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Heft 66: Die Idee des Sozialismus

Von: Gerd Irrlitz

Heft 66: Die Idee des Sozialismus

Reihe "Philosophische Gespräche", 2021, Heft 66, 44 S.

In unserer Veranstaltungsreihe Philosophische Gespräche sprach Professor Gerd Irrlitz am 4. Oktober 2021 „Zu Charakter und Ideengeschichte der Opposition in der DDR“. Abgedruckt ist hier die erweiterte Fassung seines Vortrages.

  Autor: Gerd Irrlitz, Prof. Dr., Philosoph
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INHALT

I:         Reale, konstruierte und mythologisierte DDR-Opposition
II:        Innersozialistischer Widerspruch in der DDR     
III:      Ursachen autoritärer Gesellschaftsformierung
           in Russland nach der Oktoberrevolution   
IV:      Lenins Fehlurteile als Weichenstellungen
V:       Stalin – Allmacht und Unterwerfung 
VI :     Drei Wege zum Sozialismus
VII:    Trotzkis thermidorianische Wende und
          Kautskys historische Sackgasse 
VIII:  Kein Ende der Geschichte  
IX:    Der blanquistische Weg ist gescheitert, 
         die Idee des Sozialismus nicht       
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LESEPROBE

I: Reale, konstruierte und mythologisierte DDR-Opposition

Die Erfahrung des vergangenen XX. Jahrhunderts, schrieb Jorge Semprun, viele Jahre ZK-Mitglied der Kommunistischen Partei Spaniens, die einschneidende Erfahrung sei das weltweite Scheitern der Idee der kommunistischen Revolution.[1] Wie dem ruhmesfroh und wie für die ganze zukünftige Menschheit unternommenen Beginnen der sozialistischen Gesellschaften, das nun ein Jahrhundert-Scheitern ist, wie dessen Gang ins Gewöhnliche, ins Verächtliche entgehen? Zuerst doch wohl mit dem Wissen, dass es einmal der große Sieg der Armen in dieser selbststolzen und niederdrückenden bürgerlichen Welt gewesen war. Das wird mit dem Hass auf die politischen Führungsparteien verdeckt, deren Männer und Frauen nicht bei den Herrschenden gesessen hatten, aber gelästert, verfolgt und getötet worden waren. Nun klingt’s, als wäre Sozialismus der schmerzenreiche Pfad gewesen und wäre alle Schuld der Welt bei Jenen nur zu Hauf gebracht.[2] Sie hatten ihre Zeit und sind vergangen, was sie erreicht, gehört in der Menschheit Schatz der Erinnerung, und ein kommendes Geschlecht wird ‚brauchbar’ und ‚verworfen’ scheiden.

Auch vom engagierten Intellektuellen ist nach dem verschwundenen Morgenrot der vorausgedachten neuen Welt nicht mehr leicht zu sprechen. Doch sie zeichneten die ideelle Linie, die von einem Zeitalter bleibt. Ihr Mut und ihre Niederlagen sind die Merksteine, an denen die Zeitgenossen über ihre Alltäglichkeit hinweg träumen. Wolfgang Heise, unser unvergessener Geisteskamerad, hatte es gesagt: „Ich finde, dass in historische Einschätzungen oft eine peinliche Teleologie hineinkommt, die Selbstgewissheit ‚Es ist erreicht …‘, ein residualteleologisches Verhalten zur Geschichte, deren ‚Sinn’ auf die eigene Gegenwart zusteuert, eine Prise hegelianisches Weltgeschichtsbewusstsein, als ob der Sozialismus und Kommunismus ein der vergangenen Geschichte immanentes Telos seien.“[3] Das interessante Zukunfts-Projekt DDR gerade hätte keine System-Losung gebraucht, aber experimentelles Denken, das sich dessen auch bewusst geworden wäre. Der sozialistische Entwurf erhielt hier erste Umrisse und konnte doch nicht freies Feld gewinnen. Aber er bleibt als Torso, an dem die kommende Generation studieren und sich selbst besser verstehen wird. Das alte geschlossene Lehrgebäude vergeht wie der fertige Kalkül der elitären politischen Führung und die anstehende sozialistische Fortbildung der Industriegesellschaft wird sich vielströmig und experimentell öffnen.

Um für den Augenblick an letztbewahrten Stolz zu klammern sich, wird gern die Opposition in jenen Staaten und sogar in deren kommunistischen Parteien aufgerufen. Das hat falschen Klang bei Denen, die das ganze Projekt schon immer geschmäht hatten und verfolgen ließen. Gescheiten Sinn hat es als der doppelte Katalog, was brauchbar bleibe, wenn Anderes vergehen müsse. Wir sehen inzwischen, dass autoritärer Staat und dirigierende Partei sehr erfolgreich sind in Entwicklungsstaaten, vorzüglich heute in China.[4] Solcher Staat war die Sowjetunion, und sie wurde zur heilenden Macht, die in Europa  die faschistische Herrschaft brach. Das eifernd abfällige Diktatur-Gerede,  auch übers heutige Rußland, aufdringlich unterschiebt es ein Selbstlob der Kapitalgesellschaft und stellt eine Wand auf gegen den dringenden Systemwechsel zur demokratisch-sozialistischen Industriegesellschaft. „Opposition“ war für die sozialistischen Staaten von deren Gegnern geliebt im Wunsch innerer Kämpfe dort. Tatsächlich waren hier kritische Stimmen und Projekte die längste Zeit nicht Opposition gewesen, sondern Vorschläge zu Besserem. In der ostdeutschen Republik kam echte politische Opposition auf mit der Bürgerbewegung der achtziger Jahre, dem ursprünglichen deutschen Freiheitszug der in diesem Lande geborenen Jugend. In der deutschen Geschichte groß waren diese reformsozialistischen Ideen und einsetzenden Programmentwürfe außerhalb der sichtlich erschöpften parteisozialistischen Dogmatik. Vor Allem wurde die leninistische Sozialismus-Konzeption der Generationen übergreifenden Diktatur einer exklusiven politischen Partei aufgegeben; einer Partei, die in sich selbst kein Diskussionsforum duldete. Die Bürger-Organisationen der späten DDR kamen als markanter Neubeginn deutscher Politik. Deren Denken und solidarische Kultur des Handelns wird aufgenommen und fortgebildet werden von zukünftigen Bewegungen zur sozialistischen Überwindung der ganz auf exklusiver Vorherrschaft großer Firmen und deren Eigentümern errichteten finanzkapitalistischen Gesellschaft.  

In der SED, wie in allen kommunistischen Parteien, schloss das Statut Fraktionsbildungen aus und es lohnt nicht, in der Leninschen „Partei neuen Typus“ von innerparteilicher Opposition zu reden. Gruppen marxistischer Politiker, Ökonomen, Juristen hatten selbstverständlich Reformkonzepte für spezielle Themen vorgelegt, vom großen Kreis der oppositionellen Schriftsteller, bildenden Künstler, Theaterschaffenden gar nicht zu reden. Gescheite und recht bescheidene Reformvorschläge gab es zeitig von der Schirdewan-Gruppe 1953, von Max Fechner, dem Sozialdemokraten in der SED[5], später dann von Ökonomen um Behrens und Benary, abenteuerlich kühn von Wolfgang Harich nach dem XX. Parteitag der KPdSU, ganz anders sachlich von Juristen wie Hermann Klenner in den sechziger Jahren, und wer später in den Kreis der Nachdenkenden und Nachdenken Organisierenden gehörte wie Robert Havemann, Rudolf Bahro, Lothar Kühne, Bärbel Bohley, Klaus Wolfram und die Anderen in deren Organisationen. Hier entstanden dann Oppositionsgruppen und Bewegungen mit dem Ziel, den Staat zu liberalisieren, und das Sozialismus-Konzept zu ra-tionalisieren, nicht es aufzukündigen.                                                      

[1]  Jorge Semprun, Links bleiben, in: Freibeuter 10 (1981), S. 74ff.
[2]  Dante spricht so im 7. Gesang, V. 18 des Gangs durch die Hölle:
   „So stiegen wir zum vierten Abgrund nieder,
   Ergreifend immer mehr vom Schmerzensrande,
   Darin sich alles Weh des Weltalls mischt.“ (VII, 16–18)

[3] Wolfgang Heise, Schriften, Aus seinem Leben und Denken, Frankfurt/Main / Basel, 2013, Bd. 2, S. 85. Zu den Intellektuellen in der DDR: Werner Mittenzwei, Die Intellektuellen. Literatur und Politik in der DDR 1945–2000, Berlin 2001; Gunnar Decker, Zwischen den Zeiten. Die späten Jahre der DDR, Berlin 2020; Ders., 1965. Der kurze Sommer der DDR, München 2015.
[4] Vgl. Thomas Heberer, Armin Müller, Entwicklungsstaat China. Politik, Wirtschaft, sozialer Zusammenhalt und Ideologie, Berlin 2020.
[5] Die ursprüngliche ostdeutsche Konzeption: Max Fechner, Offener Brief an Dr. Kurt Schumacher, Berlin 1946.

  • Preis: 4.00 €
  • Erscheinungsjahr: 2021