Von: Stefan Bollinger, Ronald Friedmann, Mirjam Sachse, Gerhard Weiß
Reihe "Pankower Vorträge". Konferenzbeiträge in 2 Heften (Heft 234 und Heft 235) - 2021
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Zum Thema Nur eine Episode? Das gemeinsame Handeln von Linken und Demokraten gegen den Kapp-Putsch 1920 fand am 4. März 2020 eine Konferenz der "Hellen Panke" e.V. – Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin statt.
Die Beiträge sind in 2 Heften (PV 234 und PV 235) veröffentlicht.
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Autoren:
Stefan Bollinger, Dr. sc. phil., Politikwissenschaftler und Historiker, Stellv. Vors. der "Hellen Panke" e.V., Berlin
Ronald Friedmann, Dr., Historiker
Holger Heith, MA, Historiker, Stellv. Archivleiter, Archiv für soziale Bewegungen Bochum
Mario Hesselbarth, Historiker, Jena
Mirjam Sachse, Dr., Historikerin, Projektmitarbeiterin, Archiv der deutschen Frauenbewegung Kassel
Marga Voigt, Slawistin. wissenschaftliche Bibliothekarin, Berlin
Gerhard Weiß, Dr., Historiker, Hamburg
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INHALT
Heft 234
Stefan Bollinger
Gegen den Kapp-Putsch 1920 – nur eine Episode?
Vorbemerkungen
Stefan Bollinger
Faschismus und Reaktion sind aufhaltbar
Erfahrungen eines Kampfes
Ronald Friedmann
Gegen Kapp, Lüttwitz und Co.! Und für eine neue Revolution?
Gerhard Weiß
Kapp-Putsch und Gegenbewegung – Generalstreik und bewaffneter Kampf für Republik, Demokratisierung und Sozialismus
Mirjam Sachse
Frauen gegen den Kapp-Putsch
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Heft 235
Stefan Bollinger
Gegen Kapp – Vorbemerkung
Mario Hesselbarth
Zum Generalstreik gegen den Kapp-Lüttwitz-Ludendorff-Putsch in Thüringen
Holger Heith
Die Rote Ruhrarmee und ihre erinnerungspolitischen Nachwirkungen
Anhang
Marga Voigt
Clara Zetkin: Der Kapp-Lüttwitz-Putsch – Fortentwicklung der bourgeoisen Klassendiktatur
unter demokratisch-sozialdemokratischer Firma (2 Dokumente)
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LESEPROBE (Heft 234)
Stefan Bollinger
Gegen den Kapp-Putsch 1920 – nur eine Episode?
Vorbemerkungen
Im März 1920 schlägt die Konterrevolution zurück. Militärs, Ministerialbürokraten, im Hintergrund Männer des Großkapitals wollen mit Novemberrevolution, Weimarer Republik, Demokratie und den Linken abrechnen. Aber sie stoßen auf Widerstand. Nicht die Regierung und ihr bewaffneter Arm, die Reichswehr, bieten dem reaktionären Treiben eine Abwehrschlacht. Es sind die einfachen Arbeiter, organisiert und unorganisiert, die Arbeiterorganisationen, die Arbeiterparteien und die Gewerkschaften. Generalstreik! Ein historischer Kontrapunkt eines erfolgreichen gemeinsamen Kampfes der Arbeiterparteien, aber auch demokratischer Kräfte gegen die faschistische Reaktion. Der Putsch bricht zusammen. Die Anführer flüchten. Aber die reaktionären Militärs werden wieder gebraucht, denn Arbeiter mit Waffen in der Hand bedrohen nicht nur Putschisten, sondern die gegebene, ach so demokratische Ordnung. Hier geht es um die Komplexität der damaligen Vorgänge, die Schwierigkeit und die Möglichkeit des zeitweiligen Zusammenwirkens politisch sehr unterschiedlicher Kräfte, aber auch die trotz des Erfolges fest verwurzelten antikommunistischen, faschistischen, generell reaktionären Positionen und Handlungen (auch gegen die Verteidiger der Republik) in den Machtorganen der Weimarer Republik.
Dass geschichtliche Ereignisse vor allem dank runder Jahrestage wieder in das gegenwärtige Bewusstsein rücken, ist leider keine ganz neue Beobachtung und für die interessierten wie wissenden Historiker Fluch und Segen in einem. Trotzdem helfen Jubiläen sich zu erinnern, genauer zu analysieren, vielleicht nach Parallelen und Schlussfolgerungen für die Gegenwart zu suchen. Zu den bemerkenswertesten Entwicklungen seit 2014 gehört, dass die Zeit vor jeweils 100 Jahren neu befragt wird. Die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg und die revolutionären Erschütterungen der Folgejahre, auch die Verklärung der deutschen Zwischenkriegszeit, der vermeintlich "Goldenen Zwanziger" hat ein wenig der permanenten Zurschaustellung der 12 Jahre faschistischer Diktatur den Rang abgelaufen.
Das hat offenbar damit zu tun, dass im breiten Publikum nach dem Ende der Systemauseinandersetzung, dem Untergang des Realsozialismus und der großen Weltwirtschaftskrise seit 2007 begriffen wird, dass wir nicht in das "Ende der Geschichte" (Francis Fukuyama) eingetreten sind, sondern wir wieder in eine Umbruchssituation mit politischen und sozialen Erschütterungen, mit permanenten politischen und militärischen Konflikten geraten sind. Das Rückerinnern auf die Zeit vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg liegt da für viele nahe. Das heißt auch die Angst, dass die heutige Demokratie, der Wohlstand von diesen Konflikten erschüttert sind und dass die vergessen geglaubte rechtsextremistische, einige sprachen auch offen von der faschistischen Gefahr, mit ihrem Hass auf alle Fremden, ihrem übersteigerten Nationalismus und ihrer Demokratiefeindlichkeit die Oberhand gewinnen könnten.
Verstärkt wird gefühlt, dass die Weichenstellungen von 1914, 1917 und 1918 entscheidend für die dunkelsten und blutigsten Jahre deutscher Geschichte waren. Die Aufmerksamkeit, die der unmittelbaren Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges eingeräumt wird, die Suche nach den Gründen dieses ersten großen europäischen und weltweiten Waffenganges des 20. Jahrhunderts, aber auch deren Konsequenzen haben eine breite Fülle wissenschaftlicher und populärer Publikationen angeregt. Überaus erstaunlich war die Aufmerksamkeit, die dem Ende dieses Weltkrieges in Deutschland zugemessen wurde. Es ging nicht mehr allein um den Waffenstillstand im Wald von Compiègne oder den Friedensvertrag von Versailles, um den eher allgemeinen Verweis auf die Abdankung des Kaisers und den Übergang zur Weimarer Republik.
Die revolutionären Prozesse selbst, die Konkurrenz der parlamentarischen deutschen Republik der Mehrheitssozialdemokratie mit der sozialistischen Republik der linken spartakistischen Radikalen der USPD (und bald der KPD) geriet in den Fokus. So begeistert in den offiziellen Würdigungen die Weimarer Republik, die Weimarer Rechtsverfassung, das Frauenwahlrecht gefeiert wurden, so wenig wurde nunmehr aber auch die politische und militärische Auseinandersetzung um die Ausrichtung der Novemberrevolution ausgeblendet. Es war sichtlich ein blutiger Beginn der deutschen Republik, die in der Kontinuität von Militär, Justiz, Beamtenapparat und dem weitest gehenden Verzicht auf Eingriffe in die Eigentumsverhältnisse von Großkapital und Großgrundbesitz die Keime des undemokratischen, diktatorischen Untergangs in einer von den Eliten gewollten faschistischen, antikommunistischen und antidemokratischen Diktatur in sich trugen.
Die Helle Panke hat sich diesen Ereignissen – teilweise mit Partnern – wiederholt gewidmet, Konferenzen organisiert und Publikationen vorgelegt.(1)
Im März 1920 gab es mit dem Versuch eines reaktionären Putsches der Kapp, Lüttwitz, Hindenburg den Versuch, erneut die Geschichte zurückzudrehen und selbst die überschaubaren demokratischen Errungenschaften der Novemberrevolution zunichte zu machen. Noch einmal stieß dieser Versuch in einer seit dem November 1918 nicht mehr erlebten demokratischen Breite von Sozialdemokraten, Sozialisten, Kommunisten, Anarchisten und bürgerlichen Demokraten als einer zwar vom ADGB und den Arbeiterparteien aufgerufenen, aber doch spontanen Bewegung von unten mit Generalstreik und bewaffnetem Kampf auf entschiedenen Widerstand.
Den Ereignissen ging die "Helle Panke" im März 2020 nach. Stefan Bollinger (Berlin) beschäftigte die Frage, welche Bedeutung dieser Kampf gegen den frühen Faschismus haben konnte und reklamierte die Bedeutung des politischen Generalstreiks als Kampfmittel für die Vertiefung von Demokratie und sozialen Wandel. Ronald Friedmann (Berlin) und Gerhard Weiß (Hamburg) analysierten in ihren Beiträgen detailliert die Ereignisse von 1920 mit ihren Zusammenhängen und Chancen, aber auch Grenzen. Mario Hesselbarth (Jena) unternahm eine regional bezogene Untersuchung des Generalstreiks und der Abwehrkämpfe von 1920 im Thüringer Raum. Holger Heith (Bochum) analysierte die Auseinandersetzungen im Ruhrgebiet und die Rolle der Roten Ruhrarmee ebenso wie ihre Nachwirkungen in der Geschichte von BRD und DDR. Mirjam Sachse (Kassel) öffnete den Blick auf die Rolle der Frauen während des Kapp-Putsches. Als Anhang wurde nachträglich ein eingereichter Beitrag von Marga Voigt (Berlin) aufgenommen, der die zeitgenössischen Analysen der KPD-Politik durch Clara Zetkin an Hand von zwei Archivfunden dokumentiert.
Es ist die Geschichte eines erfolgreichen Kampfes gegen die Reaktion, eines in der deutschen Geschichte seltenen Zusammenwirkens von Linken und Demokraten mit sonst unterschiedlichen, oft konträren theoretischen Positionen und praktischen Politiken. Das ist das Wichtige und Bleibende des Kampfes gegen den Kapp-Putsch.
Nachdenklich macht allerdings ein wesentlicher Umstand: Schnell zeigte sich die Brüchigkeit dieses Widerstandes, der nach seinem Erfolg, der Vertreibung der Putschisten, nicht mehr den nötigen Zusammenhalt hatte und schnell die Frontstellung der vergangenen zwei Jahre wiederherstellte: Eine mehrheitssozialdemokratisch geführte Reichsregierung, die die gerade als Putschisten aktiven und nur durch die kämpfenden Volksmassen gebändigten Freikorps, Sicherheitspolizei und Rechtswehr stützte und sie nun gegen die immer noch widerständigen bewaffneten Arbeiter ins Feld schickte. Sie stellten blutig "Ruhe und Ordnung" wieder her.
Die weitere Geschichte der Weimarer Republik, der antifaschistische Kampf, die Politik linker Parteien in den beiden Deutschländern nach 1945, vielleicht auch das Nebeneinander und seltenere ernsthafte Miteinander der Linken im vereinten Deutschland konnte und könnte von diesem historischen Moment der Einheit zehren – leidet aber auch an dem permanenten Konflikt, der damals nur wenige Tage ruhte.
Fußnote
(1) "Helle Panke" e.V. – Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin (Hrsg.): Gegen den Krieg! Für den Sozialismus? Arbeiterbewegung und linke Intellektuelle gegen den Ersten Weltkrieg. Materialien einer Konferenz (= Pankower Vorträge. H. 204). Berlin 2016; dies. (Hrsg.): Das Echo der russischen Revolutionen. Russland von innen und von außen 1917–1922. Teil 1 (= Pankower Vorträge. H. 212). Berlin 2017; dies. (Hrsg.): Das Echo der russischen Revolutionen. Von Deutschland bis Lateinamerika. Eine Welt im Umbruch (1917–1922). Teil 2. (= Pankower Vorträge. H. 213). Berlin 2017; dies. (Hrsg.): Revolution gegen Kaiser und Krieg 1918/19. Für demokratische Republik, Frieden und Sozialismus? Teil 1: Zum Platz der Novemberrevolution in der Geschichte. (= Pankower Vorträge. H. 219). Berlin 2018; dies. (Hrsg.): Revolution gegen Kaiser und Krieg 1918/19. Für demokratische Republik, Frieden und Sozialismus? Teil 2: Akteure der Novemberrevolution. (= Pankower Vorträge. H. 220). Berlin 2018; Axel Weipert/Stefan Bollinger/Dietmar Lange/Robert Schmieder (Hrsg.): Eine zweite Revolution? Das Frühjahr 1919 in Deutschland und Europa. Berlin 2020
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Stefan Bollinger
Faschismus und Reaktion sind aufhaltbar
Erfahrungen eines Kampfes
Ein Putsch mit Ansage
13. März 1920, die Reichshauptstadt wird vom Marschtritt schwerbewaffneter Soldateska erschüttert. Unter ihnen die Marine-Brigade Ehrhardt, ein Elite-Freikorps mit Kampferfahrung gegen die bolschewistische Revolution in Russland und aus den Kämpfen gegen die Ausläufer der deutschen Novemberrevolution. Kehlig dröhnt ihr Lied: "Hakenkreuz am Stahlhelm, / Schwarz-weiß-rotes Band, / Die Brigade Ehrhardt / Werden wir genannt. Die Brigade Ehrhardt / Schlägt alles kurz und klein, / Wehe Dir, wehe Dir, Du Arbeiterschwein."[1]
Die Gegenrevolution marschiert. Die reaktionären Truppen wollen sich nicht auflösen lassen, was nach der scheinbaren politischen Beruhigung im Anschluss an die deutsche Revolution, der auch von der Entente tolerierten Niederschlagung sozialistischer Revolutionsversuche im Baltikum und im Gefolge der ebenso klaren wie radikalen Abrüstungsforderungen des Versailler Vertrages auf der Tagesordnung stand. Ein solch geschliffenes Schwert wollten die alten Eliten und ihre gehobenen Kommissköppe nicht preisgeben.
Deutschland war nach der Revolution vom November 1918 dank der Einhegungspolitik der neuen Reichsregierung unter dem Sozialdemokraten Friedrich Ebert eigentlich in ruhigeres Fahrwasser gekommen. Ebert und sein Reichswehrminister Gustav Noske verhinderten ein Vorantreiben der Revolution, das Durchsetzen ihrer radikalen Forderungen nach Sozialisierung, Zerschlagung des Militarismus, Ausschaltung der alten Eliten, gar eine basisdemokratische Rätemacht. Die revolutionäre Hoffnung auf eine Räteherrschaft war den Arbeitern und Arbeiterinnen durch die sozialdemokratischen Führer ausgeredet worden. Eine Nationalversammlung und eine zwar durchaus demokratische, auch sozial potente Weimarer Verfassung (mit ihren allerdings auch antidemokratischen und diktaturebenden Klauseln) war die Alternative. Entschlossen, wenn auch zunächst nicht erfolgreich, hatte die MSDP-geführte Reichsregierung gemeinsam mit dem Militär versucht, alle Ansätze einer revolutionären Gegenmacht zu neutralisieren, auch gewaltsam zu liquidieren.
Es fing am 6. und 24. Dezember 1918 in Berlin an, es folgten die provozierten Januarkämpfe und der blutig erstickte Generalstreik im März 1919. Die unheilige Allianz einer Reichsregierung, die für Ruhe und Ordnung stehen wollte mit den alten Machteliten, ließ in Zeiten der militärischen Niederlage in Gestalt der mindestens 120 Freikorps, bald auch der militärisch hochgerüsteten Sicherheitspolizei, der Einwohnerwehren und diverser anderer militärischer und paramilitärischer Formationen eine geballte Kraft der Konterrevolution entstehen, die von der demokratischen, ja sozialdemokratischen Regierung zur "Verteidigung der Demokratie" eingesetzt werden sollte.
Die Niederschlagung der Januarkämpfe, die Ermordung der populärsten linken Führer Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, die Niederwerfung der Märzkämpfe 1919, die Zerschlagung der Volksmarinedivision und der rücksichtslose "Befriedungs"marsch der Freikorps durch das ganze Reich hinterließen 1919 eine Blutspur. Spartakisten, Kommunisten, Unabhängige Sozialdemokraten, Aktivisten und noch viel mehr einfache Arbeiterinnen und Arbeiter, Bürgerinnen und Bürger wurden in dieser Blutorgie ermordet und die Täter blieben straffrei oder erhielten Bagatellstrafen. Alle Versuche einer Rätemacht, ob in Bremen oder Bayern oder anderswo, gingen im Kugelhagel unter. Deutsche Truppen setzten gegen deutsche Bürger, deutsche Arbeiter die Waffen des Weltkriegs ein: Panzer, Flammenwerfer, Flugzeuge, Giftgas.
Dennoch (oder gerade deswegen) waren die Freikorps auch noch Anfang 1920 die verlässlichen Truppen, auf die sich ihr Reichswehrminister Noske und sein Kanzler Gustav Bauer gerne stützen würden. Sie hatten noch im Januar 1920 in die Auseinandersetzungen um das Betriebsrätegesetz blutig eingegriffen und wurden im Osten des Reiches gegen polnische Aufständige benötigt. Die Reichsregierung hatte sich Zeit gelassen, die Versailler Forderungen zu erfüllen und sie hätte es gerne weiter vermieden. Nun drängten die Siegermächte auf Abrüstung, stand die Regierung unter Druck, die 400.000 Mann in kurzer Zeit auf 100.000 zu reduzieren. Zudem war sie gleichzeitig mit dem Umstand konfrontiert, dass die sie tragenden Arbeiterklasse unverändert gespalten war. Links von der MSPD traten Parteien an, die die Novemberrevolution vollenden wollten und Ebert, Scheidemann und Bauer die Vorherrschaft streitig machten. Die mitgliederstarke USPD betonte ihren revolutionären Kurs. Die die noch schwache, ebenso radikale, wenn auch noch politisch unentschiedene KPD suchte mit unterschiedlichen regionalen Schwerpunkten dem sowjetrussischen Beispiel nachzueifern. Allerdings waren die revolutionären Forderungen der Kräfte links der MSPD alle dem auch für diese Partei noch gültige Erfurter Programm von 1891 entlehnt.
Eine Entladung der Widersprüche schien unverändert möglich zu sein. Das sahen auch die Kräfte des Großkapitals und der Gutsbesitzer so. Es ist sicher kein Zufall, dass der führende deutsche Industrielle Hugo Stinnes dem DDP-Minister Otto Geßler im Januar 1920 auf dessen Ansinnen, die Wiederaufbaupolitik seitens der deutschen Wirtschaft und ihrer Auslandskontakte zu fördern, eine wenig verklausulierte Absage erteilte und gleichzeitig den Rat gab: "Es ist das Zeichen einer wahren Demokratie, dass sie in Zeiten der Todesgefahr ihren Diktator findet ... Wenn Deutschland anders handelt in der heutigen Lebensgefahr, wird es kaum wiederhochkommen. Es muss gehandelt, nicht verhandelt werden."(2)
Die sozialdemokratische Variante der Bearbeitung der Revolutionsfolgen, auch eingebettet in eine Weimarer Koalition mit DDP und Zen-trum, schien nicht mehr zu genügen. In diese Gemengelage – das wird in den Beiträgen der Konferenz noch ausführlich betrachtet – brach ein Konflikt der Reichsregierung mit ihrer bewaffneten Macht aus. Sie wollte und musste die Truppenreduzierung einleiten und deshalb die Marinebrigade Ehrhardt auflösen. Die Truppe und die verantwortlichen Generäle waren dazu nicht bereit, probten die Befehlsverweigerung und entschlossen sich, endlich das zu verwirklichen, was ihnen im November/Dezember 1918 und in den Auseinandersetzungen 1919 trotz ihres erfolgreich-blutigen Kampfes gegen die revolutionären Kräfte letztlich nicht gelungen war: Das ganze verhasste republikanische und demokratische Staatswesen hinwegzufegen.
Ein solcher Putsch war lange geplant, auch wenn durch die sich überstürzenden Ereignisse wohl zu früh ausgelöst. Aber er begann. General Walther von Lüttwitz und der stramm rechtskonservative Verwaltungsbeamte Wolfgang Kapp stellten sich an die Spitze, politisch von Vertretern der Wirtschaft und der Politik, hier besonders der DNVP und der DVP toleriert und ermuntert,
Angesichts der Verweigerung des Gehorsams seitens der Reichswehr musste die Reichsregierung die Hauptstadt verlassen, ohne allerdings, wie die Putschisten deklarierten, als "Reichsregierung ... aufgehört" zu haben. Kapp und Lüttwitz und die hinter ihnen stehenden Einflüsterer und Drahtzieher wie Erich Ludendorff glaubten, das Land als eine neue Regierung führen zu können. Als eine "Regierung der Ordnung, der Freiheit und der Tat".[3] Ihre wenn auch noch etwas unscharfen Ziele waren offenkundig: Beseitigung der Parteiendemokratie, klare Machtstrukturen (auf sie zugeschnitten), die Wieder-Zentralisierung des Staates einschließlich des Steuerwesens, Disziplinierung der Arbeiterbewegung – wenn nötig mit Gewalt, Ausschaltung der Spartakisten, Wohlfeiles für die Großagrarier, überhaupt die Wiederherstellung der "Freiheit der Wirtschaft", die nachlässige Erfüllung des Versailler Vertrages.[4]
Generalstreik!
In dieser Situation erwiesen sich die Reichsregierung, ihre sozialdemokratischen Minister, auch die Vertreter von DDP und Zentrum, bei sicher zu beachtenden Abstufungen, doch handlungsfähiger als aus der bisherigen Entwicklung der jungen Republik zu erwarten war. Zwar hatten sie die Putschvorbereitungen seit Monaten "übersehen", aber in der Stunde der Not hatten einige dann immerhin mehr Widerstandswille als erwartet. Sie setzten, obwohl sie nach Dresden, dann nach Stuttgart auswichen, auf eine sehr proletarische Art des Widerstandes gegen die Putschisten: Auf den Generalstreik. Sozialdemokratische Minister und der MSPD-Parteivorstand erinnerten sich der alten Losung "Mann der Arbeit, aufgewacht! / Und erkenne deine Macht! / Alle Räder stehen still. / Wenn dein starker Arm es will." Noch am Tag des Putsches rufen sie zum Generalstreik auf, mit klaren Worten, die die Republik verteidigen, aber auch Fragen aufwerfen (und unbeantwortet lassen), wie eine solche Situation geschehen konnte: "Bürger der Republik, Arbeiter, Genossen! Wir haben die Revolution nicht gemacht, um uns heute wieder einem blutigen Landsknechtsregiment zu unterwerfen. Wir paktieren nicht mit den Baltikumverbrechern ... Darum sind die schärfsten Abwehrmittel geboten. Kein Betrieb darf laufen, solange die Militärdiktatur der Ludendorffe herrscht! Deshalb legt die Arbeit nieder! Streikt! Schneidet dieser reaktionären Clique die Luft ab! Kämpft mit jedem Mittel um die Erhaltung der Republik! Lasst allen Zwist beiseite! Es gibt nur dieses eine Mittel gegen die Rückkehr Wilhelms II.: Lahmlegung des gesamten Wirtschaftslebens! Keine Hand darf sich mehr rühren!"[5]
Ausschlaggebend war allerdings die Unterstützung durch die Gewerkschaften, d.h. durch den Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund und die Arbeitsgemeinschaft freier Angestelltenverbände. Am gleichen Tag riefen sie zur Verteidigung der "Errungenschaften der Revolution vom November 1918". "Die deutsche Republik ist in Gefahr!".[6] Im weiteren Verlauf traten selbst Christliche Gewerkschaften und der Beamtenbund dem Streik bei. In der Tat war dieses Aufbäumen der Arbeiterverbände, dem sich auch USPD und nach kurzem Zögern angesichts der bislang fatalen Rolle der SPD, auch die KPD aktiv anschlossen, entscheidend. Im Lande wurden die Arbeiterparteien und Gewerkschafter aktiv, da die Führungen ihnen grünes Licht für den Generalstreik gegeben hatten. Ohne zentrale Streikleitung entstanden spontan in Betrieben und Städten Aktionsformen, wurde die Arbeit niedergelegt und Widerstand gegen die Putschisten organisiert.
Das Land stand still, selbst martialische Gebärden der Putschisten konnten die Streikfront nicht brechen. Es schossen reichsweit, mit Schwerpunkten an der Ruhr und im Mitteldeutschen, bewaffnete Formationen der Arbeiter aus dem Boden. Die "Rote Ruhrarmee" sollte die spektakulärste und kampfkräftigste unter ihnen werden. Vertreter der bis dahin eher verfeindeten Arbeiterparteien wirkten zusammen. Sie leisteten bewaffneten Widerstand und hatten sichtlich eine andere Vorstellung von den Zielen dieser Generalstreiksbewegung als die Aufrufer gegen die Putschisten.
War schon im Aufruf der MSPD für den Streik zu erkennen, dass sie den Kern der Bedrohung und ihren seit dem November 1918 dazugehörigen Anteil für sich nicht thematisierten, so ließen auch andere Einlassungen der Reichsregierung ahnen, dass sie den Putsch ablehnten, aber wenig begriff, dass sie die giftigen Nattern an ihrem Busen genährt hatte. Zu lange hoffte sie, sich auf diese gegen die "bolschewistische Gefahr" stützen zu können. Deshalb förderte die Regierung großzügig die Freikorps und gewährte meist Straffreiheit für die Verbrechen dieser "Demokratieverteidiger". In einem Aufruf der Reichsregierung vom 14. März klingt es fast milde: "Was in Berlin vorgeht, ist eine Cöpenickiade im Großen. Die Berliner müssen sich den politisch klaren Blick bewahren. Für die Cöpenick-Regierung Kapp besteht keine Möglichkeit zu regieren; ihr Gebäude ist innen hohl. Sie kann weder Kohlen noch Nahrungsmittel beschaffen. Ohne Arbeiter kann man nicht regieren."(7) Das stimmte zwar, aber hier ging es um Macht und Gewaltmittel, auch wenn sich die Kapp und Lüttwitze zu weit aus der Deckung hervorgewagt hatten. Das Machtsystem, die militärische und polizeiliche Gewalt war nicht die des Hauptmanns von Köpenick, sondern die von skrupellosen Verfechtern ihrer Klasseninteressen gegen die Arbeiterklasse und alle Demokraten, wenn sie sich ihnen in die Quere stellten.
Der im Gefängnis Ansbach – nach seiner Beteiligung an der Münchner Räterepublik – inhaftierte Erich Mühsam hatte recht, als er nach den ersten Nachrichten über den Putsch und die Reaktion von Regierung und SPD notierte: "Die Reichsregierung ist flüchtig, erlässt von auswärts ... einen Aufruf zum Generalstreik. Reizend: die Arbeiter sollen streiken, damit nicht Lüttwitz sondern wieder Noske auf sie schießen lässt."(8)
Trotzdem hatte der Ausstand der 12 Millionen Wirkung. Am 17. März war der Spuk vorbei. Die Putschisten fanden nicht die Unterstützung und die Kraft, um sich durchzusetzen. Letztlich zwang der Generalstreik der Bauer-Regierung Zugeständnisse im sozialen Bereich ab und sorgte dafür, dass endlich der verhasste Reichswehrminister Noske seinen Hut nehmen musste.
Einheit gegen Reaktion und Faschismus
Dieser Generalstreik, getragen von den politisch relevanten Kräften der Linken in ihrem ganzen Spektrum und unterstützt von den beiden bürgerlichen Regierungsparteien, konnte die akute Bedrohung der Republik abwehren. Er bewies, was auch für heutige Geschichtsbetrachtung relevant ist: Widerstand gegen die Reaktion, gegen die präfaschistischen Kräfte, gegen Antidemokraten konnte Erfolg haben. Bemerkenswert war, dass die staatstragende Sozialdemokratie endlich zu begreifen schien, dass sie sich auf verlogene, feindliche Kräfte verlassen hatte und, dass der politische Massenstreik, der Generalstreik für die Durchsetzung politischer Ziele ein probates Mittel sein konnte. Das war mehr, als 15 Jahre zuvor in der Massenstreikdebatte angesichts des Mauerns der reformistischen Kräfte in der SPD und noch mehr in den Gewerkschaften denkbar sein sollte.
Linke und bürgerliche Demokraten konnten ungeachtet sehr unterschiedlicher Ziele und Ansprüche zusammenstehen, wenn es gegen die rechte Reaktion gehen sollte und sie ihre Zwistigkeiten beiseiteschoben. Das ist das Bewahrenswerte in dieser Erinnerung an die Abwehr des Kapp-Putsches. Wir wissen auch, dass diese notwendige antifaschistische Einheit nicht von Dauer war. Sie scheiterte 1932/33, sie fand noch die erzwungene, vage Realisierung in den Zuchthäusern und KZ. Doch schon rasch verschwand sie nach 1945/46 unter den Zwängen der Blockbildungen. Den alten, durchaus erklärbaren Konfrontationslinien seit der Novemberrevolution und den Kämpfen zu ihrer parlamentarisch-demokratischen Beerdigung in einer weiter von Kapital und Großgrundbesitz bestimmten Republik, wenn auch demokratisch, gelegentlich auch sozialdemokratisch regiert, war nicht zu entrinnen. Die einstigen Ströme von Blut sollten diese Konfrontationslinien immer wieder neu markieren.
Die Erinnerung an 1920 bedeutet aber auch, dass der politische Streik sinnvoll, machtvoll und durchsetzungsfähig sein konnte, wenn die Arbeitenden hinter ihm standen. Das war schon die Erfahrung von 1918/19 gewesen, mit unterschiedlichen Ergebnissen, das würde die Erfahrung der späteren Jahre der revolutionären Nachkriegskrise sein und das wird die Erfahrung eines anderen Generalstreiks sein, der noch einmal erfolgreich in Deutschland Weichen stellen konnte: Der Generalstreik in der britischen und US-amerikanischen Besatzungszone am 12. November 1948 für eine soziale Interpretation der Erhardschen Wirtschaftsreform zur Wieder-Durchsetzung der kapitalistischen "Marktwirtschaft".[9]
Die Geschichte der Bundesrepublik ist durchzogen von politischen Streiks und dem Versuch, sie politisch und juristisch zu verhindern.[10] Erinnert sei an die Unterstützungsstreiks für die Brandt-Regierung 1972, an die Abwehrkämpfe zum Erhalt sozialer Errungenschaften wie der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall 1958 (weit über eine Tarifauseinandersetzung hinausgehend), oder die Abwehr von Sozialsanktionen bei Aussperrung Mitte der 1980er Jahre. Allerdings haben bundesdeutsche Gerichte und Juristen nach dem Zeitungsstreik 1952 und den Streiks von 1958 schon früh unerträgliche Hürden errichtet, um politische Streiks – und damit auch einen Generalstreik – zu verunmöglichen. Das Problem besteht allerdings weniger in diesen Hürden als in der Aufnahme und Akzeptanz dieser Positionen in den Gewerkschaften und in weiten Teilen der SPD. Es erhebt sich die Frage, ob politischer Widerstand die Ermächtigung durch die kaum als neutral anzusehende Justiz benötigt oder die Ermächtigung durch handelnde Bewegungen.
Offene Probleme
Wir wissen, dass mit der Flucht der Putschisten am 17. März 1920 das Problem letztlich nicht gelöst war. Milde und Amnestien ließen die Akteure weitgehend ungeschoren, die 1918 nicht gesäuberte Justiz – wie alle anderen Eliten – blieb die alte, auf dem rechten Auge blind. Die reaktionären Militärs blieben auch ohne Uniform präsent. Einige wurden die Mörder der Organisation Consul, die 1921/22 Repräsentanten der Weimarer Republik meuchelte, als Vaterlandsverräter, Juden, Demokraten. Trotz Republikschutzgesetz blieb dieser Kampf gegen rechts schwächlich, nachsichtig.
Wir erleben in diesen Jahren, dass eine künftige faschistische Bewegung ihre Gewaltmittel und ihre Gewaltideologie bereits hatte und praktizierte. Der Aufbau entsprechender parteipolitischer und ideologischer Strukturen begann damals in Gestalt der wenige Tage vor dem Putsch gegründeten NSDAP, die Nationalismus und Chauvinismus mit Sozialdemagogie und scharfer Frontstellung gegen die Arbeiterbewegung, aber auch gegen die Juden begann. Sie brauchte einige Jahre zu ihrer Konsolidierung, aber sie passte in das politische Klima der Zeit, fand – wie schon die Putschisten – in Kreisen des Großkapitals, aber auch der rechten bürgerlichen Parteien wie DNVP oder DVP Stichwortgeber und Verständnis, auch Finanziers. Nicht vergessen werden darf, dass viele Akteure des Kapp-Putsches (wie auch schon der konterrevolutionären Kämpfe 1918/19 in Deutschland oder im Baltikum) Förderer und Führungskräfte des deutschen Faschismus wurden, auch wenn sich manche Wege später trennen sollten.
Das ahnten die radikalen Kräfte der deutschen Arbeiterbewegungen, Kommunisten wie Unabhängige, auch manche SPD-Genossen schon während der Ereignisse. Sie wollten nicht nur die Republik und die überschaubaren Errungenschaften von 1918 verteidigen, sondern sie ausbauen. Sie wussten und erlebten es gerade: Mit den alten Machteliten, mit den Vertretern von Kapital und Adel war eine demokratische Republik nicht zu machen. Sie setzten auf weitergehenden Widerstand und auf jene Machtformel, die ihnen schon 1918/19 verwehrt wurde, die Rätemacht. In ihrem Aufruf vom 14. März hatte die KPD gefordert, den Putsch zu bekämpfen und revolutionäre Betriebsräte zu wählen. "Schließt diese Betriebsräte zu Arbeiterräten zusammen! Durch sie führt euern Kampf, in ihnen schließt euch zusammen gegen die Militärdiktatur und gegen die Kapitalsdiktatur! ... Unter der Fahne der proletarischen Diktatur, der Herrschaft der Arbeiterräte, sammelt euch zum Kampf gegen die Militärdiktatur!"(11)
Die folgenden Kämpfe stehen unter dem Eindruck dieser radikalen Forderungen nach Veränderung, obschon auch den Kommunisten klar ist, dass die antiputschistische Front in dieser Frage tief gespalten ist. Selbst die Vorstellung einer sozialistischen Regierung unter Gewerkschaftsführung und stark abgeschwächte Formen der Veränderung werden keinen Bestand haben. Längst sind die herrschenden Kräfte, die Reichswehr und die alten Eliten sowieso, aber auch die SPD angesichts der Abwehrkämpfe der Arbeiter, insbesondere im Ruhrgebiet, zutiefst erschrocken. Hier zieht wieder die Gefahr eines Rätedeutschlands auf, das die Macht- und Eigentumsfragen wie schon 1918/19 in Frage stellt. Der Noch-Reichskanzler Bauer erklärte unter Bravo-Rufen am 18. März vor der Nationalversammlung: "Der Nationalistenaufstand hat die ex-treme Gegenbewegung wachgerufen, die kommunistische Welle, die wir so lange in ernster schwerer Zeit gebannt hatten, ist wieder im Steigen begriffen. Aus zahlreichen Orten kommt wieder der Ruf nach der Diktatur des Proletariats. Da und dort ist es schon zu blutigen Zusammenstößen, zu Straßenkämpfen, zum Handstreich auf öffentliche Gebäude gekommen. [...] Wir werden – das geloben wir – fortfahren, jede Gewalttat vom Leben unseres Gesamtvolkes abzuwehren. [...] Wir fechten nicht einseitig und parteiisch nach rechts oder links, wir führen die Waffen gegen jeden Putsch, jeden Anschlag auf die Demokratie."[12]
Den Politikern bleibt nur die Flucht in eine neue Reichsregierung der Weimarer Koalition mit SPD, DDP und Zentrum unter dem neuen sozialdemokratischen Reichskanzler Hermann Müller. Die Vereinbarungen zur Beendigung der Kämpfe im Lande haben zwar einige Zugeständnisse gebracht, bleiben aber weitgehend Makulatur. Aber die neue Regierung verschafft der MSPD nur eine Gnadenfrist, im Juni verliert sie die Reichstagswahl und damit ihre Kanzlerschaft, nur noch 1928/30 unterbrochen, auf Dauer im Reiche. Den Kampf gegen die Linken kann sie aber noch mit Hilfe der weiter intakten Machtstrukturen durchfechten, mit aller Gewalt.
Illusionen und Erfahrungen
In Moskau, endlich auf die Revolution im Westen, in Deutschland hoffend, ist man verständlicherweise skeptisch. Der Bürgerkrieg scheint zwar eine positive Wendung genommen zu haben, es zeichnet sich aber bereits ein Konflikt mit Polen ab. Auf die ersten Meldungen aus Berlin reagiert Lenin in einem Telegramm an Stalin: "Wer [dort] siegen wird, ist unklar, doch für uns ist es wichtig, die Einnahme der Krim maximal zu beschleunigen, um die Hände entsprechend frei zu bekommen, denn der Bürgerkrieg in Deutschland könnte uns dazu zwingen, nach Westen den Kommunisten zur Hilfe zu kommen."(13)
Dieser Fall tritt nicht ein. Es bleibt den sowjetrussischen Genossen nur die Analyse dessen, was in Berlin geschah und vielleicht durch die KPD verabsäumt wurde. Lenin kommentiert trocken, wenn er darauf verweist, dass die hochgebildeten deutschen Arbeiter nun erleben müssen, wie die Konterrevolution auch bei ihnen funktioniert. Die russischen Arbeiter haben da radikaler gehandelt und das Problem der Konterrevolution in den Griff bekommen. Vor allem haben sie die Massen für die revolutionäre Sache gewonnen, durch eine kämpferische Partei, Agitation und Propaganda. Vor allem aber mussten die Arbeiter durch Erfahrung lernen.[14]
Als er wenige Wochen nach den deutschen Ereignissen seinen "Linken Radikalismus" schreibt, hat er auch die deutschen Ereignisse vor Augen. Er sympathisiert mit der deutschen Arbeiterklasse, natürlich mit der kommunistischen Partei. Er versteht, dass diese begriffen hat, noch nicht die Massen hinter sich scharen zu können, um die proletarische Diktatur zu erringen. Aber er benennt ein zentrales Dilemma jeder linken Politik, welches er an einem Punkt des KPD-Aufrufs vom 23. März zur Bildung von sozialistischen Arbeiterregierungen, also linken Koalitionen der Arbeiterparteien, festmacht. Die Genossen der KPD hatten dort postuliert: "Für die weitere Eroberung der proletarischen Massen für den Kommunismus ist ein Zustand, wo die politische Freiheit unbegrenzt ausgenützt werden, wo die bürgerliche Demokratie nicht als Diktatur des Kapitals auftreten könnte, von der größten Wichtigkeit für die Entwicklung in der Richtung zur proletarischen Diktatur."(15)
Das hält Lenin für grundfalsch. "Ein solcher Zustand ist unmöglich. Die kleinbürgerlichen Führer [...] gehen nicht hinaus und können nicht hinausgehen über den Rahmen der bürgerlichen Demokratie, die ihrerseits nichts anderes sein kann als eine Diktatur des Kapitals."[16] Das war damals und bleibt bis heute der Streitpunkt von Linken. Was kann mit demokratischen Mitteln in einer kapitalistischen Gesellschaft erreicht werden und was nicht, geht es um Kompromisse, die auch Lenin anerkennt, oder um die Kapitulation vor den bestehenden Verhältnissen. Die Vorgänge von 1920 zeigten auf jeden Fall, dass die Putschisten zwar besiegt, aber die Reaktion ungebrochen war und 1933 endgültig für 12 Jahre das Schicksal der deutschen Arbeiterbewegung Deutschlands und der Welt beeinflussen und zig Millionen Menschen auf ihr Gewissen nehmen konnte.
1920 und in den Folgejahren konnte der Bürger noch guten Glaubens sein, so wie Stefan Zweig in seinen Erinnerungen es beschreibt: Hitler – "Der Name fiel leer und gewichtlos in mich hinein. Er beschäftigte mich nicht weiter. Denn wie viele heute längst verschollene Namen von Agitatoren und Putschisten tauchten damals im zerrütteten Deutschland auf, um ebensobald wieder zu verschwinden. Der des Kapitän Ehrhardt mit seinen Baltikumtruppen, der des General[landschaftsdirektors] Kapp, die der Fememörder, der bayrischen Kommunisten, der rheinischen Separatisten, der Freikorpsführer. Hunderte solcher kleiner Blasen schwammen durcheinander in der allgemeinen Gärung, die, kaum zerplatzt, nicht mehr zurückließen als einen üblen Geruch, der deutlich den geheimen Fäulnisprozess in der noch offenen Wunde Deutschlands verriet."[17]
Es war nur wenige Jahre nicht mehr nur eine trübe Brühe mit fauligem Geruch, sondern der braune Mob und eine neue Macht.
Fußnoten
[1] Hakenkreuz am Stahlhelm. Lied der Brigade Ehrhardt https://www.volksliederarchiv.de/hakenkreuz-am-stahlhelm/ [02.03.2020 17:43].
[2] Brief des Großindustriellen Hugo Stinnes an den Minister für Wiederaufbau Otto Geßler vom 23. Januar 1920 mit der Forderung nach Errichtung einer Diktatur. In: Wolfgang Ruge/Wolfgang Schumann (Hrsg.): Dokumente zur deutschen Geschichte 1919–1923. Berlin 1975, S. 31.
[3] Kundgebung Wolfgang Kapps und des Generals Walther Frhr. v. Lüttwitz vom 13. März 1920 anläßlich ihres konterrevolutionären Putsches. In: Ebd., S. 32.
[4] Zusammengestellt aus der zeitgenössischen Darstellung von Brammer: Karl Brammer: Fünf Tage Militärdiktatur. Dokumente zur Gegenrevolution. Unter Verwendung amtlichen Materials. Berlin 1920, S. 24–30
[5] Dok. 101. Aufruf der sozialdemokratischen Mitglieder der Reichsregierung und des Parteivorstandes der SPD vom 13. März 1920. In: Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der SED: Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Bd. 3. Von 1917 bis 1923. Berlin 1966, S. 583.
[6] Dok. 15. Aus dem Aufruf des ADGB und der AfA zum Generalstreik vom 13. März 1920. In: Wolfgang Ruge/Wolfgang Schumann (Hrsg.): Dokumente zur deutschen Geschichte. A.a.O., S. 33.
[7] Akten der Reichskanzlei. Weimarer Republik – Das Kabinett Bauer / Band 1 / Dokumente / Nr. 192 Aufruf der Reichsregierung „An das deutsche Volk!“ vom 14. März 1920, S. 683–684 – http://www.bundesarchiv.de/aktenreichskanzlei/1919–1933/0000/bau/bau1p/kap1_2/para2_194.html – [03.03.2020 19:22].
[8] Erich Mühsam, Tagebücher. Eine Online-Edition von Chris Hirte und Conrad Piens. Berlin. H. XXIV. 21. November 1919 – 18. April 1920. Eintrag 15. März 1920 – http://www.mühsam-tagebuch.de/tb/diaries.php – [03.03.2020 19:42].
[9] Siehe Uwe Fuhrmann: Die Entstehung der "Sozialen Marktwirtschaft" 1948/49. Eine historische Dispositivanalyse. Konstanz-München 2017; ders.: Die "Stuttgarter Vorfälle" am 28. Oktober 1948 Kontext, Verlauf und Folgen. Mit Beiträgen zum Generalstreik am 12. November 1948 und zur Entstehung der Sozialen Marktwirtschaft. Berlin 2010; Jörg Roesler: Die Wiederaufbaulüge der Bundesrepublik. Oder: Wie sich die Neoliberalen ihre "Argumente" produzieren. Berlin 2008.
[10] Siehe Alexander Gallas/Jörg Nowak/Florian Wilde (Hrsg.): Politische Streiks im Europa der Krise. Hamburg 2012.
[11] Dok. 19. Aus dem Aufruf der KPD vom 14. März 1920 zum Kampf für den Sturz der Kapp-Lüttwitz, die Entwaffnung der konterrevolutionären Truppen und die Bildung von Arbeiterwehren unter Kontrolle der Arbeiterräte. In. Wolfgang Ruge/Wolfgang Schumann (Hrsg.): Dokumente zur deutschen Geschichte. A.a.O., S. 36.
[12] [Gustav] Bauer, Reichskanzler: Erklärung der Reichsregierung. Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung. 156. Sitzung, Donnerstag, den 18. März 1920, S. 4903.
[13] Dok. 21. Telegramm Lenins an Stalin zur Unterstützung der deutschen Arbeiter durch die Rote Armee. [Moskau], 17.03.1920. In: Hermann Weber/Jakov Drabkin/Bernhard H. Bayerlein (Hrsg.): Deutschland, Russland, Komintern. II. Dokumente (1918–1943). Berlin-München-Boston 2015, S. 98/99. Siehe auch Wladimir Iljitsch Lenin: An. E.M. Skljanski. 15.III.1920. In: ders.: Briefe. Bd. VI. Berlin 1969, S. 166.
[14] "Damit aber wirklich die ganze Klasse, damit wirklich die breiten Massen der Werktätigen und vom Kapital Unterdrückten zu dieser Position gelangen, dazu ist Propaganda allein, Agitation allein zuwenig. Dazu bedarf es der eigenen politischen Erfahrung dieser Massen. Das ist das grundlegende Gesetz aller großen Revolutionen, das sich jetzt mit überraschender Kraft und Anschaulichkeit nicht nur in Russland, sondern auch in Deutschland bestätigt hat. Nicht nur die auf niedriger Kulturstufe stehenden, vielfach des Lesens und Schreibens unkundigen Massen Russlands, sondern auch die auf hoher Kulturstufe stehenden, durchweg des Lesens und Schreibens kundigen Massen Deutschlands mussten erst am eigenen Leibe die ganze Ohnmacht, die ganze Charakterlosigkeit, die ganze Hilflosigkeit, die ganze Liebedienerei vor der Bourgeoisie, die ganze Gemeinheit einer Regierung der Ritter der II. Internationale, die ganze Unvermeidlichkeit einer Diktatur der extremen Reaktionäre (Kornilow in Russland, Kapp und Co. in Deutschland) als einzige Alternative gegenüber der Diktatur des Proletariats erfahren, um sich entschieden dem Kommunismus zuzuwenden." Wladimir Iljitsch Lenin: Der "Linke Radikalismus", die Kinderkrankheit im Kommunismus. In: ders.: Werke. Bd. 31, S. 80.
[15] Dok. 24. Erklärung der Zentrale der KPD vom 23. März 1920 über ihre Stellung zur Bildung einer Arbeiterregierung. In: Wolfgang Ruge/Wolfgang Schumann (Hrsg.): Dokumente zur deutschen Geschichte. A.a.O., S. 40.
[16] Wladimir Iljitsch Lenin: Der "Linke Radikalismus", die Kinderkrankheit im Kommunismus. In: ders.: Werke. Bd. 31, S. 94.
[17] Stefan Zweig: Die Welt von gestern. Erinnerungen eines Europäers. Berlin 1981, S. 379/380 f.