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Heft 67: Geschichte als kultureller Kampfplatz und die Rolle der Philosophie

Von: Christine Blättler

Heft 67: Geschichte als kultureller Kampfplatz und die Rolle der Philosophie

Reihe "Philosophische Gespräche", 2023, Heft 67, 44 S.

Die Autorin Prof. Dr. Christine Blättler referierte am 30. Mai 2022 in Berlin auf Einladung des „Helle“ Panke e.V. – Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin zum Thema Geschichte als kultureller Kampfplatz und die Rolle der Philosophie.
Wir bedanken uns bei der Referentin für die Möglichkeit, mit der hier vorliegenden Publikation einem breiten Leserkreis Einblick in ihre Forschungsergebnisse zum gewählten Thema zu gewähren.

Autorin: Prof. Dr. Christine Blättler, Professorin am Philosophischen Seminar der Universität Kiel. Zu ihren Büchern zählen: Theoretische Neugierde. Horizonte Hans Blumenbergs, Beiheft Allgemeine Zeitschrift für Philosophie, im Erscheinen (Hg. mit Angelika Messner und Ralf Köhne); Der Gesandte. Alexandre Kojèves europäische Missionen, Merve 2022 (Hg.); Benjamins Phantasmagorie. Wahrnehmung am Leitfaden der Technik, DEJAVU 2021; Walter Benjamin. Politisches Denken, Nomos 2016 (Hg. mit Christian Voller); In Gegenwart des Fetischs. Dingkonjunktur und Fetischbegriff in der Diskussion, Turia & Kant 2014 (Hg. mit Falko Schmieder).

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Inhalt
1. Politik und große Erzählungen heute
2. Zur Frage der Ideologie. Der Chefideologe
3. Geschichte als Zeichen und Symbol. Kant, Cassirer, Kittsteiner
4. Das Problem der Rechtfertigung. Lyotard, Adorno
5. Explorationen für einen anderen Begriff von Geschichte. Benjamin, Kracauer
6. Anmerkungen zu Sinn, Unsinn und Sinnlosigkeit der Geschichte

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LESEPROBE

  1. Politik und große Erzählungen heute

Mit «Global hilflos»[1] brachte ein Zeitungsartikel den Zustand der Lähmung und Ohnmacht vieler Menschen angesichts des russländischen[2] Angriffskriegs auf die Ukraine auf den Punkt. In der Sache, wenn auch unausgesprochen, rührt die Formulierung an ein Kernstück geschichtsphilosophischer Problemstellung. Zunächst möchte ich allerdings an der anderen Seite ansetzen, nicht am Pol der Ohnmacht, sondern sozusagen am Machtpol: beim aufdringlichen Phänomen großer historischer Erzählungen, wie sie derzeit besonders von Autokraten und Diktatoren auf der politischen Bühne vorgetragen werden. Erstaunlich ist diese gegenwärtige Konjunktur nicht, wenn man bedenkt, wie Geschichte für kleine wie große soziale Formationen identitätsstiftend wirken kann, handle es sich um religiöse oder anders bestimmte Gemeinschaften, die Gesellschaft eines Staates oder die Vorstellung einer Weltgesellschaft. Die eminente kulturelle Bedeutung von Geschichte verdeutlicht ein Definitionsversuch des niederländischen Kulturhistorikers Johan Huizinga aus Wege der Kulturgeschichte von 1930: «Geschichte ist die geistige Form, in der sich eine Kultur über ihre Vergangenheit Rechenschaft gibt»[3]. Diese Bestimmung mag antiquiert klingen, und es ist wohl nicht das erste, was man heute mit Geschichte verbindet. Und doch scheint mir Huizingas Formulierung einen Schlüssel für das genannte aufdringliche Phänomen zu geben. Mit seinem Definitionsversuch weist Huizinga darauf hin, dass das, was allgemein Geschichte genannt wird, mit kultureller Formgebung und Bedeutungsstiftung zu tun hat, wobei er Begriff nicht gegen Anschaulichkeit ausspielt. Explizit mit Geschichtsbildern hat sich später und bis heute wegweisend Heinz Dieter Kittsteiner befasst, indem er der folgenden Frage nachgegangen ist: «In welcher Weise bestimmen die ‹Bilder in unserem Kopf› historisches Wissen, wie gehen sie in die Wahrnehmung und damit auch in die Verarbeitung des historischen Materials mit ein?»[4] Schon bei Huizinga ist eine Vorstellung oder ein Bild der Geschichte etwas Kontingentes, nämlich historisch veränderlich und vielfältig. Das heißt, es gibt nicht die eine Geschichtserzählung, stattdessen hat man es mit einer Vielheit von Narrationen zu tun, wie sie nicht nur die geschichtswissenschaftliche Forschung kennt, und wie sie in Historikerstreits der Vergangenheit und Gegenwart auch in der Öffentlichkeit ausgetragen werden. Diese Pluralität ist keineswegs zu verwechseln mit Beliebigkeit, die Forschung arbeitet mit Quellen und Argumenten und reflektiert auf ihre Herangehensweisen und Methoden; auch Huizinga beruft sich auf die kritische Forderung des Rechenschaftgebens. Eine aus der Forschung resultierende kleinere oder größere Geschichtserzählung ist Gegenstand fachlicher Diskussionen wie öffentlicher Debatten, setzt sich also der Kritik aus und muss sich ihr gegenüber behaupten.

Fachliche wie öffentliche Auseinandersetzungen können bestehende Geschichtsbilder bestätigen, verändern oder neu bilden. Geschichtsbilder wiederum verleihen einer Erzählung Bedeutsamkeit, laden sie mit Sinnhaftigkeit auf und bieten eine Erzählung zur Identitätsstiftung an. Die Frage nach einem bestimmten Verlauf der Geschichte, besonders hin auf Fortschritt oder Untergang, ja nach einem Sinn der Geschichte, beschäftigt gerade in Krisenzeiten außerhalb der Forschung viele Menschen. Derartige Fragen nehmen Politiker:innen auf, sie arbeiten damit auf einer affektiven und imaginativen Ebene und bieten Antworten an. Bei derartigen Antworten werden Wirklichkeit und Wirksamkeit von Geschichtsbildern medial erzeugt, vermittelt und verstärkt, wobei «Rückwirkungen und Wirkschleifen»[5] nicht nur entstehen, sondern über Trollfabriken ganz gezielt in soziale Netzwerke eingeschleust werden.[6] Mit der Frage nach Form und Sinn der Geschichte befindet man sich mitten im Feld der klassischen Geschichtsphilosophie, und es ist kein Zufall, dass sich auch heute Staatsmänner mit Philosophen umgeben, die bestimmte Geschichtsbilder präsentieren. Im Folgenden sollen drei Beispiele skizziert werden, an denen so aktuell wie exemplarisch ersichtlich wird, wie Philosophen das Geschichtsbild von Diktatoren, deren «Geschichtsverdrehungen»[7] und Geschichtsfälschungen beliefern, stützen, armieren und theoretisch legitimieren. Es handelt sich um Zhao Tingyang in China und Alexandr Dugin und Iwan Iljin in Russland.

Zhao (geb. 1961) ist Professor für Philosophie an der «staatstragenden»[8] Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften, Pekings «größter Denkfabrik»[9]. Der Historiker Jürgen Osterhammel hält Zhao nicht für einen Parteiideologen oder ein Sprachrohr des Regimes und genauso wenig für einen Dissidenten. Er zählt ihn vielmehr zu den im Land etablierten Intellektuellen, so genannten establishment intellectuals, die verschiedene theoretische Richtungen verfolgen und auch politisch nicht gleich ausgerichtet sind, sich jedoch alle nicht zur Kommunistischen Partei und ihrem derzeitigen Führer äußern. Einigkeit macht Osterhammel darin aus, dass sie mit dem Staatsoberhaupt und weiten Teilen der Bevölkerung den ‹chinesischen Traum› träumen: «das Land in jeder denkbaren Beziehung an die Weltspitze zu führen». Gleichwohl hat Zhao den Ruf, «der oberste Weise am kaiserlich-kommunistischen Hof»[10] zu sein, dessen Schriften «auf dem Nachttisch von Staatspräsident Xi Jinping» liegen würden.

Im Jahr 2020 erschien bei Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft die deutsche Übersetzung von Zhaos Buch unter dem Titel Alles unter dem Himmel. Vergangenheit und Zukunft der Weltordnung; das chinesische Original wurde 2016 publiziert. Es handelt sich um ein Werk der Politischen Philosophie, aber genauso der Geschichtsphilosophie. Zhao geht, wie in seinem neuen Buch von 2019: Redefining A Philosophy for World Governance, das sich an ein breiteres Publikum wendet, von einer umfassenden Krise aus, und wer würde da nicht zustimmen: ausbeutender Finanzkapitalismus, Umweltkatastrophe, Kriege zwischen konkurrierenden Nationalstaaten. Für diese Krise benennt Zhao einen klaren Schuldigen, der desolate Zustand der gegenwärtigen Welt verdanke sich dem westlichen Imperialismus, gerne «US-Imperialismus» genannt, mit seiner destruktiven Machtpolitik, globalen Unterwerfung und Ausbeutung ebenso wie mit seinem Individualismus und vermeintlichen Universalismus. Mit diesem Programm nun sei die Welt gescheitert,[11]«der Westen» und «die Moderne», «die westliche Zivilisation» und «die von der englischen Sprache getragene Wissenshegemonie» (206) seien am Ende. Kosmopolitismus, die universalen Menschenrechte und die Vereinten Nationen hält Zhao nicht nur für gescheitert, sondern für nicht legitim. Entsprechend weist er auch die Philosophie der Aufklärung und ihren Hauptvertreter Kant zurück, der die Ächtung des Kriegs über die kategorische Forderung eines Rechts der Menschheit formulierte. Zhao sieht in Kants Vorstoß eine idealistische und eurozentristische Illusion, die in einer pluralen Welt versage, die EU hält er für die «reale Version von Kants Theorie» (190). Seine eigene geschichtsphilosophisch fundierte geopolitische Philosophie präsentiert Zhao im Sinne einer chinesischen Alternative zu Kants Schrift Zum ewigen Frieden und als chinesischen Gegenentwurf zur Universalität der Menschenrechte. Was heute Weltgeschichte genannt wird, bezeichnet Zhao «nur» als «die Geschichte der Expansion von Europas Einfluss», die mit «Globalisierung» gleich den «von ihr selbst hervorgebrachten Totengräber der Moderne» (181f.) liefere. Gegen oberflächliche historische Ereignisse und ihre Geschichten fokussiert er auf tiefliegende «historische Triebkräfte», die einen so natürlichen wie schicksalshaften «Mahlstrom» der Geschichte bildeten, den es zu erkennen gelte.[12]

Zhao behauptet eine bipolare Struktur zweier Traditionen der Weltordnung, dem von den Römern ‹erfundenen› Imperialismus und dem von China ‹erfundenen› Tianxia-System.[13] Auf diesem Hintergrund mobilisiert Zhao seit 2000 das alte chinesische Konzept des Tianxia – Alles unter dem Himmel für eine neue globale Politische Philosophie.[14] Die Welt dieses Tianxia bestimmt er als «dreifach geschichtet»: geographisch ziele Tianxia auf «alle Territorien unter dem Himmel, also die ganze Welt» (59), sozialpsychologisch auf eine «Volksseele» (60), und politisch auf ein «weltpolitisches System» (60). Dieses Konzept skizziert Zhao gegenüber dem ‹unfreundlichen› Westen und der von diesem durch Kampf und Krieg verursachten chaotischen Krise als freundliches und inklusives Ordnungskonzept für eine künftige friedliche Weltordnung, das auf Freiwilligkeit und Gemeinschaft beruhe und Harmonie verspreche. So wird dieses Konzept auch von der Neuen Seidenstraßen-Initiative der Regierung[15] aufgenommen und verbreitet. Zhao stellt Demokratie als schwache und bereits ausgehöhlte politische Form dar[16] und hält Aushandlungsprozesse für Konflikte, die zu Kriegen, Chaos und Vereinzelung führten und eine umfassende Ordnung bedrohten. In der Ganzheit des Tianxia hat jede Einzelne ihren definierten Ort, Schwächere ordnen sich unter und erhalten dadurch «Schutz, Sicherheit und kulturelle Ressourcen» der «hegemonialen Zentralmacht».[17] Die Tianxia-Theorie bei Zhao wird als Abhandlung über moderne chinesische Regierungskunst rezipiert.[18] Er selbst nutzt das Tianxia-Konzepts als Ressource für eine Politische Theologie[19] und setzt neben einer «Sakralität der Berge und Flüsse» (202) auf eine «Sakralität der Geschichte», die «den Völkern eine Seele» gäben und zu «kollektiver kultureller Mobilisierung» befähigten. Dabei gewinnt Tianxia seine so ganzheitliche wie unscharfe positive Bedeutung vor allem über den überdeutlich gezeichneten Gegensatz zu «westlicher» «Kampf-Logik» (201), Spaltung und Chaos, Konflikt und Krieg. Zhao verbindet dies mit fundamentaler Modernekritik: die «selbstmörderische Bewegung der Menschheit begann mit der Moderne» (214). Demgegenüber wird die Ganzheit des Tianxia als etwas Inklusives und Friedliches, Geordnetes und Systematisches hochgehalten, das erst eine wahre Weltgeschichte ermögliche.[20] Ohne dieses inklusive Weltsystem würde die Welt «auf den Weltuntergang zu» (226) steuern. Tatsächlich handelt es sich bei diesem konfuzianischen Begriff des Tianxia um ein totales Konzept, das erklärtermaßen «kein Außen»[21] kennt und das alles reguliert. Europäisch-antiken Kosmosvorstellungen ist es insofern nicht unähnlich, als es um ein so hierarchisch strukturiertes wie organisches Ganzes geht. Die Wendung ins Politische hat auch in der europäischen Philosophiegeschichte eine lange Tradition, stellt doch die Analogie von kosmischer und weltlicher Ordnung seit Platons Timaios einen theoretischen Topos dar.[22]

Zhao präsentiert «den Westen» als von Carl Schmitts politischer Unterscheidung von Freund und Feind sowie von Samuel Huntingtons «clash of civilizations» gekennzeichnet und hebt China und das Konzept des Tianxia positiv davon ab. Wie er dies tut, hat jedoch sehr viel mit Schmitt und Huntington zu tun, folgt doch seine eigene Rhetorik durchgehend dem Freund-Feind-Schema und inszeniert einen Kampf der Kulturen. Darüber hinaus erweist sich über seine Politische Theologie als treuer Schüler Schmitts. Die Geschichte der Moderne präsentiert Zhao als von Europa und den USA verantwortete imperialistische und kapitalistisch-kolonialistische Krisengeschichte, wobei der programmatischen Ebene für seine Argumentation ein zentraler Stellenwert zukommt. Unter dem Label «Liberalismus» identifiziert er das emanzipatorische Projekt der Aufklärung mit der Ideologie kapitalistischer Konkurrenzökonomie, weshalb es auch Aufklärung zu verabschieden gelte. Mit den gängigen modernefeindlichen Topoi weist er einen so verstandenen Liberalismus als Spaltprogramm zurück und legitimiert auf dieser Negativfolie die inklusive Harmonie eines totalen Ordnungsentwurfs.

Alexander Dugin (geb. 1962) wird in Fachpublikationen und der Presse als russischer Philosoph gehandelt. Bis vor einigen Jahren hatte er eine Professur für «Soziologie der Internationalen Beziehungen» an der angesehenen Lomonossow-Universität in Moskau inne, wo er über Geopolitik dozierte. Anti-ukrainische Hetzreden im Zusammenhang mit dem russländischen Angriff auf die Ukraine 2014 führten dazu, dass Studierende Tausende von Unterschriften gegen ihn sammelten, worauf sein Vertrag nicht mehr erneuert wurde.[23] Früher betätigte er sich als rechtsextremer neofaschistischer Politiker, bis heute unterhält er enge Beziehungen zur extremen Rechten in Europa und den USA und aktualisiert faschistische Theoretiker wie Julius Evola und Verschwörungsnarrative für seine eigene Position. Von Rechtsextremen in Europa und den USA wird er lebhaft rezipiert, so von Stephen Bannon, dem ehemaligen Leiter der Breitbart-News und früherem Berater von Donald Trump, oder von Jürgen Elsässer vom antiliberalen Monatsmagazin Compact.[24] Um sich vom Nationalsozialismus abzugrenzen und politisch ‹korrekter› zu klingen, betreibt Dugin verwirrende Sprachspiele, die die Termini letztlich ununterscheidbar machen. Marlène Laruelle führt dafür ein frühes Beispiel an: so besetzt er ‹national› positiv, den Nationalsozialismus nennt er ‹deutschen Sozialismus›, Faschismus hingegen proletarisches Regime, dessen zentrale Figuren Bauern, Arbeiter und Soldaten seien, und folgert, dass Russischer Faschismus als Russischer Sozialismus beschrieben werden könne. Da bei Dugin ‹Faschismus› und ‹Sozialismus› austauschbar sind, wird ‹Faschismus› synonym mit ‹linkem Nationalismus›.[25] Seine neofaschistische Ideologie benannte er in «Vierte politische Theorie» (nach Liberalismus, Marxismus und Faschismus) um, und der «neue Dugin» gibt sich «als offener, weltläufiger und diskussionsbereiter Intellektueller» – ein «Rebranding» wie bei anderen europäischen Rechtsextremen auch.[26] Ein einfaches und weiterhin aktuelles Beispiel für eine Umbenennung ist, dass Dugin statt von Rasse von (identitärer) Kultur und «Volk» spricht.[27] Neben seinem völkischen Gedankengut ist Dugin vor allem über seinen Neo-Eurasianismus bekannt geworden, für den er Versatzstücke aus dem klassischen Eurasianismus benutzt.[28] Das Spektrum seiner Anleihen zeigen abgesehen von seiner Internetpräsenz Bücher in rechtsextremen Verlagen zur Konservativen Revolution, zu Geopolitik, zu Heidegger (russ: Heidegger: Die Möglichkeit der russischen Philosophie, 2011) zur «Eurasischen Mission», zu einem «Politischen Platonismus» (2019), Titel wie Das Grosse Erwachen gegen den Great Reset: Trumpisten gegen Globalisten (2021) und ein Manifest für eine globale revolutionäre Allianz von 2017. Neben der früheren Professur machen die dauernden Referenzen auf die so genannte Konservative Revolution[29] einen akademischen Eindruck und zitieren einen Theorierahmen, der Dugin für viele zu einem konservativen Denker macht.[30] Er bezieht sich insbesondere auf Carl Schmitt und Heidegger. Dabei dienen ihm Heideggers «politische Ontologie»[31] und dessen in Formeln wie vom «anderen Anfang» oder der «Überwindung der Moderne» ausgedrückten revolutionären Pathos dazu, seine Attacke gegen «den Westen» mit einem «westlichen» Denker rhetorisch zu armieren und damit Niedergang und Überwindung der damit verbundenen Welt aus ihrem Innern heraus zu präsentieren.[32] Neben häufiger Bezugnahme auf Heidegger nimmt Dugin auch Carl Schmitts «weltgeschichtliche Betrachtung» anhand von Land und Meer (1942) und das von diesem im Nomos der Erde (1950) aktualisierte paulinische katechon als einzig ursprünglich christliches «Geschichtsbild»[33] auf: als dasjenige Moment nämlich, das immer wieder den Kampf mit ‹dem Antichristen› aufnimmt und die Apokalypse aufhält. Dieser Begriff wurde zum Namensgeber des 2014 gegründeten und als rechtsextrem eingestuften[34] russischen Think Tanks Katehon, dem Dugin vorsteht, und der neben Verschwörungsnarrativen aktuell den russischen Angriffskrieg als christliche Mission anheizt und rechtfertigt.[35] Dugins Schriften und Interviews nehmen faschistische Topoi auf, raunen mit esoterischen Elementen, argumentieren mit konservativen Versatzstücken und treten in der Kombination aggressiv und volksverhetzend auf. Gleichwohl stimmt Dugin in Bezug auf die Deutung der welthistorischen Situation, den geopolitischen Gegner und die theoretische Stossrichtung mit dem akademischen Zhao weitgehend überein, bis zur Übernahme des Tianxia-Terminus.[36]

Verschiedentlich wird Dugin als Vordenker, Einflüsterer, Ideengeber, Lehrmeister oder Hofphilosoph Putins bezeichnet.[37] Claus Leggewie spricht hier von «distanzierte[r] Nähe»[38] und weist darauf hin, dass jemand wie Dugin ein «ideologisches Feld» schafft, aus dem sich der Präsident nach Belieben mit Argumenten bedient, die seine politischen Handlungen rechtfertigen. So finden sich etwa Versatzstücke aus Dugins Das große Erwachen gegen den Great Reset in der Präsidentenrede vom 7.7.2022.[39] Die gegenwärtige Weltkrise stilisiert Dugin zur letzten Station vor der apokalyptischen Katastrophe, die nur eine «radikale Umkehr»[40] verhindern könne: Weg von dem, was er «den Westen» nennt mit seiner so genannten unipolaren Weltordnung, gekennzeichnet durch Kosmopolitismus, Individualismus, Liberalismus und Kapitalismus. Der Westen sei im Niedergang begriffen, und es gelte, diesen Niedergang noch zu beschleunigen. Dagegen beschwört Dugin einen letzten Kampf gegen «das Böse» in Form eines «westlichen Antichristen», womit er explizit den Kampf gegen die amerikanische Welthegemonie und den Kampf um die Weltherrschaft meint. Diese Art Weltgeschichte baut neben dem erwähnten katechon auf fundamentale Antagonismen von «Ost» und «West», mit Carl Schmitt von Freund und Feind sowie Land- und Seemächten. Dugin verfolge, so Leggewie, das Programm einer «exterministischen Unvernunft»[41]. Seit 1997 zeugen Dugins Publikationen von einem «ideologische[n] Feldzug gegen die Ukraine»[42]. Der russischen Außenpolitik diente er nicht nur als «Stichwortgeber», sondern übernahm «bewusst den Part des Einpeitschers»[43] gegen die Ukraine. Dugin ist ein «Schreibtischtäter» mit engem Kontakt zum russischen Machtzentrum genauso wie zur internationalen rechtsextremen Szene: er «tötet nicht, er lässt töten» (62).

Die andere Figur, die der russländische Präsident nicht nur intensiv rezipiert, geradezu als «Hofphilosoph»[44] propagiert, ist Iwan Iljin (1883-1954), ein russischer Religions- und Staatsphilosoph der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. ...

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[1] Daniel Binswanger, Global hilflos, in: Republik, 14.5.2022.

[2] Zur Unterscheidung von russländisch (bezogen auf das Staatsgebilde der Russländischen Föderation, territorialer Begriff) und russisch (kultureller und ethnischer Begriff), vergleichbar derjenigen von britisch und englisch s. Andrii Portnov, Dnipro oder Dnjepr? Über Ortsnamen, die wir wählen, und die Folgen unserer Entscheidungen, in: Zeitgeschichte online, 24.3.2022 (https://zeitgeschichte-online.de/themen/dnipro-oder-dnjepr). Seit 2012 beobachtet Ulrich Schmid eine Bedeutungsverschiebung von russländisch hin auf russisch; vgl. Ulrich Schmid, Technologien der Seele. Vom Verfertigen der Wahrheit in der russischen Gegenwartskultur, Berlin 2015, 39.

[3] Johan Huizinga, Wege der Kulturgeschichte, Michigan 1930, 86.

[4] Heinz Dieter Kittsteiner, Iconic turn und ‹innere Bilder› in der Kulturgeschichte, in: Heinz Dieter Kittsteiner (Hg.), Was sind Kulturwissenschaften, München 2004, 153-182, 156; zur Auseinandersetzung mit Kittsteiners Ansatz s.u.

[5] Sascha Freyberg, ‹Dem Gehirne der Lebenden›. Zur ikonischen und symbolischen Erfassung der Geschichte, in: Reinhard Blänkner/Falko Schmieder/Christian Voller/Jannis Wagner (Hg.), Geschichtsphilosophie nach der Geschichtsphilosophie? Perspektiven der Kulturgeschichte im Ausgang von Heinz Dieter Kittsteiner, Bielefeld 2021, 177-206, 203.

[6] Zum russischen Cyber-Angriff auf Europa und die USA vor und während Trump s. Timothy Snyder, Der Weg in die Unfreiheit, München 2018, 228-294.

[7] Raphael Gross, Geschichtsfälschung kann töten. Ein Gespräch mit Raphael Gross, in: FAZ, 14.5.2022.

[8] Jürgen Osterhammel, Unter dem einen chinesischen Himmel. Statt westlichen Werten: Zhao Tingyang springt vom Altertum zur zukünftigen Weltordnung, in: FAZ, 31.3.2020.

[9] Gregor Dotzauer, Politische Theorie zwischen Himmel und Erde. Friedensrezept oder Feigenblatt des autoritären China? Zhao Tingyangs Theorie des Tianxia taugt zu beidem, in: Tagesspeigel 20.1.2020.

[10] Thomas Assheuer, Ewiger Friede? Der chinesische Philosoph Zhao Tingyang rechnet mit dem Westen ab und entwirft eine neue Weltordnung, in: Zeit online, 30.3.2020 (https://www.zeit.de/2020/12/alles-unter-dem-himmel-zhao-tingyang-sachbuch).

[11] Vgl. Zhao, Alles unter dem Himmel. Vergangenheit und Zukunft der Weltordnung, Berlin 2020, 181: «a failed world».

[12] Vgl. Zhao, Alles unter dem Himmel, 122-136.

[13] Vgl. Zhao Tingyang, Redefining A Philosophy for World Governance, Singapore 2019, xvii.

[14] Vgl. ebd., ix-x.

[15] Vgl. https://www.chinausfocus.com/finance-economy/belt--road-initiative-a-big-concept; BRI – Belt and Road Initiative; https://brill.com/view/journals/ejea/18/1/article-p7_3.xml.

[16] Vgl. Zhao, Alles unter dem Himmel, 220.

[17] Osterhammel, Unter dem einen chinesischen Himmel.

[18] Vgl. Florian Schneider, Reconceptualising World Order. Chinese Political Thought and its Challenge to International Relations Theory, Review of International Studies, Jg. 40, 2014, 683-703.

[19] «Das Tianxia-Konzept war zwar eine spezielle Erfindung der Zhou-Dynastie, aber ihr Inhalt besaß universelle Bedeutung, daher konnte es allgemein akzeptiert und zu einer politisch-theologischen Ressource werden.» Zhao, Alles unter dem Himmel, 135.

[20] Vgl. Zhao, Alles unter dem Himmel, 181-189 (Die Weltgeschichte hat noch nicht begonnen).

[21] Zhao, Alles unter dem Himmel, 14 u.ö.

[22] Zu politischer Kosmologie und deren Kritik s. Christine Blättler, Benjamins Phantasmagorie. Wahrnehmung am Leitfaden der Technik, Berlin 2021, 182-196.

[23] Vgl. Claus Leggewie, Anti-Europäer. Breivik, Dugin, al-Suri & Co., Berlin 2016, 63.

[24] Vgl. Andreas Umland, Alexandr Dugin. Kreuzzug gegen den Liberalismus und Verbindungen nach Deutschland, in: Gegneranalyse, 2019 (https://gegneranalyse.de/personen/alexandr-dugin/#5).

[25] Vgl. Marlène Laruelle, Dangerous Liaisons? Mediating European Far Right to Russia, in: Laruelle (Hg.), Eurasianism and the European Far Right. Reshaping the Europe-Russia Relationship, Lanham u.a. 2015, 1-31, bes. 8-11. Laruelle hebt hervor, dass Dugins versuchte Abgrenzung gegenüber dem Nazismus scheitert, da dieser die drei Termini Nazismus, Faschismus und Konservative Revolution in weiten Teilen austauschbar benutzt.

[26] Andreas Umland, Aleksandr Dugin.

[27] Vgl. a. Leggewie, Anti-Europäer, 72.

[28] S. Marlène Laruelle, Russian Eurasianism: An Ideology of Empire, Washington/Baltimore 2008, 16-49; Stefan Wiederkehr, Die eurasische Bewegung. Wissenschaft und Politik in der russischen Emigration der Zwischenkriegszeit und im postsowjetischen Russland, Weimar/Wien 2007.

[29] S. Stefan Breuer, Anatomie der Konservativen Revolution, Darmstadt 1995.

[30] S. z.B. Schmid, Technologien der Seele, 210-220; Technical Issues with Yuk Hui and Aleksandr Dugin, 25.6.2020: https://sreda.v-a-c.org/ru/listen-08 (Audio-Datei).

[31] Vgl. Pierre Bourdieu, Die politische Ontologie Martin Heideggers (1988), Berlin 32015.

[32] Vgl. Jeff Love/Michael Meng, Heidegger and post-colonial fascism, in: Nationalities Papers, 2017, Vol. 45, No. 2, 307-320, bes. 308-309.

[33] Carl Schmitt, Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum (1950), Berlin 52011, 29.

[34] Vgl. Antwort der Parlamentarischen Staatssekretärin Rita Schwarzelühr-Sutter vom 16. März 2022, in: Deutscher Bundestag – 20. Wahlperiode, Drucksache 20/1097, 18.3.2022, 32 (https://dserver.bundestag.de/btd/20/010/2001097.pdf).

[35] Z.B. Alexander Dugin, Apocalyptic Realism, in: Katehon, 20.4.2022 (https://katehon.com/en/article/apocalyptic-realism).

[36] Vgl. Dugin, Globalist Tianxia, Dobule Bind and Putin's Unsolvable Dilemma, in: Katehon, 6.9.2021 (https://katehon.com/en/article/globalist-tianxia-double-bind-and-putins-unsolvable-dilemma).

[37] S. beispielsweise Slavoj Žižek, Die schöngeredete Vergewaltigung. Wie Neurechte, Pazifisten und Nationalisten auf die russische Unkraine-Invasion blicken, in: Tagesspiegel, 18.8.2022 (https://www.tagesspiegel.de/politik/kniefall-vor-dem-starken-mann-die-schoengeredete-vergewaltigung/28609898.html).

[38] Leggewie, Anti-Europäer, 81.

[39] Vgl. die Rede von Präsident Putin vom 7.7.2022, dokumentiert in: Osteuropa (https://zeitschrift-osteuropa.de/blog/vp220707/); Thomas Assheuer, Die Querfront des Kremls, Zeit online, 19.7.2022 (https://www.zeit.de/kultur/2022-07/wladimir-putin-propaganda-russland-ukraine-krieg-ideologie).

[40] Micha Brumlik, Der Philosoph hinter Putin, in: Tageszeitung, 4.3.2022 (https://taz.de/Der-russische-Faschist-Alexander-Dugin/!5836919/).

[41] Vgl. Leggewie, Anti-Europäer, 141-149.

[42] Leonid Luks, Putins Ideengeber? in: Die Kolumnisten, 2.4.2022. S. dazu auch das Spiegel-Interview mit Dugin: ‹Jeder Westler ist ein Rassist›, in: Der Spiegel 29/2014, 13.7.2014.

[43] Leggewie, Anti-Europäer, 83.

[44] Timothy Snyder, Gott ist Russe, in: Eurozine, 26.6.2018, 1-10, 7.

  • Preis: 4.00 €
  • Erscheinungsjahr: 2023