Von: Annette Vogt
Reihe "Philosophische Gespräche", 2024, Heft 71, 50 S.
Zum Gedenken an Thomas Kuczynski (1944–2023)
Am 14. Februar 2023 hielt Annette Vogt in der Veranstaltungsreihe „Vielfalt sozialistischen Denkens“ der Hellen Panke einen Vortrag zum Thema „Karl Marx und seine Mathematischen Manuskripte“. Wir bedanken uns, dass sie ihr Vortragsmanuskript für das vorliegende Heft schriftlich ausgearbeitet hat. Ergänzt wird dieser Text durch einige Faksimiles und Annette Vogts Übersetzung eines 1927 verfassten Artikels von Emil Julius Gumbel aus dem Russischen, in dem er erklärt, wie damals die Ausgabe der Mathematischen Manuskripte aussehen sollte.
Autorin
Prof. Dr. Annette Vogt
Mathematik- und Wissenschaftshistorikerin, Berlin.
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Inhalt
Anhang
Buchcover der Mathematischen Manuskripte, Moskau 1968
Ausschnitt aus dem Moskauer Band von 1968
Buchtitel der Mathematischen Manuskripte, Delhi 2018
Gumbel (1927), russisch
E. Gumbel: Über die mathematischen Manuskripte von K. Marx
(Mitteilung), übersetzt von Annette Vogt
1. Entstehungsgeschichte
1.1. Wann sind die Mathematischen Manuskripte entstanden?
Zum umfangreichen Nachlass von Karl Marx (1818-1883) gehören ca. 1000 Blatt, die mathematische Notizen, Lehrbuch-Auszüge und mathematische Ausarbeitungen und Überlegungen enthalten. Eine exakte Datierung dieser überlieferten Manuskripte ist selten möglich, Marx hatte die Notizen und Abschriften (Konspekte) aus Büchern vor allem für sich selbst angefertigt. Zwischen 1858 und 1881/1882 hatte er sich immer wieder mit mathematischen Fragen beschäftigt, mathematische Literatur gelesen und konspektiert sowie Notizen angefertigt – dieser Korpus bildet die „Mathematischen Manuskripte von Karl Marx“.
Erste Belege für die Beschäftigung von Marx mit Mathematik (im Wesentlichen mit Algebra und Arithmetik) finden sich in seinen Briefen an Friedrich Engels (1820-1895) aus dem Jahr 1858, weitere in den Jahren 1860, 1863 und 1869. In den 1870er Jahren, besonders 1873 und 1878, ist eine systematischere Beschäftigung mit der Mathematik durch Briefe belegt. Auch in den letzten Lebensjahren hat er sich mit Mathematik beschäftigt und sind Notizen von ihm überliefert. Die Herausgeber der „Mathematischen Manuskripte“ 1968 unterschieden bei der „Beschreibung der mathematischen Manuskripte“ drei Zeiträume, die Jahre bis 1870, die 1870er Jahre und die 1880er Jahre.[1]
1.2. Warum hat sich Karl Marx mit Mathematik beschäftigt?
Drei Gründe können genannt werden, warum sich Karl Marx zwischen 1858 und 1881/1882 zeitweise intensiv mit Mathematik beschäftigt hat. Erstens hing sein Studium mathematischer Literatur eng mit der Ausarbeitung seiner ökonomischen Schriften, auch und insbesondere des „Kapital“, zusammen. Zweitens studierte er die mathematische Literatur, um die Entwicklung der Mathematik und der Naturwissenschaften zu verstehen, eine Aufgabe, die er sich gleichsam mit Friedrich Engels „teilte“, als F. Engels an seinem Buch „Anti-Dühring“ arbeitete. Drittens half ihm nach eigenem Bekunden die Beschäftigung mit der Mathematik, das Studium mathematischer Literatur, in Phasen tiefer Sorgen und Kümmernisse, es bereitete ihm Trost und schuf „seelischen Gleichmut“.
Der heute noch bzw. sehr aktuelle erste Grund, Mathematik zu studieren, um die Ökonomie besser zu verstehen und darzustellen, lässt sich bis in das Jahr 1858 zurückverfolgen. Zu Beginn des Jahres 1858 schrieb K. Marx an F. Engels: „Ich bin bei der Ausarbeitung der ökonomischen principles so verdammt aufgehalten mit Rechnungsfehlern, daß ich aus despair wieder mich drangesetzt habe, rasch die Algebra durchzuschlagen. Arithmetik blieb mir immer fremd. Auf dem algebraischen Umweg aber schieße ich mich rasch wieder ein.“[2]
15 Jahre später rang Marx mit dem Problem, mathematische Methoden in der Ökonomie anwenden zu wollen und schrieb an Engels: „Ich habe hier Moore eine Geschichte mitgeteilt, mit der ich mich privatim lang herumgebalgt. Er glaubt aber, daß die Sache unlösbar ist, oder wenigstens, wegen der vielen und großenteils erst auszufindenden Faktoren, die darin eingehn, pro tempore unlösbar ist. Die Sache ist die: Du kennst die Tabellen, worin Preise, Discountrate etc., etc. in ihrer Bewegung während des Jahres etc. in auf- und absteigenden Zickzacks dargestellt sind. Ich habe verschiednemal versucht - zur Analyse der Krisen -, diese ups and downs als unregelmäßige Kurven zu berechnen und geglaubt (ich glaube noch, daß es mit hinreichend gesichtetem Material möglich ist), daraus die Hauptgesetze der Krisen mathematisch zu bestimmen. Moore, wie gesagt, hält die Sache einstweilen für untubar, und ich habe beschlossen, for the being es aufzugeben.“[3]
Samuel Moore (1838-1911), ein Freund von Marx und Engels, britischer Übersetzer, Richter und Ratgeber in Mathematik, die er am Trinity College Cambridge studiert hatte, behielt mit seiner Skepsis bis auf den heutigen Tag Recht, noch immer versuchen Finanzmathematiker in allen Ländern Modelle zu entwickeln, mit denen sie Krisen vorhersagen könn(t)en, einstweilen ohne nennenswerten Erfolg. Es erschienen inzwischen einige Veröffentlichungen zur Anwendung mathematischer Methoden im Werk von Karl Marx bzw. zum Verhältnis mathematischer Methoden und ökonomischer Forschung bei K. Marx.[4]
Der zweite Grund, sich mit Mathematik zu beschäftigen, lag an dem Anliegen von Marx und Engels, sich über die Entwicklung der Mathematik und der Naturwissenschaften bis zum 19. Jahrhundert Klarheit zu verschaffen, d. h. die „Dialektik in der Mathematik“ zu verstehen, wie es mit S. A. Janovskaja (1968 bzw. 1969) seither in der Rezeptionsgeschichte formuliert wurde.[5] Hierfür interessierte sich Marx vor allem für die Geschichte der Mathematik, insbesondere für die Geschichte der Entstehung und Entwicklung der Differentialrechnung. Friedrich Engels hatte in seinem Buch „Anti-Dühring“ betont:
„Mit der Einführung der veränderlichen Größen und der Ausdehnung ihrer Veränderlichkeit bis ins unendlich Kleine und unendlich Große hat die sonst so sittenstrenge Mathematik den Sündenfall begangen; sie hat den Apfel der Erkenntnis gegessen, der ihr die Laufbahn der riesenhaftesten Erfolge eröffnete, aber auch die der Irrtümer. Der jungfräuliche Zustand der absoluten Gültigkeit, der ununmstößlichen Bewiesenheit alles Mathematischen war auf ewig dahin; das Reich der Kontroversen brach an, und wir sind dahin gekommen, daß die meisten Leute differenzieren und integrieren, nicht weil sie verstehn, was sie tun, sondern aus reinem Glauben, weil es bisher immer richtig herausgekommen ist.“[6]
Bereits nach Marx’ Tod, im Vorwort zur Auflage von 1885 des „Anti-Dühring“, schrieb Engels: „Marx war ein gründlicher Mathematiker“[7], eine freundlich gemeinte Anerkennung des Ringens seines Freundes, sich die mathematischen Erkenntnisse der letzten Jahrhunderte anzueignen, ohne Mathematik studiert zu haben und mit Gymnasialkenntnissen in Mathematik des Abschlussjahres 1835. Teile der Mathematischen Manuskripte (im folgenden MS) von Marx betrafen daher Fragen zur Geschichte der Differentialrechnung und wurden ausdrücklich 1881 für Engels angefertigt und ihm geschickt.[8]
Der dritte Grund, mathematische Literatur zu studieren, mathematische Fragen zu behandeln und zu durchdenken, hatte mit Marx’ Lebensumständen und seiner Biographie zu tun. Er äußerte sich mehrfach gegenüber Engels und Familienmitgliedern, dass die Beschäftigung mit der Mathematik auf ihn beruhigend wirke, zu seinem seelischen Gleichgewicht beitrage, ihm helfe, ihm Trost und Zuversicht spende. So gestand er 1860 Engels:
„Artikelschreiben ist mir beinahe out of question. Die einzige Beschäftigung, wodurch ich die nötige quietness of mind aufrechterhalten kann, ist Mathematik.“[9]
Drei Jahre später bekannte er: „In der freien Zeit treibe ich Differential- und Integralkalkül.“[10]
Und sein Schwiegersohn Paul Lafargue (1842-1911) berichtete: „Die Algebra gewährte ihm sogar einen moralischen Trost; zu ihr nahm er seine Zuflucht in den schmerzlichsten Momenten seines bewegten Lebens.“[11]
1.3. Was war das Ziel für Marx, sich mit Mathematik zu beschäftigen?
Abgesehen vom dritten Grund, in der Beschäftigung mit der Mathematik Beruhigung, Trost und Zuversicht zu finden, ist interessant, dass sich Marx vergleichsweise intensiv und viele Jahrzehnte mit der Mathematik einließ. In der Literatur werden zwei Motive genannt, so habe er sich mit der Mathematik beschäftigt, um ökonomische Prozesse analysieren, verstehen und darstellen sowie ökonomische Krisen vorherbestimmen zu können, bzw. es galt sein Erkenntnisinteresse mehr den mathematikhistorischen und philosophischen Fragen der Entwicklung der Mathematik, d. h. er wollte tiefer in die Entwicklung der Mathematik eindringen, um ihr epistemisches Wesen zu verstehen. Eine endgültige Antwort darauf kann vermutlich erst gegeben werden, wenn die Mathematischen Manuskripte vollständig ediert worden sind. Nach allen verfügbaren Materialien neigt die Autorin zu der Antwort des „sowohl als auch“. Marx wollte sowohl mathematische Methoden und Verfahren auf ökonomische Probleme anwenden und Krisen vorhersagen, als auch ihr epistemisches Wesen verstehen.
Da Karl Marx 1835 in Trier sein Abitur ablegte und nie Mathematik-Vorlesungen an einer Universität hörte, waren seine mathematischen Kenntnisse äußerst gering. Er musste sich die „höhere Mathematik“, d. h. insbesondere die Differential- und Integralrechnung, selbst beibringen. Als Wissenschaftler eignete er sich die grundlegenden Kenntnisse im Selbststudium an, vor allem durch die Lektüre mathematischer Bücher. Die Analysis (die Differential- und Integralrechnung) wurde – nach einer dynamischen Entwicklung zwischen 1850 und 1900 – erst nach langen Debatten um eine Unterrichtsreform nach 1908 partiell Schulstoff in Gymnasien und Realgymnasien in den deutschen Staaten bzw. im Deutschen Kaiserreich, in Frankreich ab 1902.[12]
Aus dieser Ausgangssituation für Marx erklärt sich die Spezifik der überlieferten Texte seiner Mathematischen Manuskripte. Sie dienten als Notizen, Konspekte, Nachschriften vor allem seinem Selbststudium, dem Lernen, Aneignen und Verstehen der höheren Mathematik, insbesondere der Differential- und Integralrechnung. Sie waren nie für eine Veröffentlichung vorgesehen. Die bisherigen Bearbeiter und Herausgeber der Mathematischen Manuskripte haben genau geprüft und angegeben, welche Quellen Marx benutzt hatte, d. h. welche mathematische Literatur er studierte bzw. welche Bücher ihm in der British Library zugänglich gewesen waren. Vielleicht können in der künftigen Ausgabe im Rahmen der MEGA weitere Titel ergänzt werden, aber im Wesentlichen ist bekannt, auf welche Literatur sich Marx stützte.
Auf eine weitere Spezifik ist hinzuweisen, die daraus resultierte, dass sich Marx ab 1849 in England bzw. London aufhielt (aufhalten musste). Die Mathematikentwicklung in England war im 19. Jahrhundert gegenüber der auf dem Kontinent, vor allem in Frankreich und ab 1880 in Deutschland, sehr zurückgeblieben. Einer der Gründe hierfür war das Festhalten englischer Mathematiker am schwerfälligen Differentialkalkül der Fluxionen im Andenken an Isaac Newton (1643-1727). Um Anschluss an die Entwicklungen in Frankreich zu bekommen, gründeten englische Wissenschaftler um Charles Babbage (1791-1871), George Peacock (1791-1858) und John F. W. Herschel (1792-1871), Sohn des Astronomen William Herschel (1738-1822), 1812 die „Analytical Society“. Sie spielte eine wichtige Rolle bei der Herausbildung einer modernen englischen Schule der Algebra.[13]
So wurde das Lehrbuch von Sylvestre Francois Lacroix (1765-1843) „Elementary Treatise on the Differential and Integral Calculus“ übersetzt, das 1816 in Cambridge erschien und von Marx nachweislich benutzt wurde. Er benutzte auch die französische Ausgabe, die 1810-1819 in drei Bänden in Paris erschienen war. Desweiteren studierte Marx die „Elemente der Algebra“ von Lacroix (1815 erschienen) sowie das Werk von Joseph Louis de Lagrange (1736-1813), insbesondere die „Theorie der analytischen Funktionen“ (erstmals in Paris 1797 publiziert, die deutsche Übersetzung erschien 1831 in Berlin). Die Arbeiten Lagranges bildeten einen wichtigen Ausgangspunkt für Karl Weierstraß (1815-1897), der in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts mit seinen Abhandlungen die strenge Begründung der Analysis lieferte. Marx kannte jedoch weder die Arbeiten von Karl Weierstraß oder Augustin-Louis Cauchy (1789-1857) noch die von Richard Dedekind (1831-1916) oder Georg Cantor (1845-1918).[14]
Die Defizite der mathematischen Ausbildung von Karl Marx und bei der Auswahl der mathematischen Lehrbücher hatten ihre Ursache aber in den Zeitumständen und dem Entwicklungsstand der englischen Mathematik im Vergleich zu der in Frankreich und Deutschland in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts. Diese Schwierigkeiten für Marx hatte am prägnantesten Dirk J. Struik (1894-2000) schon 1948 formuliert: England „was an excellent place to study capitalism, as well as physics and chemistry and biology, but it was backward in mathematics.“[15]
Diese Defizite sind bei der Beurteilung, Wertung und Bewertung der Mathematischen Manuskripte von Marx unbedingt zu berücksichtigen, desgleichen der Kontext ihrer Entstehung. Bei der Beschreibung der Rezeptionsgeschichte wird daran nochmals erinnert.
2. Aufbau der Mathematischen Manuskripte
Die zum Nachlass von K. Marx gehörenden ca. 1000 Blatt mathematischen Manuskripte, d. h. mathematische Notizen, Lehrbuch-Auszüge (Konspekte), mathematische Ausarbeitungen und eigene Überlegungen von K. Marx, sind im Archiv aufbewahrt und bis heute nicht vollständig publiziert. ...
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[1] Vgl. Marx-Moskau-1968, Teil 2, S. 241-562.
[2] Marx an Engels, 11.1.1858, in: Marx-Engels-Werke (im folgenden MEW), Bd. 29, Berlin 1963, S. 256.
[3] Marx an Engels, 31.5.1873, in: MEW, Bd. 33, Berlin 1966, S. 82.
[4] Vgl. Carl-Erich Vollgraf (2012/13 und 2016), Pertti Honkanen (2017).
[5] Vgl. Janovskaja (1968), dt. 1969, sowie Endemann (1974), S. 24ff, Schlaudt (2013).
[6] Engels, Fr., Anti-Dühring. Vorwort zur Auflage von 1885, in: MEW, Bd. 20, Berlin 1967, S. 81.
[7] Ebenda, S. 10.
[8] Vgl. Marx-Moskau-1968, S. 603, Anm. 1 und S. 605, Anm. 13.
[9] Marx an Engels, 23.11.1860, in: MEW, Bd. 30, Berlin 1964, S. 113.
[10] Marx an Engels, 6.7.1863, in: MEW, Bd. 30, Berlin 1964, S. 362.
[11] Lafargue (1947), S. 42.
[12] Zur Unterrichtsreform des Mathematikunterrichts vgl. Tobies (1981), S. 75-85.
[13] Vgl. Dubbey (1978), bes. Kapitel 2, pp. 10-30 und Kap. 3, pp. 31-50 sowie Dubbey (1977).
[14] Zu den Büchern, die Marx kannte, vgl. Marx-Moskau-1968, S. 311-323 und S. 336ff sowie Janovskaja (1969), S. 25f.
[15] Struik (1948), p. 187, fn 16.