welche mit der äußeren politischen Form, dem Constitutionalismus, alles erreicht zu haben glaubt ... Die Geschichte hat es deutlich gezeigt, dass der Constitutionalismus nur die Verdrängung des einen Privilegiums durch das andere, des Stammbaums durch das Kapital war ...“
Damit war die Richtung angezeigt: Das „Dampfboot“ wurde zu einer der ersten und wichtigsten frühsozialistischen Zeitschriften im damaligen Deutschland, und es war die erste in Deutschland erscheinende Publikation, die den „wissenschaftlichen Sozialismus“ im Sinne von Marx und Engels zu Wort kommen ließ und sich zugleich der allgemeinen demokratisch-liberalen Bewegung anschloss. Zum Kreis der ostwestfälischen Frühsozialisten gehörten damals neben Lüning u.a. Rudolf Rempel und Joseph Wedemeier, ein enger Freund von Karl Marx. Dieser Kreis hielt auch engen Kontakt zu Karl Grün, Moses Heß, Wilhelm Weitling, Ferdinand Freiligrath – und zu Friedrich Engels. Das „Dampfboot“ bot Erstveröffentlichungen der beiden Autoren des „Kommunistischen Manifests“, so die Auseinandersetzung von Karl Marx mit den „utopischen Sozialisten“ und Engels` Nachtrag zu seinem Buch über „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“. Die Bedeutung der Zeitschrift lag vor allem darin, dass hier noch vor dem Erscheinen des „Kommunistischen Manifests“ die Forderung nach Emanzipation der arbeitenden Klasse nicht gefühlsschwärmerisch, sondern mit einer sozial-ökonomischen Begründung propagiert wurde. Der zuständige staatliche Zensor war mit dem „Dampfboot“ derart beschäftigt, dass das preußische Kabinett ihm eine Honorarzulage bewilligen musste. Und in einer auswärtigen Zeitung hieß es im Februar 1847: „Der Ruhm Bielefelds ist so weit gestiegen, dass neulich, als ich vor dem Küster’schen Gasthause ganz gemütlich meine Cigarre rauchte, ein ankommender Reisender mich bat, ihm doch gleich einen Kommunisten zu zeigen ...“
Die Männer um das „Dampfboot“ beließen es nicht bei der politischen Publizistik. Rempel und Lüning waren westfälische Delegierte beim 1. Deutschen Demokratenkongreß im Juni 1848 in Frankfurt, und im September desselben Jahres beriefen sie den 1. Westfälischen Demokratenkongreß nach Bielefeld ein. Als die revolutionäre Entwicklung sich zuspitzte, gingen Lüning und Wedemeier nach Frankfurt. Dort gaben sie die „Neue deutsche Zeitung“ heraus, das Organ der Linken in der Paulskirchenversammlung. Rempel gründete in Bielefeld den „Volksfreund“, ein Wochenblatt, das zum Organ der „sozialen Demokratie“ in Westfalen wurde und ein Vorläufer für die Sozialdemokratie der siebziger Jahre bildete. Als Verleger trat erneut August Helmich auf, gedruckt wurde bei J.D. Küster Witwe in Bielefeld. Wiederum stand auf dem Titelblatt der Zeitschrift die Parole: „Wohlstand, Bildung, Freiheit, für Alle“.
Das Scheitern der 1848er Revolution und der Sieg der Reaktion in Deutschland zerschlugen alle diese Ansätze. Lüning emigrierte zeitweilig und wandte sich später resigniert den Liberalen zu. Als er 1868 im Alter von 50 Jahren starb, waren es Arbeiter, die ihn zu Grabe trugen.[1]
Dieser Kreis von linken Demokraten und Frühsozialisten traf sich in der Kneipe des Bierbrauers Christian Nasse an der Bielefelder Kreuzstraße, ein ausgewiesener Treffpunkt der 1848er Demokraten. Sie richteten im Jahre 1843 eine etwa zwanzig Personen umfassende „Literarische Gesellschaft“ ein, deren Sprecher Nasse, Rempel und der Buchhändler Julius Helmich waren. Diese Bielefelder Lesegesellschaft pflegte frühsozialistische („wahrsozialistische“) Gedanken und gründete 1844 den „Verein für das Wohl der arbeitenden Klassen“ für die Kreise Bielefeld-Wiedenbrück. Der Sieg der Obrigkeitsstaaten in Deutschland über die revolutionäre Bewegung von 1848/49 verdrängte die Erinnerung an Lüning und Rempel, an das „Dampfboot“ und den „Volksfreund“ aus dem öffentlichen Bewusstsein. Die Sieger schrieben die Geschichte, und die ostwestfälischen Frühsozialisten, ebenso wie das „Dampfboot“ als erste „marxistische“ Zeitschrift sanken ab in den Bereich der unterdrückten Bildungsinhalte.[2]
Auch die Erinnerung an die 1848 gegründete „Arbeiterverbrüderung“ von Stephan Born ging ebenso verloren wie zuvor schon die an die weit verbreiteten Lesegesellschaften der deutschen Jakobiner als erfolgreiche Frühformen der Volksbildung besonders im Norden Deutschlands. Einer ihrer Repräsentanten und Anhänger der Mainzer Republik von 1793, Georg Friedrich Rebmann, hatte 1798 die Parole verkündet, die noch heute an Defizite in einem Land erinnert, das 1945 eher durch eine Fremdbefreiung den Weg zu Demokratie fand:
„Ein Volk muss seine Freiheit selbst erobern, nicht zum Geschenk erhalten!“[3] Aber der Kampf um Arbeiterbildung und Volksbildung ging weiter. Es war ein Kampf zwischen zwei Richtungen im Gefolge der „deutschen Doppelrevolution“ (H.U. Wehler), die in zwei Festreden von 1861 und 1872 ihren Ausdruck finden: „Wissen ist Macht – Macht ist Wissen“ von Wilhelm Liebknecht. Eine Festrede, gehalten aus Anlass des Stiftungsfestes des Dresdener Bildungsvereins am 5. Februar 1872 als Antwort auf die gescheiterte politische Revolution von 1848/49. Verfasst auch als Gegenrede zu „Arbeit und Bildung“, der Festrede von Hermann Schulze-Delitzsch vom 4. Februar 1861 im Berliner Handwerker-Verein, in der er als einer der Gründungsväter des deutschen Genossenschaftswesens die Folgen der erfolgreichen industriellen Revolution der 1840er Jahre für die Bildungsarbeit thematisierte. Wilhelm Liebknechts Plädoyer von 1872 für eine Erziehung zur Selbsttätigkeit stieß in den frühen Arbeiterhochburgen auf unterschiedliche Resonanz, vor allem seine Forderung, „dass die Haupttätigkeit des Arbeiters sich auf die Umgestaltung der staatlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse zu richten habe, und dass die ausschließliche Verfolgung von Bildungszwecken für den Arbeiter nichts sei als eine zeitraubende Spielerei, welche weder dem einzelnen noch dem ganzen zum Vorteil gereicht“. Und fortan gehören die Spannungsfelder unterschiedlicher gesellschaftlicher Interessen in der Volksbildung zur Kontinuität der Arbeit.[4]
Auch nach 1918 waren in der Volksbildung die Gegensätze zwischen den konservativen, liberalen und sozialistischen Richtungen nicht zu übersehen. Trotz des singulären staatlichen Verfassungsauftrags gelang es in der Weimarer Republik nur in wenigen Großstädten, diese Gegensätze in den VHS-Konzepten zu überwinden. Das ist umso erstaunlicher, weil die von bürgerlich-liberalen Vertretern um Schulze-Delitzsch in den 1840er Jahren des 19. Jahrhunderts initiierten Arbeiterbildungsvereine zugleich die ersten Vorläufer der politischen Organisationen der Arbeiterbewegung waren. Aber erst 1863 (ADAV mit Ferdinand Lassalle) und 1869 (SDAP mit August Bebel und Wilhelm Liebknecht) entstanden die ersten sozialdemokratischen Parteien als soziale Bewegung mit umfassendem historisch-politischen Anspruch. Sie rezipierten die marxistische Theoriebildung und zielten darauf ab, mit Hilfe der Aufklärungsarbeit und Wissensaneignung Arbeiter zu befähigen, den politischen Kampf um eine andere, gerechtere Gesellschaftsordnung erfolgreich zu bestehen. Neben den von Wilhelm Liebknecht und August Bebel 1868 durchgesetzten autonomen und sozialistischen Arbeiterbildungsvereinen gab es weiterhin bürgerlich-liberale und konfessionelle Bildungseinrichtungen für Arbeiter und Handwerker. Die von „Katheder-Sozialisten“ wie Hermann Schulze-Delitzsch 1861 vor dem Berliner Handwerkerverein geforderte Versöhnung von Arbeit und Bildung sollte als eine gegen die erstarkende Sozialdemokratie gerichtete Erziehung zum loyalen, untertänigen Staatsbürger in den Bildungsbestrebungen einzelner Unternehmer wie in der 1871 gegründeten „Gesellschaft für Verbreitung von Volksbildung“ ihre Fortsetzung finden. Sie konzentrierte sich vornehmlich auf Elementarbildung, auf naturwissenschaftlich-technische und handwerkliche Grundqualifikationen sowie auf die soziale und kulturelle Integration der Arbeiterschaft in die bürgerliche Kultur und Gesellschaft.
Die Ausrufung der Weimarer Verfassung und die verfassungsrechtlich abgesicherte und staatlich geförderte Volksbildung forderten beide Hauptrichtungen ab 1919 auf, zusammenzuarbeiten und die Republik gegen die schon 1918 einsetzenden Gegenbewegungen aus den nationalkonservativen und völkischen Lagern zu verteidigen. Das misslang in Arbeiterhochburgen wie in Bremen und in der Regel im ländlichen Raum. Dagegen gelang es in Kiel, Nürnberg, Leipzig, Berlin und Breslau mit Gustav Radbruch, Hermann Baege, Eduard Brenner, Hermann Heller, Paul Hermberg, Gertrud Hermes, Theodor Geiger, Fritz Karsen, Käte und Hermann Duncker, Herbert Schaller, Alfred Mann und Walter Fabian eine Vorreiterrolle bei dem Versuch wahrzunehmen, den Weimarer Verfassungsauftrag als „republikanische Pflichtenlehre“ in der Volkshochschule zu verankern. In dem vom Deutschen Volkshochschulverband und vom Deutschen Institut für Erwachsenenbildung herausgegebenen Jubiläumsband zu „100 Jahre vhs“ kommen viele von ihnen kaum oder nicht zu Wort.[5] Sie haben mich dagegen geprägt und zu einem Außenseiter der Zunft werden lassen. Doch zuvor ein Hinweis auf ein auch in der Arbeiterbewegung vergessenes Kind der Novemberrevolution: Die Freie Hochschule für Proletarier vom März 1919
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[1] Vgl. zum „Dampfboot“ Klaus Gutbrod, Arno Klönne, Jörg Wollenberg: Spuren. Aus der Geschichte der Volk- und Arbeiterbildung in Bielefeld, hrsg. von Arbeit und Leben Bielefeld, 1985, S. 2–4.
[2] Zur weiteren Geschichte der Volksbildung in Bielefeld siehe „Freiheit, Wohlstand, Bildung für alle!“ 150 Jahre Volksbildung – 50 Jahre Arbeit und Leben. Das Beispiel Bielefeld – eine Spurensuche, in Jörg Wollenberg, Die andere Erinnerung. Spurensicherung eines widerständigen Grenzgängers. Bd. II, Bremen 2017, S. 290–308.
[3] Vgl. Walter Grab, Ein Volk muss seine Freiheit selbst erobern. Zur Geschichte der deutschen Jakobiner, Wien 1984.
[4] Vgl. dazu Jörg Wollenberg, Arbeiterbildung, Haupttendenzen der Bildungsarbeit von Gewerkschaften und Arbeiterparteien in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Studienbrief Nr. 3865 für den Fachbereich Erziehungs- und Sozialwissenschaften der Fernuniversität/ Gesamthochschule, Hagen 1983 mit dem Abdruck der Reden.
[5] Josef Schrader/ Ernst Dieter Rossmann (Hrsg.), 100 Jahre Volkshochschulen – Geschichten ihres Alltags, 2019.