Publikationen

Suchmaske
Suche schließen

Heft 63: Klassenpolitik

Erneuerung – Erweiterung – Entgrenzung

Von: Frank Engster - Janina Puder - Hans Rackwitz - Sebastian Friedrich - Friederike Beier - Luise Meier - Christian Frings - Katja Diefenbach

Heft 63: Klassenpolitik

Reihe "Philosophische Gespräche", Heft 63, 2020, 72 S.

Das vorliegende Heft versammelt die Beiträge der Konferenz „Klasse im 21. Jahrhundert“, die am 19. Oktober 2019 von der Hellen Panke e.V. in Kooperation mit Dr. Falko Schmieder und Dr. Patrick Eiden-Offe vom Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung organisiert wurde.
--------------------------------------------------------------------------------------

Inhalt

Vorwort
Klasse im 21. Jahrhundert
von Frank Engster                                                                                       

Janina Puder/Hans Rackwitz
Klassen gestern und heute – Entwicklungen in der Klassentheorie im Überblick    

Sebastian Friedrich
Grundzüge Neuer Klassenpolitik
Eine strategische linke Perspektive jenseits des rechten Albtraums und des neoliberalen Status-Quo    

Friederike Beier
Klasse, Geschlecht und die globale Regierung sozialer Reproduktion 

Luise Meier
Sandkörner im Getriebe der Reproduktionsmaschine? 

Christian Frings 
„Der verfemte Teil“: Pöbel, Lumpen und Kinder 

Katja Diefenbach
Antonio Negri, oder: der verfemte Teil der Klasse
------------------------------------------------------------------------------

LESEPROBE

 Vorwort
Klasse im 21. Jahrhundert 

Der Begriff der Klasse ist zurück! Allerdings kehrt die Klasse in der gegenwärtigen Diskussion nicht unvermittelt wieder, vielmehr hat der Klassenbegriff eine Geschichte der Abkehr, der Erweiterung und der Entgrenzung durchlaufen.

Da war zunächst die Abkehr vom Klassenbegriff in der Herausbildung der Neuen Linken und der Neuen Sozialen Bewegungen im Zuge des langen Jahres 1968. Sie führte für Jahrzehnte, so der Vorwurf, in eine Identitätspolitik, in der sich die Linke einer selbstreferentiellen Beschäftigung hingab – bis sie schließlich, wie Didier Eribon in seiner Rückkehr nach Reims, vor den Folgen eines unterbrochenen, ja abgerissenen Verhältnisses stand. Vor allem der Kontakt mit demjenigen Teil der Klasse, der sich mittlerweile dem sog. Rechtspopulismus hingibt, scheint verloren gegangen zu sein.

Die Frage ist allerdings, ob die Abkehr nicht einerseits einen affirmativen Arbeits- und einen verengten Klassenbegriff aufgebrochen hat, und ob dadurch andererseits nicht gesellschaftliche Widersprüche eingebracht wurden, die gerade der Diversität in der Klassenzusammensetzung sowie in den Herrschaftstechniken gerecht werden und die Macht- und Herrschaftserfahrungen berücksichtigen, die noch neben oder gar jenseits ökonomischer Interessen und Ausbeutung stattfinden.

Es waren vor allem zwei Öffnungen, die den Klassenbegriff regelrecht aufgebrochen haben. Zum einen machten die feministische Intervention und die postkoloniale Theorie die übergreifende Reproduktion der Arbeits- und Klassenverhältnisse sichtbar, und mit ihr eigenständige Herrschaftsverhältnisse. Mehr noch, sie machten einerseits die Mechanismen sichtbar, die diese beiden Herrschaftsverhältnisse im Bereich des Ökonomischen gerade unsichtbar machen (etwa indem die Bedeutung der Sklaverei für die ursprüngliche Akkumulation oder indem die Bedeutung von Haus- und Sorgearbeit für die Reproduktion der Arbeitskraft und der Arbeiterklasse unsichtbar gemacht wird), und die andererseits eine außerökonomische Sichtbarkeit durch rassistisch-kulturalistische und sexistisch-patriarchiale Ideologien und Naturalisierungen dieser beiden Verhältnisse herstellen. Kurz, Feminismus und postkoloniale Theorie machten auf blinde Flecken im bürgerlich-kapitalistischen Selbstverständnis aufmerksam, aber auch auf weiße Flecken im Marxismus und bei Marx selbst.

Zum anderen erfuhr die Klasse aber auch Öffnungen durch eine regelrechte Entgrenzung des Klassenbegriffs, etwa durch Konzeptionen der Multitude, durch Körper- und Tierpolitik, durch die kritische Geographie oder durch die Integration neuer Technologien in das „Humane“. Diese Entgrenzungen führten jenseits des rein Ökonomischen, sie führten aber auch zu anderen Ökonomien: Ökonomien der Psyche, des Subjekts, des Wunsches und Begehrens, des Sexes und der Geschlechter usw.

Die Rückkehr des Klassenbegriffs muss demnach 1. die Aufarbeitung und Aktualisierung, 2. die Öffnung und Erweiterung und 3. die Entgrenzung aufnehmen, die der Klassenbegriff vor allem nach 1968 erfahren hat. Allerdings scheint das die Klassenpolitik in eine Unübersichtlichkeit und Unverbundenheit zu führen: Bei aller Anstrengung um ein „Patchwork der Minderheiten“, um „Tripple-Opression“ und „Intersektionalität“ oder um eine „Mosaik-Linke“ fehlt die Übereinkunft in einem Universalismus, wie er in einer Politik im Namen der Arbeit und der Arbeiterklasse einst möglich schien.

Die Konferenz Klasse im 21. Jahrhundert, ausgerichtet im Oktober 2019 in Berlin von der Hellen Panke (Frank Engster) in Kooperation mit Patrick Eiden-Offe und Falko Schmieder vom Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin, sollte im angedeuteten Sinne eine Art Aufarbeitung und Aktualisierung vornehmen, und zwar über den Dreischritt Erneuerung, Erweiterung und Entgrenzung.

Im ersten Block ging es um die Geschichte, die Aktualität und die Erneuerung des Klassenbegriffs, hier präsentierten Janina Puder und Kim Lucht erste (Zwischen-)Ergebnisse des Projekts Klassenanalyse Jena. Sebastian Friedrich, der für das erste Panel vorgesehen war und kurzfristig absagen musste, hat seinen Beitrag ebenfalls zur Verfügung gestellt.

Im zweiten Block, in dem es um die Erweiterungen des Klassenbegriffs ging, thematisierten Luise Meier unter dem Titel „Friktionen in der Reproduktionsmaschine“ und Friederike Beier Ansätze aus dem Feminismus sowie der sogenannten Social Reproduction Theory, die Klasse von Reproduktionsverhältnissen her begreift.

Im dritten Block schließlich ging es – um nach der Erneuerung und nach der Erweiterung des Klassenbegriffs den Dreischritt zu vollenden – um die Öffnungen, Supplementierungen und Entgrenzungen des Klassenbegriffs. Christian Frings und Katja Diefenbach widmeten sich in Anspielung auf Georges Bataille jeweils einem „verfemten Teil“, nämlich zum einen „Pöbel, Lumpen und Kinder“ und zum anderen Negris’ Konzept der Multitude. Mit diesen „Mutationen“ des Klassenkampfes – d.h. mit Auswüchsen, die zwar zur Klasse und zum Klassenkampf dazugehören, aber irgendwie störend auffallen und unbewältigt geblieben sind, die jedenfalls weder in den Klassenkampf ohne Weiteres integrierbar noch dauerhaft ausgrenzbar sind – wurde die Konferenz abgeschlossen. Zusammengenommen bieten die vorliegenden Beiträge eine Art Bilanz und Gesamtschau, zum einen der Konferenz und zum anderen ihres Themas.

Frank Engster

  • Preis: 4.00 €
  • Erscheinungsjahr: 2020