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Heft 225: Proleten erzählen

Über proletarisch-revolutionäre Romane um 1930

Von: Dieter Schiller

Heft 225: Proleten erzählen

Reihe "Pankower Vorträge, Nr. 245, 2025, 50 S.

Die beiden Vorträge, die in diesem Heft gedruckt werden, wurden im Senioren-Klub im Karl-Liebknecht-Haus gehalten, am 5. Dezember 2023 sowie 5. November 2024. Der Autor dankt für die Möglichkeit, seine Überlegungen öffentlich zu machen. Sie sind Teile eines umfangreicheren Buch-Projektes, das noch einige Zeit in Anspruch nehmen wird.

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Autor

Dieter Schiller

Prof. Dr., Germanist und Literaturwissenschaftler mit den Forschungsschwerpunkten Sozialistische Literatur des 20. Jahrhunderts und Literatur des deutschsprachigen Exils 1933–1945.

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Inhalt

Proleten erzählen. Prosa revolutionärer Arbeiterschriftsteller um 1930.                          Tureck  
         Hoelz
         Scharrer
         Marchwitza
         Lorbeer
         Grünberg 

Lektüre für Arbeiterleser?  Das Experiment des „Roten Eine-Mark-Romans“ 1930–1932.

Sämtliche Texte Dieter Schillers in den Heften der Hellen Panke

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LESEPROBE

Proleten erzählen. Prosa revolutionärer Arbeiterschriftsteller um 1930
(25.11.2023)

Vortrag am 5. Dezember 2023 im Seniorenklub im Karl-Liebknecht-Haus, Berlin. Nach dem skizzenhaften Entwurf für einen Vortrag im Kulturbund der DDR aus dem Jahr 1988, ausformuliert im Jahr 2023.

Tureck

Wer Zugang zur proletarisch-revolutionären Literatur der zwanziger und beginnenden dreißiger Jahre sucht, sei nachdrücklich auf die Lektüre von Ludwig Turecks Buch „Ein Prolet erzählt“[1] verwiesen, das 1930 in Wieland Herzfeldes Malik-Verlag erschienen ist. Dieser kommunistische Privatverlag ist berühmt durch den gelungenen Versuch, seinen Lesern ein Panorama linker und revolutionärer Literatur der Welt zu vermitteln. Daß Herzfelde diese „Lebensschilderung eines deutschen Arbeiters“ – so der Untertitel des Buches – in sein Verlagsprogramm aufgenommen hat, belegt, daß dieses Buch in seinen Augen neben den großen Autoren der linken Weltliteratur bestehen konnte. Er hatte – denke ich heute – wohl recht damit.

Dabei verstand sich sein Autor Tureck durchaus nicht als ein professioneller Schriftsteller, sondern betonte seinen Status als „werktätiger Prolet“, der – oft hungernd – nach täglicher Arbeit im Betrieb oder als Arbeitsloser Parteiarbeit, Sport und Spiele zurückstellen mußte, um in der qualvollen Enge als Untermieter oder in Wartesälen eines Bahnhofs schreiben zu können. Er war also ein Arbeiterschriftsteller im eigentlichen Sinn des Wortes, der als Arbeiterkorrespondent in der kommunistischen Presse und mit Artikeln in selbstverfertigten Betriebszeitungen zu veröffentlichen begonnen hatte.[2]

Tureck ist kaum dreißig Jahre alt, als er sein erstes Buch schreibt, und – wie er selber meint – „von Natur ein frecher Mensch“.[3] Das gibt der Erzählung einen eigenen Ton. Er ist unbotmäßig gegenüber den bürgerlichen Obrigkeiten und Unternehmern, sieht die Welt grundsätzlich mit dem Blick von unten. Das heißt, seine Lebenserfahrung wurzelt im proletarischen Milieu des beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts, das oft noch handwerklich geprägt, doch schon in der großen Industrie angekommen und einer harten Ausbeutung ausgesetzt ist. Doch der Jungsozialist spürt wenig Drang zur Elendsmalerei, sondern artikuliert sein Aufbegehren, seinen Freiheitsdrang. Seine proletarische Alltagsmoral erstirbt nicht vor der Heiligkeit des bürgerlichen Eigentums, wenn es ums nackte Überleben geht. Und ihr gilt es nicht als unsittlich, wenn „ein gut entwickeltes siebzehnjähriges Mädchen sich mit einem achtzehnjährigen Burschen in blühender Heide (...) zu einem Geschlechtsakt findet“.[4] Als Setzerlehrling gehört der Schreiber zu den jungen Sozialdemokraten, die mit Büchern umzugehen gelernt haben. Man kennt einige Schriften von Marx und Engels, in der Regel auch Emile Zola, Martin Andersen-Nexö und Maxim Gorki. Aber der noch recht jugendliche Erzähler ist nicht auf poetische Erfindungen aus, sondern besteht darauf, sich wahrheitsgetreu an die Geschehnisse seines eigenen Lebens gehalten zu haben. Es sei schon jetzt angemerkt, daß er gut daran getan hat. Denn sein ursprüngliches Erzähltalent konnte nichts daran ändern, daß er in späteren Publikationen als Schriftsteller die literarische Qualität seines Erstlings nie wieder erreicht hat.

Der Ich-Erzähler braucht dem Volk nicht auf Maul zu schauen wie weiland Luther, er besticht durch seine lebendige, milieugerechte und bildkräftige Sprache. Sie ist derb, unverblümt und direkt, ebenso emotional wie realitätsorientiert. Franz Carl Weiskopf formulierte in seiner Rezension des Buches, „was da ohne literarische Mätzchen, ohne Schriftstellerehrgeiz, aber mit großer Lebendigkeit, scharfer Beobachtungsgebe und viel Witz erzählt wird, ist die typische Lebensschilderung eines Angehörigen jener jüngeren, energischen, nicht unterzukriegenden revolutionären Schicht der deutschen Arbeiterklasse, die ihr rebellierendes Herz und ihre revoltierende Seele ist“.[5]

Die Handlung des Buches umfaßt das Jahrzehnt von 1912 bis 1923. Wir erleben den jungen Mann als Arbeiter in vielen Berufen und als Arbeitslosen auf der Walze von Ort zu Ort. Er ist oft spontan in seinen Entschlüssen, aber als organisierter Arbeiter stets bemüht, Gleichgesinnte zu finden und seinesgleichen zu organisieren. Das Buch soll mithelfen, die Duldsamkeit seiner Klassengenossen zu durchbrechen. Für sie ist das Buch geschrieben, nicht für den literarischen Markt. Die oft recht abenteuerlichen Begebenheiten, die geschildert werden, sind – wie Tureck betont – nicht Ergebnis der Sensationslust eines Erfolg suchenden Autoren, sondern aus dem „leidenschaftlichen Zusammenprall zwischen dem starren System sogenannter Ordnung und der Tatauswirkung einer sozialistischen Ideenwelt“[6] hervorgegangen.

Als Kriegsgegner verweigert er sich sofort der Burgfriedenspolitik der SPD-Führung im Ersten Weltkrieg. Er beteiligt sich an der Antikriegspropaganda und sucht – freilich vergeblich –, sich der Einberufung zu entziehen. Als Artillerist kommt er an die Front, verbreitetet Flugblätter gegen den Krieg und wird als Kriegsverletzter auskuriert. Die Absicht, zum Gegner überzulaufen, scheitert, seine Desertion gegen Ende des Krieges bringt ihn vors Kriegsgericht und in Festungshaft, aus der ihn die Revolution befreit.

Von den Berliner Spartakuskämpfen erfährt er im Arbeiter- und Soldatenrat seiner Heimatstadt Stendal und erlebt, daß kaum ein Proletarier ringsum vom Mord an Liebknecht und Luxemburg besondere Notiz nimmt. Mit grimmigem Humor berichtet er, wie er sich mit anderen Spartakusleuten vom Freikorps Maerker als Zeitfreiwilliger anwerben läßt, angeblich, um die Nationalversammlung in Weimar zu beschützen, doch bereit, diese „Quatschbude“ mit Handgranaten in die Luft zu sprengen, wenn die Führung der „Unabhängigen“ – der USPD ­ es nur zugelassen hätte. Nach einer kurzen Karriere als Geschäftsmann ­ unter anderem im Zeitungsvertrieb und als Schieber am Rande der Legalität ­ finden wir ihn dann wieder unter den bewaffneten Arbeitern, die sich dem Kapp-Putsch widersetzen. Er wird ein Kämpfer der Roten Ruhrarmee gegen General Watter, deren Sieg – wie er meint – nur Severing und die Regierung Ebert durch einen „Dolchstoß von hinten“ verhindert habe. Der standrechtlichen Erschießung entgeht er in den Wochen des weißen Terrors nur knapp. Das hindert ihn allerdings nicht, während des polnisch-sowjetischen Krieges nach dem Osten aufzubrechen, um sich der Roten Armee anzuschließen. Diesmal endet der Aufbruch schon im litauischen Gefängnis mit einem neuen Todesurteil, dem er wieder nur um Haaresbreite entgeht. Was folgt, sind „Kreuzfahrten durch den Urwald des Kapitalismus“ im Ruhrgebiet und sechs Jahre Arbeit als Setzer in der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig.

Was das Buch so faszinierend macht, ist die selbstbewußte Haltung des Erzählers, der es versteht, seinen individuellen Charakter mit leicht selbstironischen Zügen darzustellen, ohne die Bindung an den proletarischen Alltag je zu verlieren. Sein Blick auf sein Umfeld bleibt realitätsnah, er weiß um „das verzweifelte Zerren an der stählernen Kette“, das ihn und seine Klassengenossen zugleich fesselt und doch auch wieder hoffen läßt. Das Buch schließt zwar mit der mahnenden Parole für die Mühseligen und Beladenen: „Durch Kampf zum Sieg“. Doch im Ganzen verkündet es keine Parolen, verzichtet weitgehend auf den zeitgenössischen Politjargon der Kommunisten, sondern stellt Erfahrungen vor und Handlungen, die für sich selber sprechen. Der Protagonist des Buches, das erzählte Ich des Ludwig Tureck, ist kein literarischer Entwicklungsheld, die dargestellte Figur ist ein proletarischer Typus, der seiner Anlage gemäß agiert und bleibt, der er ist. Die Form der Lebensbeschreibung ist dieser Figur angemessen, der Versuch, einen Roman daraus zu formen, würde sie beschädigen.

 

Hoelz

Ob die „Jugend-, Kampf- und Zuchthauserlebnisse“ von Max Hoelz in die Reihe von Prosaerzählungen revolutionärer Arbeiterschriftsteller gehören, von denen ich heute reden will, könnte man bezweifeln. Denn die Autobiographie von Max Hoelz[7] ist ganz zweifellos ein politisches Dokument, eine politische Rechenschaft und die Selbstkritik eines politischen Aktivisten, nicht die Arbeit eines Schriftstellers. Der hier schreibt, ist – anders als Tureck – eine öffentliche Person, der militärische Führer einer bewaffneten proletarischen Aufstandsbewegung in Mitteldeutschland. Um seine Befreiung aus der Zuchthaus- und Festungshaft wurde seit Ende 1921 von der Kommunistischen Partei und der Roten Hilfe eine jahrelange Kampagne geführt. Sie war schließlich erfolgreich, und so konnte Hoelz – seit Herbst 1928 durch eine Amnestie wieder in Freiheit – an dem Buch „Vom ‚Weißen Kreuz‘ zur roten Fahne“ arbeiten, das 1929 – ebenfalls im Malik-Verlag – erschienen ist.

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[1] Ludwig Tureck, Ein Prolet erzählt. Lebensschilderung eines deutschen Arbeiters. Berlin 1930.

[2] Zum Problem der deutschen Arbeiterschriftsteller siehe die grundlegende Arbeit von Alfred Klein, Im Auftrag ihrer Klasse. Weg und Leistung der deutschen Arbeiterschriftsteller 1918–1933. Berlin und Weimar 1972.

[3] Ludwig Tureck, Ein Prolet erzählt, S. 137.

[4] Ludwig Tureck, Ein Prolet erzählt, S. 58.

[5] Franz Carl Weiskopf, Ein Prolet erzählt. Berlin am Morgen v. 22.12.1929. Zit. nach: Kritik in der Zeit. Fortschrittliche deutsche Literaturkritik 1918-1933. Hg. v. Thomas Rietzschel. Halle-Leipzig 1983, S. 324.

[6] Ludwig Tureck, Ein Prolet erzählt, S. 10.

[7] Max Hoelz, Vom „Weißen Kreuz“ zur roten Fahne. Jugend-, Kampf- und Zuchthauserlebnisse. Berlin 1929 (Neudruck: edition aurora. Hg. unter Mitwirkung von Irmfried Hiebel, Manfred Jendryschik, Alfred Klein). Halle Leipzig 1984.

  • Preis: 4.00 €
  • Erscheinungsjahr: 2025