Von: Helmut Dahmer
Reihe "Philosophische Gespräche", 2024, Heft 68/1, 44 S.
Die Teile III und IV dieses Aufsatzes und weitere Texte sind in Heft 68/2 abgedruckt, dass separat zu bestellen ist.
Das vorliegende Doppelheft 68/1 und 68/2 enthält die verschriftlichte und erweiterte Fassung des Vortrages von Prof. Helmut Dahmer am 14. März 2024 in der „Hellen Panke“. Am Beispiel Walter Benjamins zeigt Dahmer, dass dessen Sprachphilosophie (die „Lehre vom Ähnlichen“) unter dem Eindruck der Lektüre von Trotzkis Revolutionsgeschichte zu einer Theorie historischer Analogien umgestaltet wurde, die in Benjamins berühmten geschichtsphilosophischen „Thesen“ von 1940 vorliegt. Wir bedanken uns beim Referenten dafür, dass er mit der hier vorliegenden Publikation den Inhalt des Vortrags einem breiten Leserkreis zur Verfügung stellt. Da das Textmanuskript zu umfangreich für ein Einzelheft war, haben wir uns zu diesem Doppelheft entschieden.
Autor: Prof. Dr. Helmut Dahmer, Soziologe, wurde 1973 promoviert und lehrte ab 1974 als Professor an der Technischen Universität Darmstadt. Seit seiner Pensionierung 2002 lebt er als freier Publizist in Wien. Er ist Herausgeber mehrerer kommentierter Trotzki-Bände.
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Inhalt Heft 68/1
Vorbemerkungen
Benjamin und Trotzki, 1940
Benjamin in Moskau
Benjamin und die Analogie
Teil I
Teil II
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LESEPROBE
Vorbemerkungen
Der befreiende Wirbel der russischen Revolutionen von 1917 und der ihnen ein Jahr später folgenden deutschen Revolution, die nicht nur dem entsetzlichen Gemetzel des Ersten Weltkriegs ein Ende machten, sondern auch das Ende der kapitalistischen Wirtschaftsgesellschaft anzukündigen schienen, erfasste auch einen kleinen Teil der großbürgerlichen Intelligenzija, den er motivierte, sich auf die Seite der sozialistisch-kommunistischen Arbeiterbewegung zu schlagen. Zu dieser Gruppe gehörten (1923/24) sowohl die Begründer eines „Instituts zur Erforschung des Marxismus“, das in den folgenden fünf Jahrzehnten in Deutschland wie in den Vereinigten Staaten (unter dem „äsopischen“ Namen eines „Instituts für Sozialforschung“) Berühmtheit erlangte, als auch die Plejade von marxistisch orientierten Sozialwissenschaftlern, die Max Horkheimer, der dies Institut seit 1931 leitete, in den dreißiger Jahren um sich sammelte. Die Erfahrung der russischen, bolschewistisch dominierten Arbeiter- (und Bauern-)Revolution, deren Kämpfer sich in einem opferreichen Bürgerkrieg behaupteten, und ihrer deutschen, sozialdemokratisch dominierten Nachfolgerin, die alsbald mit Waffengewalt niedergeschlagen wurde, motivierte die Söhne und Töchter einiger wohlhabender, deutsch-jüdischer Großbürger, die sich weigerten, in die Fußstapfen ihrer erfolgreichen Väter zu treten und deren Unternehmen weiterzuführen. Stattdessen nutzten sie ihre privilegierte Stellung als Kapitalrentner, um Sozialwissenschaften zu studieren und – als Instituts-Gründer und -Mitarbeiter, Hochschullehrer, Publizisten oder Privatgelehrte – eine Theorie der Gegenwartsgesellschaft zu erarbeiten, die tauglich wäre, deren Überwindung vorzubereiten. Sie verstanden sich, wie einst Antonio Labriola, der mit Engels, Bebel, V. Adler, E. Bernstein und Filippo Turati (dem Mitbegründer der italienischen Sozialistischen Partei [PSI]) korrespondierte, als „die Gelehrten der Bewegung“. Einige von ihnen wurden aktive Mitglieder der deutschen (Franz Borkenau, Karl Korsch, Paul Massing, Karl August Wittfogel) oder, in späteren Jahren, auch der sowjetischen Kommunistischen Partei. Sie wurden entweder in den zwanziger Jahren, als die nationalen Sektionen der Komintern ihre Selbständigkeit einbüßten, ausgeschlossen oder trennten sich in den dreißiger Jahren (nach den Moskauer Schauprozessen oder dem Hitler-Stalin-Pakt) von den stalinisierten Parteien. Andere (wie Arkadij Gurland und Franz L. Neumann) waren in der deutschen Sozialdemokratie beziehungsweise in den Gewerkschaften tätig. Als sich in den letzten Jahren der Weimarer Republik (moskautreue) Kommunisten und Sozialdemokraten – statt eine Einheitsfront gegenüber den Nationalsozialisten zu bilden – erbittert befehdeten, war ein Teil der (späteren) Mitarbeiter des (1933 exilierten) Instituts politisch in verschiedenen Parteien und Gruppen zwischen KPD und SPD aktiv, denen sie auch nach der Errichtung der NS-Diktatur im illegalen Widerstand die Treue hielten. Die emigrierten Sozialwissenschaftler, die in New York zum Institut stießen (und von ihm Forschungsaufträge und Stipendien erhielten), gehörten den verschiedensten Fraktionen von SPD und KPD an. Es gab unter ihnen „Ultralinke“ (aus der Gruppe um Karl Korsch), frühere Mitglieder und Sympathisanten von KPO und SAP, Rätekommunisten, Leninisten und Reformisten. Sie alle enthielten sich im amerikanischen Exil jeglicher aktiven politischen Tätigkeit, um das ohnehin immer wieder (erst von der deutschen, dann von der amerikanischen Politischen Polizei, aber auch von Kollegen) beargwöhnte und überwachte Institut nicht in Misskredit zu bringen und sich selbst zu gefährden.
Felix Weil (1898-1975), der Gründer und Mäzen des „Instituts für Sozialforschung“, war nie Mitglied der KPD, stand aber mit verschiedenen deutschen (und russischen) Parteiführern der zwanziger Jahre auf gutem Fuße. In der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre war er nicht nur die Seele des Instituts und des Malik-Verlags, sondern auch die treibende Kraft des Projekts, binnen zehn Jahren eine 45bändige, wissenschaftlich kommentierte Marx-Engels-Edition (MEGA) zu erarbeiten, für dessen Realisierung das Frankfurter Institut und das von David Rjasanow in Moskau geleitete Marx-Engels-Institut einige Jahre hindurch (1924-28) zusammenarbeiteten.[1]
Das Ende dieser Kooperation fiel mit der Unterdrückung der Vereinigten Linken Opposition (der KPdSU) Ende 1927 zusammen, als der 15. Parteitag 1.500 Oppositionelle ausschloss und in die Verbannung schickte. Weil war im Herbst 1926, als er mit Rjasanow über die Weiterführung des MEGA-Projekts verhandelte, Zeuge dieses Fraktionskampfs geworden.[2] Er war autonom genug, um hinter dem Schleier von Illusion und Propaganda die wirklichen Verhältnisse im Land der Oktoberrevolution wahrzunehmen. Über den Abbruch der Kooperation zwischen dem Rjasanow-Institut und dem (noch von Carl Grünberg geleiteten) Frankfurter Institut schrieb er: In der Ablichtungsabteilung des Frankfurter Instituts – wo die Marx-Engelsschen-Manuskripte aus dem SPD-Partei-Archiv kopiert wurden – arbeiteten vor allem Studenten. „Nach Ansicht der Russen gehörten von ihnen damals mindestens sechs zu den sogenannten ultraradikalen Anhängern Karl Korschs. Daher wurde in Moskau bei der damals wütenden Trotzkisten-Jagd die Zusammenarbeit mit dem Frankfurter Institut verboten.“[3]
Das Projekt des Horkheimer-Kreises, eine aktuelle kritische Theorie der Gegenwartsgesellschaft (in Gestalt einer „dialektischen Logik“) zu erarbeiten, wurde empfindlich dadurch beeinträchtigt, dass sich (mit Ausnahme von Karl Korsch) in den dreißiger und frühen vierziger Jahren keiner der Autoren des Instituts an eine Analyse der desaströsen Entwicklung der nachrevolutionären Sowjetunion wagte, über die sie ausgezeichnet informiert waren, nicht allein durch Presse und einschlägige Literatur, sondern auch durch die Berichte von Institutsangehörigen, die Reisen in die Sowjetunion unternommen hatten. Zu diesen Reisenden gehörten Julian Gumperz und Karl August Wittfogel sowie Walter Benjamin, dessen Zusammenarbeit mit dem Institut allerdings erst 1933 begann. Diese Kundschafter des Instituts arbeiteten in der Sowjetunion als Wissenschaftler oder Rechercheure (wie Paul Massing und Friedrich Pollock), manche wurden auch Mitarbeiter der sowjetischen Geheimdienste (wie Richard Sorge und P. und Hede Massing).[4]
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Da das Verhältnis der Sozialwissenschaftler des Kreises um Max Horkheimer – und des (seit 1931) von ihm geleiteten Frankfurt-New Yorker „Instituts für Sozialforschung“ – zu den marxistisch orientierten Theoretikern und Gruppen ihrer Zeit (den politisch Organisierten und den Privatgelehrten, den Verfolgten, den Umgebrachten und den Überlebenden) in Vergessenheit geraten ist und in den Geschichten der „Frankfurter Schule“ wie in der Benjamin-Literatur kaum eine Rolle spielt, veröffentliche ich hier – Walter Benjamin gewidmete – Auszüge aus meinem 2019 (bzw., in 2. Aufl., 2020) erschienenen Buch Freud, Trotzki und der Horkheimer-Kreis.[5] Ergänzend habe ich zwei Texte zu Brecht und Horkheimer aufgenommen. (H. D.)
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[1] Vgl. dazu das Kapitel „Genosse Weil“ in meinem Buch Freud, Trotzki und der Horkheimer-Kreis (2019; 2020), sowie Rolf Heckers Artikel „Erfolgreiche Kooperation: Das Frankfurter Institut für Sozialforschung und das Moskauer Marx-Engels-Institut (1924-1928)“ in dem gleichnamigen, von Carl-Erich Vollgraf u. a. herausgegebenen Band (Berlin 2000, S. 17-25).
[2] In den Jahren der Kooperation zwischen dem Frankfurter und dem Moskauer Institut entwickelte sich der sowjetische „Thermidor“. Die isolierte Revolution wurde rückläufig. Zunächst verdrängte das Triumvirat Sinowjew, Kamenjew, Stalin Trotzki von der Macht. Im Sommer 1926 begann dann der letzte, entscheidende Fraktionskampf zwischen der von Trotzki geführten Minderheit in der KPdSU und der Stalin-Gruppe, die über die Mitglieder-Mehrheit und die Organisationsmittel verfügte. Trotzkis „Vereinigter Links-Opposition“, mit der sich auch sympathisierende Oppositionsgruppen in der Komintern solidarisierten, schlossen sich sowohl die früheren Oppositionellen der „Arbeiteropposition“ und der „Demokratischen Zentralisten“ als auch die von Stalin abgefallenen Sinowjew und Kamenjew samt ihren Anhängern an. Die Auseinandersetzungen währten anderthalb Jahre. Nach der Unterdrückung von Demonstrationen der Opposition am 10. Jahrestag der Oktoberrevolution zerbrach die „Vereinigte Opposition“; Sinowjew und Kamenjew widerriefen ihre Positionen und baten um Wiederaufnahme in die Partei... – Rjasanow wurde im Februar 1931 auf Betreiben Stalins in einen Schauprozess gegen die sogenannte „Menschewistenzentrale“ verwickelt, aufgrund von absurden Anschuldigungen verhaftet, aus der Partei ausgeschlossen und nach Saratow verbannt, wo ihn der „Vater der Völker“ 1938 erschießen ließ.
[3] Felix Weil [1975]: Erinnerungen. Typoskript im Frankfurter Stadtarchiv (Abt. „Chroniken“, S 5/421 a), S. 206 (bzw. S. 97).
[4] Fünf dieser, mit den Verhältnissen in Sowjetrussland und in der KPdSU im Lauf der Jahre mehr oder weniger vertraut gewordenen Institutsmitarbeiter (Julian Gumperz, Hede Gumperz (Massing), F. Pollock, R. Sorge und K. A. Wittfogel) hatten bereits 1923 zu den Teilnehmern der „(Ersten) Marxistischen Arbeitswoche“ in Thüringen (Ilmenau) gehört, die der Vorbereitung der (im selben Jahr erfolgten) Gründung des Frankfurter „Instituts für Sozialforschung“ diente. Vgl. dazu Willem van Reijen und Gunzelin Schmid-Noerr (Hg.) (1988): Grand Hotel Abgrund. Eine Photobiographie der Frankfurter Schule. Hamburg 1990.
[5] In der Literatur zum Institut für Sozialforschung bleibt bisher nicht nur das Verhältnis der Intellektuellen des Horkheimer-Kreises zu anderen marxistischen Theoretikern ihrer Zeit ausgespart, sondern auch Horkheimers, Adornos und Marcuses Adoption der Freudschen Psychoanalyse als der anderen „Kritischen Theorie“. Vgl. dazu Dahmer (2019): Freud, Trotzki und der Horkheimer-Kreis. Münster (Westfälisches Dampfboot).