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Heft 103: Unternehmen DDR-Geschichte

Forschungsstand - Defizite - Projeke

Von: Dietrich Staritz, Helmut Meier und Stefan Doernberg

Heft 103: Unternehmen DDR-Geschichte

Reihe "hefte zur ddr-geschichte", Heft 103, 2006, 60 S., A5, 3 Euro plus Versand

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Reihe "hefte zur ddr-geschichte", Heft 103, 2006, 60 S., A5, 3 Euro plus Versand

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INHALT

Dietrich Staritz
Forschungen zur DDR-Geschichte seit 1990
Helmut Meier
„hefte zur ddr-geschichte“ – Anliegen und Erfolg
Stefan Doernberg
Geschichtsforschung der DDR nicht vergessen

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LESEPROBE

Dietrich Staritz
Forschungen zur DDR-Geschichte seit 1990

Eingeladen wurde ich, um über den Gang der historischen DDR-Forschung seit 1990 zu sprechen, über die Deutungsmuster, die Kontroversen, Desiderata und auch über die unterschiedlichen Hinsichten derjenigen, die diese Forschung betreiben. Um das aber einigermaßen einlösen zu können, müsste einer wenigstens den größeren Teil des seit 1990 in nahezu schwindelerregende Höhen gewachsenen Textberges erstiegen haben und dann ein sehr langes Referat halten dürfen. Doch weil ich das eine nicht tat und das andere mir nicht gestattet würde, kann ich nicht mehr anbieten als meinen Blick auf einige Aspekte und einige Texte und verlasse mich für das Übrige auf neuere sachverständige Darstellungen des Forschungsstandes.

Von diesen nenne ich drei: den mehr als 550 Seiten starken Band Bilanz und Perspektiven der DDR-Forschung, der 2003 von Rainer Eppelmann, Bernd Faulenbach und Ulrich Mählert im Auftrage der Stiftung Aufarbeitung der SED-Diktatur[1] herausgegeben wurde. In ihm präsentierten 50 Spezialisten Überblicke über die Forschungsstände auf beinahe ebenso vielen Teilgebieten und sichteten insgesamt 2066 Titel, von denen die Mehrzahl nach der Wende veröffentlicht wurde. Im selben Jahr erschien in der Reihe Enzyklopädie Deutscher Geschichte eine Zusammenfassung zur Innenpolitik der DDR von Günther Heydemann[2], die 524 Titel nennt, und 2005 in derselben Reihe Arnd Bauerkämpers summierende Studie zur Sozialgeschichte der DDR,[3] die auf 315 Titel verweist. Ich habe nicht gezählt, wie viele Texte in diesen Bänden doppelt, womöglich dreifach erwähnt werden, doch deutlich machen die Zahlen auch so, wie intensiv über die DDR geforscht wurde und wird.

Noch ein paar Arbeiten mehr – insgesamt 7700 – fand Jürgen Kocka 2003 in einer „einschlägigen Datenbank“[4], und Klaus Dietmar Henke teilte mit[5], dass schon 1999 etwa 45 Prozent aller Studien über die deutsche Geschichte zwischen Kapitulation und Wiedervereinigung der SBZ bzw. der DDR galten. Das ließ manche fürchten, die DDR sei „überforscht“, womöglich intensiver analysiert worden als die alte Bundesrepublik, Weimar oder die Nazizeit. Das trifft jedoch nicht zu, zumal ja auch nicht alle Texte schlüssige Analysen bieten, vielmehr, wie es Jürgen Kocka freundlich formulierte, „neben viel Getreide auch einiges an Spreu“.[6]

***

Gehe ich von meiner Lektüre[7] und den genannten Bänden aus, zeigt sich beim Blick auf die erkenntnisleitenden Annahmen und die aus ihnen resultierenden Deutungsmuster ein deutlicher Wandel. Dominierten anfangs Texte, die die DDR als stalinistische Diktatur analysierten, waren es später Arbeiten, die sie als „zweite deutsche Diktatur“ zumeist totalitarismustheoretisch neben die NS-Diktatur stellten, während gegenwärtig intensiver nach den Spezifika der SED-Diktatur, nach ihrer Reichweite und ihren Grenzen gefragt wird. Für die frühen Jahre bot sich ein Stalinismus-Ansatz durchaus an – sowohl in Anbetracht der Politik der Besatzungsmacht als auch beim Blick auf die ideologische wie materielle Abhängigkeit der deutschen Kommunisten von der stalinschen Sowjetunion, auf ihr Selbstverständnis oder ihre Zielprojektionen. Und von stalinscher Herrschaft erst recht nicht abzutrennen waren in diesen Jahren die massive Verfolgung tatsächlicher oder vermeintlicher Gegner, die Internierungslager, die Strafjustiz sowie das Entstehen der Partei neuen Typs und der parteietatistischen bürokratischen Strukturen, die Parteisäuberungen oder die zentralistische Detailplanung und ebenfalls nicht die shdanowsche Ästhetik oder der Stalinkult samt stalinschem ML.

Die Mehrzahl der hierzu vorgelegten Untersuchungen[8] – für die politische Justiz nenne ich die von Falco Werkenthin, für die SED die von Andreas Malycha, für die Lager die von Alexander v. Plato, für die Kulturpolitik die von Gerd Dietrich, für die Wirtschaft die von Jörg Roesler und André Steiner – unterstreichen diesen Kontext denn auch gebührend. Vorsichtig, aber immerhin angedeutet wurde er schon in einigen der Studien, die im letzten Jahr der DDR erschienen. Erinnert sei an den unter DDR-Historikern seinerzeit als Blockadebrecher empfundenen Band 9 der Deutschen Geschichte[9]oder an Rolf Badstübners Friedenssicherung und deutsche Frage,[10] in deren Einleitung er den „Stalinismus“ immerhin als eine Kraft erwähnte, die die Entwicklung der SBZ/DDR seit 1948/1949 „verstärkt“ beeinflusste. Später hat Badstübner zudem auf ein Arbeitspapier des Bereichs DDR-Geschichte im Zentralinstitut der Akademie aufmerksam gemacht, das in der Vorbereitungsphase des geplanten XII. SED-Parteitages erarbeitet wurde und erhebliche Korrekturen des offiziellen Geschichtsbildes jener Jahre einforderte, von der Institutsleitung aber zurückgewiesen wurde.[11]

Nun wandelten sich aber nach Stalins Tod nicht nur die Formen der Parteidiktatur, sondern partiell auch ihre Intentionen. Man orientierte sich wieder stärker am ursprünglich leninschen Politikvermittlungs-Verständnis, an einem Konzept, das demokratische Verfahren allerdings auch erst für den Tag nach der Weltrevolution in Aussicht stellte. Dennoch blieben viele Autoren, die zur DDR-Geschichte der späteren Jahre publizierten, beim Stalinismus als erkenntnisleitender Kategorie. Dabei nahmen sie allerdings in Kauf, dass ihre Forschungsgegenstände mit dieser Begrifflichkeit nur noch schwer zu erfassen waren. Selbst wenn sie sich verbal um Differenzierung bemühten und etwa von Post-, Spätstalinismus oder, ersatzweise, von einem späten Totalitarismus sprachen, blieben die so etikettierten Zusammenhänge schon deshalb unscharf, weil nicht deutlich wurde, ob oder inwieweit sich diese Herrschaftsformen von der „exzessiv machtorientierten Ordnung der Innen- und Außenbeziehungen in einer Gesellschaft des erklärten Übergangs zum Sozialismus“ abhoben, von jenen Merkmalen, die seit Werner Hofmann[12] als für den Stalinismus zentral gelten können.

Derart zu differenzieren, war freilich auch nur selten das Ziel dieser Autoren. Viele benutzten das Wort vielmehr so, wie es üblicherweise benutzt wird, als politische Kampfvokabel, mit der in Rechts-Links-Kontroversen ebenso zugeschlagen werden kann wie in Auseinandersetzungen innerhalb der Linken. Zwar war von Hermann Weber schon vor dem Ende der DDR vorgeschlagen worden, zwischen einem stalinzeitgenössischen und einem strukturellen Stalinismus zu unterscheiden, der den Diktator in den Strukturen der Machtapparate überdauerte.[13] Und in der Wende publizierte Wolfgang Ruge seine noch immer anregenden Überlegungen zu Genesis und Wandel des Stalinismus,[14] an deren Anfang sich der Verweis auf die barbarischen Traditionen des vorrevolutionären Russland ebenso findet wie der (in der „linken“ Literatur bis dahin eher seltene) Nachweis, dass es bereits unter Lenin äußerst kräftige Tendenzen zu Despotie, Bürokratismus und ideologischer Orthodoxie gab, die dann, ab 1928 (Schachty-Prozesse), als Massenterror, Bürokratismus und Byzantinismus zu Kernelementen im Machtsystem des „klassischen Stalinismus“ wurden. Auf den „klassischen“ lässt Ruge den „Poststalinismus“ folgen, der (nach dem Scheitern der chruschtschowschen Reformversuche) durch Ultrabürokratisierung und erhebliche Gewaltbereitschaft gekennzeichnet gewesen sei, und er konstatiert, in der DDR habe sich der „klassische“ schon aufgrund ihrer Grenzlage nicht voll ausprägen können, ihre Strukturen seien daher bis zu ihrem Ende weitgehend von einem „epigonalen Poststalinismus“ geprägt gewesen, durch eine deutsche Form der Bürokratie und latenter Gewalt also.

Schroffer als Ruge, der nur den „klassischen“ Stalinismus mit dem Tode seines Patrons enden lässt, argumentiert der Berliner Osteuropa-Historiker Jörg Barberowski, der in seiner Geschichte des Stalinismus[15] gegen Stéphane Courtois’ Vorwort zum Schwarzbuch des Kommunismus schreibt: „Der stalinistische Terror war eine kommunistische Tat, aber nicht jede Form kommunistischer Herrschaft war terroristisch. Der Stalinismus war eine Zivilisation, die aus dem sowjetischen Imperium kam und mit ihm zugrunde ging. Von Stalinismus sollte also nicht sprechen, wer vorgibt, die nachstalinsche Sowjetunion oder die sozialistischen Staaten Ostmitteleuropas zu beschreiben.“

Es lag nahe, dass Arbeiten dieses Zuschnitts kurz nach dem Ende der DDR reüssierten und mehr noch Studien, die sich von Totalitarismus-Theorien leiten ließen, die SED-Herrschaft als „totalitäre Diktatur“ begriffen, oder als „zweite deutsche Diktatur“ nach der nationalsozialistischen. Und es überraschte auch nicht, dass viele von ostdeutschen Autoren stammten. Da gab es zum einen das Bedürfnis, Anschluss an die vermeintlich herrschende Lehre in der nun gesamtdeutsch dominanten westdeutschen Interpretenzunft zu finden, zum anderen aber auch die bei manchen durchaus verständliche Neigung, es den eben noch herrschenden Antifaschisten auch wissenschaftlich heimzuzahlen, wozu sich nichts besser eignete, als sie in die Nähe der Nazis zu schreiben.

[1] Bilanz und Perspektiven der DDR-Forschung, Paderborn, München, Wien, Zürich. 2003.
[2] Die Innenpolitik der DDR, München 2003.
[3] Die Sozialgeschichte der DDR, München 2005.
[4] Jürgen Kocka, Bilanz und Perspektiven der DDR-Forschung. Hermann Weber zum 75. Geburtstag, in: Deutschland Archiv, 36. Jg.(2003), Heft 5, S. 764 ff.
[5] Klaus-Dietmar Henke, DDR-Forschung seit 1990, in: Bilanz und Perspektiven, a.a.O., S. 372.
[6] Ebd.
[7] Ohne jeweils darauf hinzuweisen, stütze ich mich im Folgenden auch auf einen vor sechs Jahren versuchten Überblick. Vgl.: Dietrich Staritz, Das Ende der DDR. Erklärungsansätze, in: Utopie kreativ, Sonderheft vom Oktober 2000, S. 11 ff.
[8] Auf die Angabe der Titel wird verzichtet.
[9] Autorenkollektiv (unter Leitung von Rolf Badstübner): Deutsche Geschichte, Band 9. Die antifaschistisch-demokratische Umwälzung, der Kampf gegen die Spaltung Deutschlands und die Entstehung der DDR von 1945 bis 1949, Berlin 1989.
[10] Untertitel: Vom Untergang des „Reiches“ bis zur deutschen Zweistaatlichkeit (1943 bis 1949), Berlin 1990, S. 11.
[11] Rolf Badstübner, Zu einigen Problemen der Zeitgeschichtsschreibung, in: Jahrbuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung, 2004/I, S. 60 ff.
[12] Stalinismus und Antikommunismus. Zur Soziologie des Ost-West-Konflikts, Frankfurt/M.1967, S. 13.
[13] Hermann Weber, SED und Stalinismus, in: Die DDR im vierzigsten Jahr. Geschichte – Situation – Perspektiven, 22. Tagung zum Stand der DDR-Forschung in der Bundesrepublik Deutschland (16. bis 19. Mai 1989), Köln 1889, S. 3 ff.
[14] Wolfgang Ruge, Zu den Wurzeln des Stalinismus. Die Doppeldroge, in: Sonntag, Nr.2/1990 v. 14.1.1990, ders.: Stalinismus – eine Sackgasse im Labyrinth der Geschichte, Berlin 1991.
[15] Jörg Barberowski, Der Rote Terror. Die Geschichte des Stalinismus, München 2003, S. 8.

  • Preis: 4.00 €