Konferenz
Lebenserfahrungen von heute erwachsenen Kindern politisch, rassisch oder religiös Verfolgter sind kein Teil des kollektiven deutschen Bewusstseins. Solche Vergangenheiten wurden in Deutschland Ost und West weitgehend ignoriert. In den USA, Israel und England werden Lebensläufe der Kinder von Holocaustüberlebenden seit Jahrzehnten auch akademisch thematisiert, in Deutschland hat man sich in Vereinen und Gesprächsgruppen damit befasst. Auch jüdische und nichtjüdische Kinder von Widerstandskämpfern, Illegalen und aus dem Exil Zurückgekehrten haben das literarisch und autobiographisch reflektiert. Seit 1989 wuchs zwar das Interesse an den Folgen der NS-Verfolgung auf die Sozialisation in BRD und DDR, aber in Forschungen zu Verfolgung und Widerstand sowie zu Kindheit und Jugend im Nationalsozialismus finden die gealterten „Kinder“ der politisch, rassisch und religiös Verfolgten – mit Ausnahme der Kinder der „Zeugen Jehova“ – weiterhin kaum Beachtung. Darauf reagierte das Projekt „Kinder des Widerstands“ an der Universität Wuppertal. Eine lokale Fallstudie erforschte durch lebensgeschichtliche Interviews, welche traumatischen Prägungen die Entfremdung von Vätern, Müttern oder Eltern durch lange Haftzeiten hervorbrachte, den Sozialisierungsdruck, und wie sich Verarbeitungsmuster für Kinder verfolgter Nazi-Gegner entwickelten. In der BRD mussten Nachfahren der in der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) organisierten Eltern Diskriminierung bis hin zu eigenen Berufsverboten erleben und, dass sie oft als Kinder von „Vorbestraften“ galten. Dem Druck ließ sich durch Schweigen, Abkehr von der oder durch Engagement in der VVN entkommen.
In der DDR galten, sofern politisch legitimiert, elterlicher Widerstand und Exil als grundsätzliche Bestätigung der politischen Gegenwart. Systematische Hilfe gab es bei der Bewältigung der Traumata nicht. Die Kinder sollten das anti-faschistische Vermächtnis übernehmen, ein politischer Auftrag, der unliebsame historische Tatsachen verschwieg oder fälschte, familiäre Brüche und den Generationskonflikt überging. Das Spannungsfeld aus Erzählen bis Verschweigen verband Familien und Gesellschaft, doch elterliche Herkunft, Geburtsjahre und Geburtsorte der Kinder und Verfolgungsgeschichte blieben als prägende Sozialisationsfaktoren unterschätzt. Erinnerungen wurden von politischen Widersprüchen bereinigt. Verfolgung hieß, den Faschismus politisch zuverlässig in Widerstand, Haft, Untergrund, Exil oder als Kämpfer der alliierten Armeen überlebt zu haben. Abweichungen waren nicht vermittelbar. Davon unterscheiden sich die Erfahrungen der Kinder von in England gebliebenen Emigranten. Die Londoner Sektion „Second Generation“ wird dazu Erkenntnisse aus ihrer Arbeit referieren.
Diese Tagung soll Unterschiede und Vergleichbares herausarbeiten. Das betrifft die Londoner und die Lebensabläufe in DDR und BRD, die Erfahrungen in der Sowjetunion und in westlichen Exilländern. Für alle galt, dass nach dem Ende des Faschismus dessen Folgen spürbar blieben. In Deutschland erlebten sich Antifaschisten oft als Fremde, begegneten dem Misstrauen anderer. Bei Nachbarn, Lehrern, Kindern wurden Affinitäten zum NS-Regime vermutet. So wurde der eigene Nachwuchs sozialisiert.
Diskutiert werden soll auch, wieso die Auswirkungen des alltäglichen Faschismus und dessen verfestigte Verhaltensmuster in Ost wie West so schnell verdrängt wurden, welchen Einfluss Geburtsjahre, Geburtsorte und Herkunft auf Identitäten in der Zweiten Generation und deren Lebenswege hatten.
Sonnabend, 13. Oktober
10:00 Uhr Eröffnung: Dr. Hans Coppi
10:15 Uhr bis 10:45 Uhr: Die Familien des politischen Widerstands im nationalsozialistischen Herrschaftssystem
Referenten: Prof. Dr. Heinz Sünker und Dr. Armin Nolzen, Universität Wuppertal
10:45 bis 11:15 Uhr: Die Sozialisation von Kindern des politischen Widerstands von 1933-1945
Referent: Dr. Dieter Nelles, Universität Bochum/Wuppertal
11:15 Uhr bis 11:45 Uhr: Kinder von „Vorbestraften“ – Diskriminierung und Verfolgung von in der VVN organisierten Eltern, VVN-Arbeitskreis „Kinder des Widerstands – Antifaschismus als Aufgabe“
Referentinnen: Christa Bröcher und Klara Tuchscherer
12:00 Uhr – 13:00 Uhr Mittagspause
12:45 Uhr – 14:00 Uhr: Second Generation in Britain/Stimme der britischen zweiten Generation
Referentin: Irene Fick, London
Breaking the Silence/Das Schweigen durchbrechen
Referentin: Merylin Moos, London
14:00 Uhr – 14:30 Uhr: Wir für uns! Wie und warum es 1985 in der Hauptstadt der DDR zu einer nicht vorgesehenen jüdischen Selbstfindungsbewegung kam
Referentin: Dr. Irene Runge
14:30 Uhr – 15:00 Uhr: Die unterschiedlichen Wege der Zweiten Generation in der DDR
Referent: Wolfgang Herzberg
15:00 Uhr Kaffeepause
15:30 Uhr - 16:00 Uhr : Kinder des sowjetischen Exils: Überwinden des verordneten Schweigens
Referentin: Dr. Inge Münz-Koenen
16:00 – 16:30 Eindrücke von Befragungen zur Sozialisation von Kindern aus dem Westexil in der DDR.
Referentin: Dr. Irene Diekmann (Universität Potsdam) und Prof. Micha Brumlik
Nach jedem Vortrag besteht die Möglichkeit zu Nachfragen
Veranstalter: Helle Panke e.V. – Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin, in Kooperation mit der Berliner VVN-BdA, der Stiftung Haus der Demokratie und Menschenrechte, dem Interdisziplinären Zentrum "Kindheiten. Gesellschaften" der Bergischen Universität Wuppertal und dem Erziehungswissenschaftlichen Seminar der Universität Frankfurt/Main